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ОглавлениеKapitel 11
Doktor Karl Mertens saß angespannt auf seinem Bürostuhl, der bei jeder Drehung quietschte, und knetete mit seinen Fingern die schwarzen Armlehnen durch. In dem abgewetzten Kunstleder hinterließen seine Fingernägel kleine Kerben, die aussahen wie abnehmende Monde. Der stellvertretende Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Medizinischen Hochschule in Hannover hatte sich in sein Arbeitszimmer, das kaum größer als eine deutsche Gefängniszelle war, zurückgezogen und dachte darüber nach, mit welchen Worten er Kurt Brenner wohl am schnellsten davon überzeugen konnte, einer toxikologischen Laboranalyse zuzustimmen. Im Fall Nadja Stern hielt er das für dringend angebracht. Mertens hoffte, dass das der leitende Ermittler und der zuständige Staatsanwalt genauso sehen würden. Aber die Erfahrung zeigte: Nicht immer hörten Behördenvertreter auf den Rat der Experten. Es ging letztlich um die Frage: Wer soll das bezahlen? Der erfahrene Rechtsmediziner schob seine Unterlippe vor und betrachtete minutenlang den „Rausch in Rot“‘ an seiner Wand. Danach stand fest: Er würde den Leiter des Kommissariats für Tötungsdelikte mit Argumenten auf seine Seite ziehen können. Schließlich musste Brenner dem Staatsanwalt die Zusage abringen, bei der Suche nach Hinweisen auf ein Fremdverschulden tiefer als sonst zu graben. Mit beiden Händen packte Mertens die leicht abgerundete Kante der Resopalplatte mit Eichenholz-Optik und zog sich auf seinem in die Jahre gekommenen Chefsessel näher an seinen Schreibtisch. Die Rollen seines Drehstuhls produzierten Quietschgeräusche. Der Anwalt der Toten zog eine Schublade auf, in der er zahlreiche Visitenkarten aufbewahrte. Die Karte von Brenner lag zuoberst auf dem Stapel. Mertens nahm die Visitenkarte heraus, legte sie vor sich auf die transparente Tischauflage, nahm dann den Hörer seines Dienstapparats ab und wählte die Nummer des Ersten Kriminalhauptkommissars. Während es tutete, schaute der Gerichtsmediziner aus dem Fenster. Ein paar Meter unter ihm herrschte geschäftiges Treiben.
Auffallend viele Menschen, die weiße Kittel oder blaue Kasacks trugen, eilten am Institut vorbei. Mertens fragte sich, wohin die MHH-Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger zu dieser Stunde wohl gehen würden. Er schaute auf die Uhr: kurz vor elf. Für einen Gang zur Kantine war es noch zu früh. Mertens wurde von einem Knacken, das in sein rechtes Ohr drang, aus seinen Gedanken gerissen. „Brenner, FK1 ... Guten Tag“, meldete sich der Leiter des Fachkommissariats 1, das für so ziemlich alle Straftaten zuständig war, die sich gegen das Leben richteten. Die Bandbreite war groß und ließ die Ermittler mitunter in die Abgründe der menschlichen Seele blicken – das Tätigkeitsspektrum reichte von Mord und Totschlag, Tötung auf Verlangen und fahrlässiger Tötung über gefährliche und schwere Körperverletzung, Brandstiftung mit und ohne Todesfolge bis Vergewaltigung und Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen. Doktor Mertens räusperte sich. „Hallo, Herr Brenner! Hier spricht Doktor Mertens von der Rechtsmedizin in Hannover. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.“
