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Kapitel 7

Im Halbdunkel starrte sie an die Betondecke, die irgendwann einmal mit grobem Spritzputz und weißer Farbe verschönert worden war, und harrte der Dinge, die da kommen würden. Ihre Unterschenkel ruhten auf einem mit schwarzem Kunstleder überzogenen Schaumstoff-Würfel, ihre Beine waren rechtwinkelig angezogen, ihr Rücken lag auf einer mit einem lilafarbenen Bettlaken überzogenen Liege, die an einen Seziertisch erinnerte, ihr Kopf ruhte auf einer harten Nackenrolle. Sie sah aus, als sei sie mitsamt einem Stuhl umgekippt und liege nun – hilflos wie ein Maikäfer – auf dem Rücken. Als die Hand, die sie von ihrer Position aus nicht sehen konnte, den Schalter umlegte, spürte sie heftige Vibrationen. Ein metallisches Klingeln dröhnte in ihren Ohren. Herma van Dyck lag auf einem quaderförmigen Bett, das mit dem Stromnetz verbunden war, und wurde kräftig durchgerüttelt. Zeitweise fühlte es sich so an, als würden mehrere Tausend Ameisen über ihren Rücken krabbeln. Die stoßartigen Bewegungen lösten bei ihr einen Juckreiz aus, aber sie konnte sich nicht kratzen. Seit sie von heftigen Kopfschmerzen geplagt wurde, ließ sie nichts unversucht, die Pein loszuwerden.

Nach Georgs manueller Therapie war sie gleich zu ihrem alten Freund Ulli gegangen, der seit 1987 vis-à-vis dem Watt-und-Meer-Zentrum in Bensersiel eine gut gehende Hausarztpraxis betrieb. Kurarzt Doktor Ulrich Messner hatte vor einigen Jahren gemeinsam mit staatlich anerkannten Physiotherapeuten eine spezielle biomechanische Schmerztherapie entwickelt, die sogar nach ihm benannt worden war. Es handelte sich um eine Kombinationstherapie, die sich aus biomechanischer Stimulation, klassischen Massagen, Akupunktur und aus einer Behandlung, bei der die Schmerzpunkte mit den Handballen und den Fingerkuppen gerieben wurden, zusammensetzte.

Die Schmerztherapie nach Doktor Messner war inzwischen über Ostfriesland hinaus bekannt. Viele Patienten reisten extra aus dem Ruhrpott an die Küste, um sich von dem stets gut gelaunten Allgemeinmediziner behandeln zu lassen. Messners Praxis wurde an manchen Tagen förmlich überrannt. Wer zeitnah einen Termin bekam, konnte sich glücklich schätzen. Für Herma, die schon zu ihm gekommen war, als sie noch ein Kind war, hatte Ulli immer Zeit, notfalls machte er für sie Überstunden. Messner wusste, was Herma im Dienst zugestoßen war – sie hatte im Koma gelegen, war künstlich beatmet worden. Eine Blutung hatte zu einer Hirnschwellung geführt. Zum Glück hatte sie sich zurückgebildet. Doch die immer wieder plötzlich auftretenden Kopfschmerzattacken waren geblieben. Messner bereitete das Sorgen. Früher hatte Herma viel Sport getrieben. Segeln, Surfen, Joggen, Boßeln – in ihrer Jugend hatte sie nichts ausgelassen. Sie war ständig in Bewegung gewesen. Ein echter Wirbelwind ... So oft sie konnte, war sie mit ihrer 470er-Rennjolle rausgefahren, um bei Wind und Wetter zu segeln. Kein Sturm hatte sie davon abhalten können. Wie oft hatte sie ihm die Geschichte erzählt, wie sie nördlich von Janssand zwischen den Inseln Langeoog und Spiekeroog von einem rasch aufziehenden Gewitter überrascht worden war. Ihr Boot war damals in den meterhohen Wellenbergen gekentert. Seenotretter hatten sie aus der aufgewühlten See gefischt und ihre Jolle in den sicheren Hafen von Neuharlingersiel geschleppt. Am nächsten Tag war Herma van Dyck wieder segeln gegangen – so, als wäre nichts passiert. Angst kannte sie nicht. Sie war immer wie ein Stehaufmännchen gewesen, hatte sich nicht durch Niederlagen oder Misserfolge entmutigen lassen. Und nun?

Seit dem feigen Mordversuch schien Herma nicht mehr die Alte zu sein. Sie bewegte sich offenbar zu wenig, verkroch sich meist in ihrem Haus am Deich. Dem Hausarzt war bei den zurückliegenden Untersuchungen und Behandlungen aufgefallen, dass die Kommissarin in den letzten Wochen zeitweise niedergeschlagen war und häufig an sich selbst zweifelte. Sie schien unter Stimmungsschwankungen zu leiden. Mal war sie fröhlich, mal traurig. Hermas Schicksal ließ Messner nicht kalt. Er wollte ihr helfen, rasch ins Leben zurückzufinden. Der Arzt tat alles in seiner Macht Stehende, um sie von den quälenden Schmerzen zu befreien. Er wollte sie lächeln sehen.

