Читать книгу Januargier - Ulrich Behmann - Страница 11
ОглавлениеKapitel 5
Herma knöpfte ihre weiße Bluse auf, legte ihren BH ab und betrachtete sich dabei im Spiegel. Mit den Fingern ihrer rechten Hand strich sie sich durch ihre dünnen blonden Haare, die noch vom starken Nordwestwind zerzaust und von dem feinen Nieselregen, der seit Tagen auf Ostfriesland niederging, feucht waren. Für mein Alter sehe ich noch ganz passabel aus, dachte sie. Manch junge Deern beneidete sie um ihre schlanke sportliche Figur und um ihre üppige Oberweite. Die Mordermittlerin hatte in den vergangenen zwei Monaten, die sie im Krankenhaus und daheim zugebracht hatte, etwas an Gewicht zugenommen – das zeigte nicht nur die Waage, davon zeugte auch die kleine Bauchspeck-Rolle, die jetzt über ihre Gürtelschnalle quoll. Die Ostfriesin beschloss, wieder mehr joggen zu gehen. Auf den Deichen zwischen der Nordsee, den zahlreichen Binnenseen und den Fehnkanälen, den unzähligen Schafen und Möwen fühlte sie sich besonders wohl. Dort lagen die von ihr bevorzugten Laufstrecken. Vielleicht sollte ich mich lieber in einem Fitnessstudio anmelden, dachte sie, als sie sich bäuchlings auf die Liege legte und auf Georg wartete. Sie mochte es, wenn er sie nicht mit Samthandschuhen anfasste und hart zur Sache ging. Sie wollte seine kräftigen Finger auf ihrer nackten Haut spüren – danach sehnte sie sich schon seit Tagen. Georg Schultz war Physiotherapeut und seit Neuestem auch Chef des Watt-und-Meer-Zentrums in Bensersiel – er besaß heilende Hände und hatte Herma vor ihrem Umzug nach Hameln oft geholfen, wenn ihr Rücken mal wieder vom langen Sitzen vor dem Dienstcomputer verspannt war. Einmal hatte sie sich bei einer Verfolgungsjagd in Aurich einen Nackenwirbel verdreht. Georg war auch nach Feierabend sofort zur Stelle gewesen; er hatte ihre Knochen wieder eingerenkt. An das fiese Knacken konnte sie sich noch gut erinnern.
Herma van Dyck versuchte zu dösen, aber es gelang ihr nicht, sich zu entspannen. Die Narben auf ihrer Kopfhaut schmerzten heute wieder einmal besonders heftig. Sie hatte Angst, gleich einen Migräneanfall zu bekommen. Seit dem Mordanschlag auf sie, der sie beinahe das Leben gekostet hatte, machte ihr jeder noch so kleine Wetterumschwung zu schaffen. Herma hörte die Schreie der Lachmöwen, die im Schwarm vom Meer landeinwärts flogen, vermutlich, um sich auf irgendeinem matschigen Acker niederzulassen und dort die Würmer, die sich an die Erdoberfläche gerettet hatten, zu fressen. Die scharfen durchdringenden Rufe der Vögel hörten sich wie „Kriiiärr“ und „Kik“ an. Diese Laute erinnerten Herma an ein spöttisches Lachen – es passte gut zu einem Shanty, der gerade leise aus einem Lautsprecher, der in die Decke des weiß gestrichenen Therapieraums eingelassen worden war, erklang. Radio Ostfriesland spielte „Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise ...“ Hermas Blick fiel auf ein großformatiges Bild der Auricher Malerin Katja Freimuth. Die farbenfrohen, kraftvollen, expressionistischen Werke der Künstlerin waren für Herma das i-Tüpfelchen in Watt und Meer – sie schienen inspiriert worden zu sein von der positiven Strahlkraft und Vielfalt der Natur und weckten in ihr positive Gefühle. Das Gemälde sollte wohl eine Blumenwiese zeigen.
Die Tür ging auf. Georg trat ein – seine blauen Augen strahlten, als er seine alte Freundin begrüßte. „Moin, Herma. Kannst es wohl kaum abwarten, dass ich dich durchknete“, sagte er vergnügt. Die völlig verspannte Mordermittlerin drehte ihren Kopf zur Seite. „Autsch! Verflucht“, schrie sie. „Gut, dass du da bist, Georg. Du musst mich von den Schmerzen im Nacken und im Kopf befreien. Alles tut höllisch weh. Das ganze Ibuprofen und Novalgin, das ich seit Wochen schlucke, hilft nicht.“ Georg schwieg, er begann stattdessen mit seiner Arbeit. Herma fühlte seine warmen Hände auf ihrer Haut, spürte, dass er mit seinen Fingerspitzen ihre Triggerpunkte ertastete.