Brenner war erstaunt. Es kam eher selten vor, dass er von einem Rechtsmediziner angerufen wurde. Der 1,94-Mann drückte die Hörkapsel seines Telefons fester an sein linkes Ohr, fischte sich einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts. Er war gespannt, was ihm Doktor Mertens mitteilen wollte. „Ich grüße Sie, Herr Doktor Mertens. Was verschafft mir die Ehre?“ Der Kriminalbeamte schätzte den Gerichtsmediziner – er arbeitete schon seit vielen Jahren mit ihm zusammen, hielt ihn für einen der besten medizinischen Forensiker in Deutschland. „Nun, Herr Brenner ... Äh ... Also, es ist so. Sie erinnern sich doch an die Leiche von Nadja Stern?“ Mertens machte eine Sprechpause. Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, da er ganz genau wusste, wie Brenners Antwort lauten würde. „Ja, sicher ... Selbstverständlich.“ Der Erste Kriminalhauptkommissar legte seine Stirn in Falten – seine Stimme klang amüsiert. „Herr Doktor Mertens, Sie haben die Leiche gemeinsam mit ihrem Kollegen in meinem Beisein obduziert. Das ist ...“, Brenner sah auf seine Armbanduhr, „... nicht einmal 24 Stunden her. Ich bin zwar schon ein älteres Semester, aber so vergesslich bin ich dann doch wieder nicht. Was ist denn mit der Leiche? Ist sie etwa verschwunden?“
Mertens war die Sache unangenehm. Er hatte vorhin so lange darüber nachgedacht, wie er das Gespräch mit dem obersten Mordermittler von Hameln beginnen würde – und nun hatte er gleich zu Beginn des Telefonats Blödsinn geredet. Natürlich konnte sich Brenner an die Autopsie erinnern. Er musste ihn für einen Volltrottel halten. „Nein, nein ... Die Leiche ist noch bei uns im Institut. Wie sollte es auch anders sein. Wir haben ja noch keine Freigabe von der Staatsanwaltschaft erhalten, sie vom Bestatter abholen zu lassen – und das ist in diesem Fall auch gut so. Wir, also Doktor Martin und ich, haben uns die Tote heute ein zweites Mal angeschaut und dabei etwas entdeckt, dass durchaus ein Hinweis auf ein Tötungsdelikt sein könnte.“ EKHK Brenner sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl hoch. Unbeabsichtigt zog er dabei den Telefonapparat an der Schnur quer über seinen Schreibtisch, was nicht ohne Folgen blieb: Die Tasse Kaffee, die er auf einer dicken Ermittlungsakte abgestellt hatte, landete im hohen Bogen auf dem Fußboden. Es klirrte. Scherben verteilten sich auf dem Linoleum-Belag, kalter Kaffee bildete eine Pfütze. „Scheiße“, schrie Brenner. Mertens war über diese heftige Reaktion des Kommissars einigermaßen erstaunt. Er hatte nicht mitbekommen, dass dem Mordermittler ein Malheur passiert war. „Äh ... Ja, wenn sich unser Verdacht bestätigt, dann haben wir es mit einem ganz perfiden Täter zu tun.“ Der Leiter des FK1 beschloss, die Sauerei auf dem Fußboden fürs Erste zu ignorieren. „Ich habe nicht Sie gemeint, Herr Doktor Mertens“, war Brenner um Aufklärung bemüht. „Sorry. Meine halb volle Kaffeetasse ist gerade in tausend Stücke zersprungen. Sprechen Sie bitte weiter. Was ist das für eine neue Spur, auf die Sie da gestoßen sind? Und warum haben Sie noch eine Leichenschau durchgeführt? Gestern sagten Sie mir doch, die Untersuchung sei abgeschlossen. Jetzt haben Sie mich aber neugierig gemacht.“
Doktor Mertens holte tief Luft. Die Frage nach dem Warum überhörte er. „Es ist vorerst nur ein Verdacht. Wir haben die Tote erneut nach Einstichstellen abgesucht und dabei auch die Kopfhaut und den Schambereich rasiert. In der Kopfschwarte haben wir eine winzige Punktion entdeckt. Es scheint uns, also mir und dem Kollegen Martin, eher unwahrscheinlich, dass es sich dabei um einen Insektenstich handelt.“
Brenner leckte sich über die Lippen. „Das wäre ja ein dickes Ding. Das hieße ja, wir hätten es mit einem Täter zu tun, der seinem Opfer mit einer ganz feinen Nadel Gift injiziert – und zwar an einer Stelle, die man leicht übersehen kann ...“
„Genauso ist es“, bestätigte der Rechtsmediziner. Der Mordermittler setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Dabei achtete er darauf, nicht in den Scherbenhaufen zu treten. „Und was schlagen Sie jetzt vor, Doc?“
Auf diese Frage hatte Mertens gewartet. „Nun, es gibt nur eine Möglichkeit, Klarheit zu erlangen und die Wahrheit herauszufinden ...“
„Ja, und die wäre?“, unterbrach ihn Brenner ungeduldig.