Herma hatte ihre Augen geschlossen und dachte an Harm Harmsen. Sie fühlte sich einsam und sehnte sich nach ihm. Im vergangenen Herbst hatten sie sich bei ihm in Oldenburg getroffen. Sie hatten Rotwein getrunken, und sie war in seinen Armen eingeschlafen. Mehr war in dieser Nacht nicht passiert. Leider, seufzte sie.

Während sie von der Maschine, die sie an eine Folterbank erinnerte, kräftig durchgerüttelt wurde, dachte Herma über ihre Schmerzen und Ohrgeräusche nach. Was, wenn das nie aufhörte? Sie gestand sich ein, dass sie der Mordanschlag aus der Bahn geworfen hatte. Die Verletzungen an ihrem Kopf mochten bald verheilt sein, die Wunden an ihrer Seele waren es nicht.

Immerhin, die maschinelle Rüttelmassage à la Doktor Messner, kombiniert mit den Akupunkturnadeln, die Ulli dienstags und donnerstags geschickt in ihre Kopfhaut drehte, sodass die Einstiche kaum zu spüren waren, und die heilenden Hände von Georg, der montags und freitags ihren Nacken und Rücken mit seinen kräftigen Händen bearbeitete, schienen ihr gutzutun. Die Kommissarin vertraute ihrem alten Hausarzt und dem erfahrenen Physiotherapeuten. Sie wäre aber mittlerweile auch bereit gewesen, einen lebendigen Frosch zu verspeisen, wenn sie das von ihren Migräneanfällen befreit hätte. Die Mordermittlerin griff nach jedem Strohhalm, ließ sich auf alles ein. „Ja, es stimmt wohl. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen, aber ich werde mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen“, sprach sich Herma selbst Mut zu. Herma beschloss, bereits in der kommenden Woche nach Hameln zurückzukehren. Sie wollte endlich wieder Sexualstraftäter jagen und Mörder dingfest machen. Doch erst einmal musste sie polizeidienstfähig geschrieben werden. Während sie auf der Rüttelliege lag und kräftig durchgeschüttelt wurde, dachte sie an Doktor Manfred Rixinger. Der auffallend hagere Polizeiarzt und Psychologe mit der schiefen Pinocchio-Nase, auf der eine John-Lennon-Nickelbrille thronte, musste erst sein Okay dazu geben. Es graute ihr schon davor, die Fragen des Seelenklempners beantworten zu müssen. Was, wenn er sie für dienstunfähig hielt? Was, wenn sie in irgendein langweiliges Polizeiarchiv abgeschoben wurde oder fortan nur noch Herrin irgendeiner staubigen Asservaten-Kammer war?

Herma versuchte, diese Gedanken zu vertreiben, indem sie wieder an Harm Harmsen dachte. Sie vermisste ihren feschen Oberfroschmann. Was er wohl gerade in Afghanistan machte? Sie redete sich ein, dass er an einem sicheren Ort Dienst schob. Aber sie wusste, dass das Land am Hindukusch ein gefährliches Pflaster war. Erst vorgestern hatte es in Kabul einen Anschlag mit 33 Verletzten gegeben. Die Maschine hörte abrupt auf, Vibrationen zu produzieren. Plötzlich war es still in dem abgedunkelten Behandlungsraum. Ein Knarren verriet Herma, dass jemand die Tür geöffnet hatte. Ulli Messner steckte seinen Kopf durch den Türrahmen. „Na, Herma ... Alles klar bei dir? Wie fühlst du dich heute?“ Herma richtete sich auf, setzte sich auf die Kante der Rüttelliege und ließ ihre Beine baumeln. Als sie wieder auf ihren Füßen stand, hatte sie das Gefühl, als stünde sie auf einem schwankenden Schiff. Ulli gnickerte nur. Er hatte ein gütiges Gesicht und eine zerzauste Frisur. „Bist wohl ordentlich durchgeschüttelt worden. So muss das sein. Wenn du jetzt im Stehen noch ’n büschen Seegang spürst, war die Rütteldosis genau richtig ...“

