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Kapitel 8

Neun Uhr dreißig, Hameln, Fußgängerzone. Draußen kämpfte sich die Sonne durch den zähen Frühnebel, der sich im Wesertal viel länger als anderswo gehalten hatte. Der Wind war feucht, eisig und drehte auf Nord­ost. Das Thermometer zeigte an diesem nasskalten Januarmorgen 4 Grad Celsius an. Drinnen war es wohlig warm, roch es nach ofenwarmen Brötchen und frisch aufgebrühtem Kaffee. Er saß im Café Wien, starrte freudestrahlend auf sein Smartphone und nippte von Zeit zu Zeit an seinem türkischen Mokka. Er fühlte sich wie ein König, hatte Grund zum Feiern. Der Goldpreis stieg von Tag zu Tag. Er war auf Höhenflug. Das zeigte der Realtime-Kurs im Internet bei Börse Online. Er konnte sich nicht sattsehen, hatte schon Dollarzeichen in den Augen. Der Mokka-Trinker glotzte sabbernd auf die sich ständig verändernden Zahlen vor und hinter dem Komma, die abwechselnd grün und rot unterlegt wurden. Er lehnte sich zufrieden zurück und genoss den Wiener Charme, den dieses Kaffeehaus versprühte. Endlich hatte er mal einen Volltreffer gelandet. Holdorfs Gold machte ihn liquide. Vorbei die Zeiten, wo er jeden Cent zweimal umdrehen musste. Er würde die Goldbarren nach und nach zu Geld machen, sie bei verschiedenen Banken verkaufen. So lief er nicht

Gefahr, aufzufallen. Er hob die Hand und winkte eine rot­haarige Kellnerin zu sich. Die junge Frau lächelte ihn fragend an. „Sie wünschen, bitte?“

„Haben Sie Sekt in kleinen Flaschen?“

Die Rothaarige zwinkerte ihm zu. „Ja, klar. Piccolo. Darf ich Ihnen einen bringen, mein Herr?“

Die Frau war Mitte 30, hatte volle rote Lippen, große blaue Augen, hohe Wangenknochen und weiche Gesichtszüge. Auf ihrem Namensschild stand, dass sie Denise hieß. Über ihrem schwarzen kurzen Kleid trug sie eine weiße Schürze mit Rüschen. Er fand ihr Lächeln bezaubernd.

„Ja, bitte. Einen Trockenen, wenn Sie haben ...“ Er blickte ihr tief in ihre Augen. „Ach, eine Frage noch: Darf ich Sie vielleicht auf ein Gläschen einladen?“

Die sommersprossige Kellnerin lief rot an. „Äh ... Nein, danke. Ich habe zu arbeiten. Es ist auch nicht erlaubt, mit Gästen zu trinken“, flüsterte sie und machte auf dem Absatz kehrt.

Wow, was für eine Frau, dachte er und stieß beim Ausatmen einen leisen Pfeifton aus. Er stand auf Rot­haarige, spürte in seinem Schritt Erregung. „Rote Haare und blaue Augen – was für eine seltene Kombination. Voll krass, ey“, sprach er leise zu sich selbst – und leckte sich danach über seine Lippen. Er hatte irgendwann einmal in einem Magazin gelesen, dass Rot die seltenste Haarfarbe war. Nur zwei Prozent aller Menschen weltweit waren von Natur aus rothaarig. Auch blaue Augen wurden nicht dominant vererbt und waren alles andere als häufig. Wenn er sich richtig erinnerte, dann hatten lediglich 17 Prozent der Weltbevölkerung diese Augenfarbe. Diese Sommersprossige war wirklich besonders. In seinem Kopf arbeitete es. In Mathematik war er schon in der Schule spitze gewesen, später hatte er Informatik studiert. Deshalb fiel es ihm nicht schwer, im Kopf auszurechnen, wie selten die Kombination rote Haare und blaue Augen war. Er ging von etwa 7,5 Milliarden Menschen aus, die auf der Erde lebten, und kam auf weniger als 13 Millionen Rothaarige, die blaue Augen hatten. Kein Zweifel – diese Schönheit gehörte zu dieser Spezies Mensch. Während er seine Zunge in die kleine Tasse steckte und den mit viel Zucker versetzten Kaffeesatz aufleckte, überlegte er, wie er Denise in sein Bett kriegen könnte. Während er darüber sinnierte, geriet plötzlich eine andere Frau, die am Nachbartisch Platz genommen hatte, in sein Gesichtsfeld.