„Wir müssen die Haut und das Unterhautfettgewebe rund um die mögliche Einstichstelle herausschneiden und die Gewebeprobe von unserem Labor auf Drogen, Medikamente und andere todbringende Substanzen untersuchen lassen. Natürlich sollten auch Leichenblut und Urin analysiert werden.“
Brenner strich sich mit der flachen Hand über seine Glatze. „Hm ... Verstehe. Und ich soll jetzt die Staatsanwaltschaft dazu bringen, grünes Licht für diese Untersuchung zu geben, richtig?“
„Herr Brenner, Sie haben es erfasst. Es geht mal wieder um den schnöden Mammon. Sie kennen doch den Spruch: Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen. Ohne Auftrag der Polizei oder der Staatsanwaltschaft dürfen wir nicht tätig werden. Da sind mir als Rechtsmediziner die Hände gebunden – leider. Wir tragen zwar im günstigsten Fall dazu bei, dass die Kripo ein Tötungsdelikt aufklären kann, aber – anders als im Fernsehen – ermitteln wir nicht selbst, wie Sie wissen.“
„Äh ...“ Der Mordermittler kratzte sich an der Stirn. „Herr Doktor Mertens, sagen Sie mal: Könnte ich diese Laboruntersuchungen veranlassen? Oder muss das zwingend ein Staatsanwalt machen?“
„Nun, das ist eigentlich Sache der zuständigen Staatsanwaltschaft. Aber es kommt regelmäßig vor, dass ein erfahrener Polizeibeamter das auf seine Kappe nimmt. Die jungen Kommissare, ja, die fragen immer nach. Die wollen nichts falsch machen und noch was werden; die alten treffen gern selbst die Entscheidung.“
Der Leiter vom Mord und Totschlag musste lachen. „Nachtigall, ick hör dir trapsen“, sagte Brenner im feinsten Berliner Dialekt. „Message received ... Was kostet denn so eine Analyse? Spucken Sie’s schon aus.“
Mertens atmete auf. Der Mordermittler war kurz davor, die Toxikologie der Rechtsmedizin mit weiteren Nachforschungen zu betreuen. „Och, das ist gar nicht so teuer ...“, antwortete der Forensiker. „So cirka 100 Euro.“
Brenner war erstaunt. „Wie? Echt jetzt? Mehr nicht? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Doc. Klar, das nehme ich auf meinen Deckel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient und anders nicht geht, bezahle ich die Rechnung aus meiner Tasche ...“
Mertens war zufrieden. Er hatte sein Ziel erreicht. „Fein, fein. Dann werte ich das jetzt mal als Auftrag.“
„Ja, bitte machen Sie diese Analyse – und rufen Sie mich umgehend an, wenn es in der Sache Stern etwas Neues gibt.“
„Selbstverständlich, Herr Brenner“, sagte der stellvertretende Institutsleiter und verabschiedete sich. „Dann sage ich jetzt erst einmal Tschüss. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag – und bleiben Sie gesund und munter.“
„Ja, das wünsche ich Ihnen auch, Herr Doktor. Wir hören dann voneinander.“ Die Männer beendeten das Telefonat. Während Karl Mertens freudestrahlend die Treppe, die zum Sektionssaal führte, hinunterging, wählte der Erste Kriminalhauptkommissar Kurt Brenner die Nummer von Miriam von der Heide. Er wollte die Staatsanwältin über die neuesten Entwicklungen im Fall Nadja Stern informieren. Nachdem es am anderen Ende der Leitung dreimal geklingelt hatte, war eine rauchige Frauenstimme zu hören. „Wer stört?“, meldete sich Miriam von der Heide, die mit Brenner befreundet war und anhand der Nummer im Display sofort gesehen hatte, wer sie anrief.
„Hallo, Miriam“, sagte Brenner. „Habe ich dich etwa beim Büroschlaf gestört? Ich würde es dir nicht verübeln. Power-Napping soll ja sehr gesund sein?“ Der Mordermittler lachte gehässig. Die Staatsanwältin spielte die Empörte: „Du Schuft, du ... Wenn du wüsstest, was ich hier alles zu tun habe. Mein Schreibtisch biegt sich unter der Last der Aktenberge.“
Nach dem nicht ernst gemeinten Wortgefecht informierte Kurt Brenner die ermittelnde Staatsanwältin. Miriam von der Heide hörte sich schweigend an, was der leitende Mordkommissar zu berichten hatte. Nur ab und zu zog sie an ihrer Marlboro, die die Kettenraucherin heimlich in ihrem Büro inhalierte. Brenner gestand ihr, dass er über ihren Kopf hinweg eine Entscheidung getroffen hatte. Staatsanwältin von der Heide hustete Schleim ab. Ihre Zigarette klemmte lässig in ihrem linken Mundwinkel, was ihr ein verwegenes Aussehen verlieh. „Kurt, wir können das hier abkürzen. Du hast alles richtig gemacht. Alles gut ... Das hätte ich genauso gemacht. Bei einem dermaßen gravierenden Verdacht dürfen wir keine Zeit verlieren. Ich hoffe allerdings, die Rechtsmediziner irren sich.“
Brenner war beruhigt. Seine Entscheidung war im Nachhinein von der Staatsanwaltschaft abgesegnet worden. „Ja, stimmt, es wäre schön, wenn sich das Ganze als Fehlalarm entpuppen würde. Okay, meine Liebe. Dann warten wir mal ab, was die forensischen Toxikologen herausfinden.“
Die Staatsanwältin zog an ihrer Kippe, stieß kurz darauf – für Brenner hörbar – blauen Dunst aus. „Jo, so mok wi dat ...“, sagte sie. „Mach’s gut, Kurt. Und halt mich bitte auf dem Laufenden. Du weißt ja: Ich lebe gern in der Lage.“
„Alles klar“, sagte Brenner. „Versprochen.“