„Mannomann ... Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?“, fragte Schultz seine Patientin. In seiner Stimme schwang etwas Vorwurfsvolles mit. „Deine Muskeln sind ja total verhärtet. Überall fühle ich Knoten unter deiner Haut. Das sind alles heftige Muskelverhärtungen. Kein Wunder, dass du Schmerzen hast, die bis in den Kopf ausstrahlen.“
Herma stöhnte leise auf, als Georg mit seiner Triggerpunkt-Therapie anfing. Mit seinem rechten Ellenbogen drückte er das Blut aus den punktuellen Verhärtungen in ihrer Skelettmuskulatur. „Du musst jetzt ganz tapfer sein. Das wird wehtun“, kündigte Georg an. „Das tut es jetzt schon“, sagte Herma. „Was hast du vor?“, wollte sie wissen. „Wenn du es genau wissen willst. Ich werde mir zunächst die myofaszialen Triggerpunkte in deinem Schulterheber-Muskel und dann die in deinem Trapezmuskel vornehmen. Das sind exakt die Stellen, die bei dir Schmerzen im Nacken, im Hinterkopf und im Schläfenbereich auslösen, also triggern. Das ist auch schon alles. Ist keine Hexerei, nur: gewusst wie.“ Herma van Dyck stöhnte nur. Sprechen konnte sie nicht. Der Druck, den Georg auf ihren Rücken ausübte, ließ ihrer Lunge im Moment kaum Raum zum Atmen.
Herma und Georg kannten sich schon seit ihrer Jugend. Sie teilten eine Leidenschaft: das Segeln. Früher hatte Herma ihrem Jugendfreund oft beim Surfen zugeschaut. Im Gegensatz zu ihr war Georg, obwohl er im Ruhrpott das Licht der Welt erblickt hatte, ein Meister auf dem Brett. Der Wahl-Ostfriese liebte wie sie hohe Wellen und eine steife Brise. Immer wenn es ordentlich stürmte und die meisten Menschen lieber am warmen Ofen saßen, standen Georg und seine Freunde auf ihren Surfbrettern. Damals hatte er noch lange blonde Haare gehabt. Herma war oft zum Seedeich in Ostbense gegangen, um den muskulösen Beachboys zuzusehen. Die durch die Gischt der aufgewühlten Nordsee schießenden Surfsegel hatten farbenfrohe Akzente im braunen Wasser des Wattenmeeres gesetzt.
Herma und Georg waren beide im verschlafenen kleinen Ostbense, das zu Neuharlingersiel gehörte, aufgewachsen. Vor zwei Jahren hatte der Physiotherapeut der Siedlung den Rücken gekehrt, um im nahen Bensersiel die Geschäftsführung des renommierten Watt- und-Meer-Zentrums zu übernehmen.
Georg Schultz war nicht nur ein begeisterter Wassersportler, er interessierte sich auch für das Wetter, das er wie kaum ein anderer in Ostfriesland vorhersagen konnte. Der leitende Physiotherapeut besaß die seltene Gabe, Regen schon riechen zu können, bevor am Horizont die ersten Wolken auftauchten, obwohl die südliche Nordsee für ihr mitunter eigenwilliges Mikroklima bekannt war. Es hielt sich für gewöhnlich nicht an Vorhersagen. Insbesondere die Medizin-Meteorologie hatte es Georg Schultz angetan. „Ich vermute, dass dir das Wetter zusetzt, Herma“, hob Schultz zu einem Vortrag über sein Lieblingsthema an. Die Kriminalhauptkommissarin versuchte zu nicken. Außer einem zustimmenden „Hm“ kam ihr nichts über die Lippen.
„Ich weiß ja nicht, ob du es weißt. Wir hatten in den vergangenen vier Wochen eine ganz besondere Wetterlage“, klärte Georg Herma auf, während er seinen rechten Ellenbogen mit dem Gewicht seines Oberkörpers gezielt in einen Schmerzpunkt auf Hermas Rücken drückte, um das Blut möglichst vollständig aus dem Knubbel zu pressen und dadurch die Selbstheilungskräfte ihres Körpers zu aktivieren.
„Aha“, presste Herma van Dyck hervor. Georg Schultz meinte ein Fragezeichen herausgehört zu haben. „Die Messungen des Deutschen Wetterdienstes am Emder Flughafen zeigen, dass wir im Januar an der Küste ungewöhnlich große Schwankungen des Luftdrucks hatten – an zwei Tagen wurden sogar rekordverdächtige Werte von 1040 Hektopascal und mehr gemessen. Der helle Wahnsinn ist das.“ Herma konnte mit diesen Informationen nichts anfangen. „Also, für mich sind das böhmische Dörfer. Ich verstehe nur Bahnhof. Was hat das denn jetzt mit meinen Kopfschmerzen zu tun?“ Der Therapeut und Hobby-Meteorologe hatte auf diese Frage gewartet. Er freute sich jedes Mal, wenn er sein Wissen an den Mann oder an die Frau bringen konnte. Schultz holte kurz Luft, dann startete er einen Erklärungsversuch.