Er war wie elektrisiert. Sie mochte Mitte sechzig sein, hatte kurze braune Haare, ein rundes Gesicht und kleine Augen, die von den dicken Gläsern einer schwarzen Nana-Mouskouri-Brille vergrößert wurden. Nicht das Aussehen dieser Frau, sondern der Schmuck, den sie trug, weckte sein Interesse. Das Geschmeide löste einen starken Sabber-Reflex bei ihm aus. Speichel tropfte aus seinem Mund. Seine Augen hatten Gold und Edelsteine erspäht. Ein prächtiges, offenbar mit Brillanten besetztes Collier, an dessen Ende ein kunstvoll gefertigtes Fabergé-Ei baumelte, schmückte ihren faltigen Hals. An ihren Ohrläppchen hingen zwei auffallend große, ebenfalls mit zahlreichen weißen Steinen besetzte Creolen. Am rechten Handgelenk trug die Café-Besucherin eine schwere Goldkette, die mit Rubinen verziert war. An sechs Fingern ihrer mit Altersflecken übersäten Hände trug sie Ringe. Keine Frage: Diese Frau stellte ihren Reichtum zur Schau. Vermutlich war ihr Mann schon längst unter der Erde und hatte ihr ein Vermögen, das sie jetzt verprasste, hinterlassen.

Die rothaarige Kellnerin riss ihn aus seinen Tagträumen. Sie stellte ein Sektglas und die Piccolo-Flasche auf den Kaffeehaustisch und räumte die von ihm ausgeleckte Mokkatasse ab. „Wohl bekomms!“, sagte sie mit einem verführerischen Blick. „Danke“, erwiderte er knapp, öffnete das Fläschchen und goss sich etwas Sekt ins Glas. Aus den Augenwinkeln beobachtete er dabei die Mittsechzigerin. Die Brillanten funkelten im Licht der Tischlampe wie Sterne am Firmament. Er musste diese Klunker haben. Die sind locker zwanzigtausend oder mehr wert. Womöglich hat die alte Schabracke zu Hause noch mehr davon in ihrer Schmuckschatulle, malte er sich aus. Wie ein Raubtier, das zähnefletschend seine Beute ins Visier nimmt, fixierte er die Frau, von der er annahm, dass sie Witwe war. Sie nestelte abwechselnd nervös an ihrer beigefarbenen Seidenbluse und an einer roten Rose, die vor ihr auf der Tischplatte aus Onyx lag, und sah sich von Zeit zu Zeit um. Er schloss daraus, dass die Frau ein Blind Date hatte. Die Rose war offenbar das Erkennungszeichen. Der Mörder dachte nach. Er beschloss, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Er gab der Kellnerin ein Zeichen. Als sie neben ihm stand, winkte er sie zu sich herunter und flüsterte ihr eine Bestellung ins Ohr. „Bitte bringen Sie der Dame dort“, er deutete mit seinem Kopf hinüber zu der Nana-Mouskouri-Bebrillten, „einen Piccolo. Und sagen Sie ihr, die Flasche sei von mir.“

Die Kellnerin sah ihn verwundert an, quittierte den Wunsch aber mit einem „Sehr wohl, der Herr“.