„Du musst wissen, dass die Standardatmosphäre hier bei uns – also auf Meereshöhe – einen Luftdruck von 1013,25 Hektopascal hat. Das ist das weltweite Mittel. Hier im Therapieraum herrscht ein Druck von cirka 1000 Hektopascal. In einem Autoreifen ist es doppelt so viel. Und wie ich schon sagte: An zwei Tagen hatten wir an der Küste einen Luftdruck von mehr als 1040 Hektopascal. Das wirkt sich schon auf den Kopf aus – bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Es liegt auf der Hand, dass das bei empfindlichen Menschen heftige Kopfschmerzen auslösen kann.“
Herma hob ihren Kopf an, schaute Georg in die Augen. „Ich war nie wirklich wetterfühlig. Okay, ein bisschen vielleicht, aber nicht so richtig ...“
Der Physiotherapeut zog seine Augenbrauen hoch. „Du, ich bin kein Arzt, aber ich kann mir gut vorstellen, dass dich die schweren Schädel-Hirn-Verletzungen, die dir von diesem Arschloch zugefügt wurden, anfällig für diese Luftdruckschwankungen gemacht haben.“ Herma van Dyck biss sich auf die Unterlippe – ihr liefen plötzlich Tränen über die Wangen. Sie schluchzte. „Hast du mal ein Taschentuch für mich, Georg?“ Der Cheftherapeut zog ein unbenutztes Stofftaschentuch aus seiner weißen Hose und reichte es seiner Patientin. Er schämte sich dafür, dass er bei Herma einen wunden Punkt getroffen und seine Bekannte zum Weinen gebracht hatte. Warum konnte er auch seinen Mund nicht halten.
Der Angriff auf Herma lag gerade mal zehn, elf Wochen zurück. Herma van Dyck hatte die Attacke definitiv nicht verarbeitet. Sie war noch nicht wieder die Alte. Das hätte er ahnen können. Georg Schultz kratzte sich verlegen auf seiner Glatze. Dann strich er Herma übers Haar.
„Hey, nicht weinen. Das wird schon wieder. Wirst schon sehen. Du bist eine starke Frau. Aber du musst Geduld haben ...“
Herma schnäuzte sich die Nase. „Ja, klar. Ich kriege das schon hin. Mich kotzt es nur an, dass da vielleicht etwas in meinem Gehirn kaputtgegangen ist – und dass mich das bis an mein Lebensende schmerzlich an dieses beschissene Arschloch erinnern wird. Auf dieses Andenken kann ich gut verzichten.“
Georg machte eine abwehrende Handbewegung. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht ist das ja auch nur der Winterblues, der dir aufs Gemüt geschlagen hat. Und wie gesagt: Diese extremen Luftdruckschwankungen haben bei vielen Menschen Kopfschmerzen ausgelöst. Meine Praxis wird von diesen leidgeprüften Menschen förmlich überrannt. Bei einigen lösen diese Wetterkapriolen Migräneattacken aus. Denk positiv ... Wichtig ist doch nur: Der Scheißkerl ist tot – und du lebst. Kopf hoch ... Wirst sehen: Bald bringst du wieder Verbrecher zur Strecke und trägst dazu bei, dass unser Land noch sicherer wird.“
Georg Schultz hatte es geschafft, Herma zum Lächeln zu bringen. „Hast ja recht, Georg. Ich bin eine Kämpferin. Ich beiße mich schon durch. Weißt du, wie sie mich in Rumänien früher genannt haben?“ Herma schob die Antwort gleich grinsend hinterher. „Starke Typin.“ Sie strahlte dabei Zuversicht aus, erzählte von der Zeit, als sie als Ehrenamtliche der DLRG-Ortsgruppe Wangerland in Ostfriesland Hilfsgüter für Siebenbürgen gesammelt und auf den Balkan gefahren hatte. 20 Jahre war das jetzt her. Wie schnell doch die Zeit verging. Herma wurde nachdenklich. In 20 Jahren würde sie schon längst in Pension sein. Georg Schultz blieb nicht verborgen, dass Herma van Dyck Stimmungsschwankungen hatte. Er fragte sich, wann die Mordermittlerin wohl wieder diensttauglich sein würde. Sie musste möglichst rasch wieder das tun, was sie am liebsten tat – Mörder jagen und festnehmen. Der Physiotherapeut verkniff sich die Frage, ob Herma Hilfe vom Polizeipsychologischen Dienst bekam. Er wusste aus Fernsehserien, dass Polizisten, die Schreckliches erlebt hatten oder im Dienst schwer verletzt worden waren, erst dann wieder als dienstfähig eingestuft wurden, wenn sie zuvor von einem Polizeipsychologen oder Psychiater eine Art Unbedenklichkeitserklärung bekommen hatten. Aber ob das der Wahrheit entsprach oder ob sich das die Drehbuchautoren bloß ausgedacht hatten, wusste Schultz nicht. Während er mit seinen Händen Hermas Nacken- und Rückenmuskulatur bearbeitete, dachte er über das nach, was seiner alten Freundin im Dezember im Dienst widerfahren war. Er war froh, etwas dazu beitragen zu können, dass Herma wieder auf die Beine kam. Die Arbeit würde ihr guttun. Davon war er überzeugt.