Er erwischte sich dabei, wie er über den Rand seines Sektglases den Schmuck anstarrte und die einzelnen Stücke taxierte. Er befürchtete, dass die Frau am Nachbartisch seine aufdringlichen Blicke bemerken, aufstehen und gehen würde. Das würde die Sache verkomplizieren. Aber die zappelige Mittsechzigerin schien ihn nicht zu bemerken. Sie fummelte immer noch an ihrer Bluse herum und machte Handbewegungen, so als wolle sie unsichtbare Krümel wegwischen. Die Frau schreckte hoch, als die Kellnerin an ihren Tisch trat und ihr den Sekt servierte. „Äh ... Moment ... Das habe ich nicht bestellt“, hörte er sie sagen. Ihre voll klingende weibliche Stimme hatte eine mittlere Tonlage – er empfand sie als angenehm, ja beinahe sexy. Sie passte so gar nicht zum Aussehen dieser älteren Frau. „Von dem Herrn dort drüben“, sagte die Rothaarige und bewegte dabei ihren Kopf in dessen Richtung. Seine Goldmarie lächelte breit. Sie fühlte sich geschmeichelt. „Oh, wie nett.“ Sie nickte ihm zu und füllte das langstielige Glas mit Schaumwein. Kurz darauf prosteten sie sich zu. Der Anfang war gemacht. Jetzt durfte nur nicht das Blind Date auftauchen. Er stand auf, strich seine Krawatte glatt, knöpfte sein Sakko zu und ging zu ihr an den Tisch. „Einen schönen guten Tag ... Ich heiße Peter Petrov. Darf ich mich vielleicht zu Ihnen setzen?“ Die Mittsechzigerin machte eine einladende Handbewegung. „Aber gern. Bitte, nehmen Sie doch Platz ... Ich heiße Erika.“ Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet, schaute ihn erwartungsvoll an. „Sind wir verabredet?“, fragte sie etwas schüchtern. Er spielte den Charmeur, verstand es, Frauen für sich einzunehmen. „Ich denke, meine Teure, das Schicksal hat uns heute hier an diesem Ort zusammengeführt“, sagte er charmant – und dachte an früher.

Als er jung war, hatte er mit der Loverboy-Masche gearbeitet. Er war ein Meister darin, Frauen um den Finger zu wickeln. Er hatte vielen hübschen Mädchen den Kopf verdreht, sie emotional an sich gebunden – und sie dann gezwungen, für ihn oder andere auf den Strich zu gehen. Skrupel hatte er nicht. Er wollte schon immer möglichst schnell viel Geld machen – und wenig dafür tun. Seine Masche war simpel, aber sehr effektiv. Er hatte sich gezielt an Minderjährige herangemacht, sie am Strand, auf Schulhöfen oder vor Fastfood-Restaurants angesprochen. Zur Kontaktaufnahme hatte er natürlich auch soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Badoo genutzt. Traf sich ein Mädchen mit ihm, war sie so gut wie verloren. Es reichte schon, auf die Gören einzugehen, ein bisschen Verständnis für die Probleme der Pubertierenden zu zeigen oder den Girlies zu sagen, wie gut sie aussahen. Dann hatte er ihnen die große Liebe vorgeheuchelt und blumig von einer gemeinsamen Zukunft gefaselt. Wenn er an diese Zeit dachte, musste er sich noch heute den Bauch halten vor Lachen. Diese jungen unreifen Dinger fielen garantiert auf so ein romantisches Geschwafel rein. Ihre Geilheit und ihre Unerfahrenheit wurden ihnen zum Verhängnis – davon war er überzeugt. War ihm die Kleine erst einmal verfallen, konnte er sie manipulieren, sich zwischen sie und ihre Familie drängen. Schon nach kurzer Zeit hatte die inzwischen unsterblich Verliebte das Gefühl, dass er der Einzige war, der sie verstand. Dann war der Zeitpunkt gekommen, konnte die Falle zuschnappen.

Er hatte den Mädels stets vorgegaukelt, Schulden zu haben und schließlich den alles entscheidenden Satz ausgesprochen: „Du, die töten mich, wenn ich die Kohle nicht zurückzahle. Es gibt nur einen Ausweg. Wenn du für mich mit einem Freund schlafen würdest, dann werden die mir die Schulden erlassen.“ Das hatte ausnahmslos geklappt. Jahrelang hatte er auf diese Weise blutjunge Mädchen für Bordelle rekrutiert. Aber er war älter geworden, arbeitete jetzt lieber mit einer Spritze. Seit Jahren schon beförderte er damit Menschen ins Jenseits – und es machte ihm nichts aus. Seine Opfer waren einsame Frauen und alleinstehende Männer, die etwas auf der hohen Kante hatten. Die Frau, die jetzt vor ihm saß und an ihrem Sekt nippte, würde auch nicht mehr lange leben. Das hatte er längst entschieden.

Januargier

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