Herma schaute ihrem Hausarzt fragend in die Augen. „Soso ... Die Rütteldosis .... Gibt es da exakte Berechnungen?“ Messner setzte sich neben sie auf die Liege und holte tief Luft. „Sicher nicht, Herma. Jeder Mensch reagiert anders. Aber meine Kombinationstherapie wirkt – sie wird dir helfen. Da bin ich mir ganz sicher. Du musst nur etwas Geduld haben.“ Herma zuckte mit den Schultern. „Das glaube ich dir aufs Wort. Sonst würde ich mich ja gar nicht darauf einlassen. Ich vertraue dir meinen geschundenen Körper an. Ohnehin gilt: Wer heilt, hat recht.“ Doktor Messner wusste, dass seine Patientin ungeduldig, neugierig und mitunter etwas misstrauisch war. Er kratzte sich nachdenklich an der rechten Schläfe und dachte einen Augenblick nach. Er wollte die richtigen Worte finden. „Schön, dass du mir vertraust. Aber in deiner Stimme schwingt große Skepsis mit. Ich habe feine Antennen dafür.“ Noch bevor Herma darauf etwas erwidern konnte, fing der Arzt zu erklären an. „Das ist völlig okay ...“ Doktor Messner hob den Zeigefinger seiner rechten Hand und lächelte freundlich. „Ich sehe es dir an der Nasenspitze an. Du fragst dich jetzt, wie diese komische biomechanische Stimulation funktioniert, richtig?“ Wieder wartete Doktor Messner die Antwort auf seine Frage nicht ab. „Also, pass mal auf ... Ende der 1970er-Jahre hat ein gewisser Professor Vladimir Nazarov diese besondere Therapieform entwickelt. Er war damals Mannschaftsarzt des sowjetischen Turnerteams. Nun, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse sind in meine Kombinationstherapie eingeflossen.“

„Und die wären?“, hakte Herma nach. Messner hob die rechte Hand. „Nur Geduld ... Lass mich bitte ausreden. Im Gegensatz zu anderen Vibrationsmethoden werden bei der BMS Schwingungen in Längsrichtung auf die Muskulatur übertragen. Dadurch werden Muskelfasern in Eigenresonanz gebracht. Im Kern geht es bei dieser Methode darum, Muskeln durch Vibrationen zu erwärmen und dadurch die Blutzirkulation anzuregen. Es kommt auf diese Weise zu einem verstärkten Blutaustausch im Körper und dadurch zu einer verbesserten Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen. Man könnte auch sagen: Der Muskel, die Nerven, die Knochenhaut, der Knorpel, die Kapseln, die Gelenke und das Narbengewebe werden mit Nahrung versorgt. Diese Behandlung hat sich insbesondere auf dem neuroorthopädischen Gebiet bewährt. Glaub mir, das hilft ganz prima gegen Migräne und sogar gegen deine Narbenschmerzen. Bald ist deine Pein wie weggeblasen.“ Ein Lächeln huschte über Hermas Gesicht. „Na, schön wär’s“, sagte die Kommissarin und rieb sich dabei unbewusst über die Narbe. „Nicht, dass du das in den falschen Hals kriegst, Ulli. Ich ziehe deine Methode überhaupt nicht in Zweifel – und vertraue dir voll und ganz. Du hast das toll erklärt, du könntest auch an der Uni Vorlesungen halten. Ich fühle mich halt besser, wenn ich weiß, was mit mir geschieht und wie das mit der Heilung funktioniert.“ Doktor Messner überhörte Hermas Rechtfertigung. Er kannte sie schon seit ein paar Jahrzehnten und hatte sich an ihre Nachfragen gewöhnt. Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand tippte er auf seinen Brustkorb. Irgendetwas schien ihn zu amüsieren. „Soso ... du meinst: Ich sollte Dozent werden ...? Du willst mir schmeicheln.“ Messner lachte laut. Seine Augen funkelten wie Sterne. „Nein, nein ... Schuster, bleib bei deinen Leisten. Frei nach Müntefering: Ich habe den schönsten Job neben Papst. Und vor allem: Dafür bin ich schon zu alt. In meinem nächsten Leben vielleicht. Aber: Danke für die Blumen.“

Herma van Dyck schaute zu Boden. Ihr war plötzlich peinlich, die Schmerztherapie hinterfragt zu haben. Doktor Messner hatte eine Kombinationstherapie entwickelt, die nach ihm benannt worden war. Er musste stolz darauf sein. Und nun kam sie daher und löcherte ihn mit blöden Fragen. Ihre Charmeoffensive war jedenfalls volles Mett in die Hose gegangen. „Du nimmst mir doch mein Verhör nicht übel, Ulli – oder? Ich bin halt neugierig, muss alles hinterfragen und wissen. Ist wohl eine Berufskrankheit.“ Doktor Messner winkte ab. „Nein, nein, schon gut. Ich mag es, wenn meine Patienten wissbegierig sind. Ich wollte nur, dass du weißt, dass das kein Schabernack ist. Aber es ist wie bei Medikamenten: Die richtige Dosis macht’s – und die Kombination aus verschiedenen Therapieformen.“

Doktor Messner sah auf seine Armbanduhr. „Tja, mien Deern. Kann ich sonst noch was für dich tun? Falls nicht, schnacken wir übermorgen weiter. Du hast ja selbst gesehen: Die Praxis ist proppenvoll.“

Herma hätte noch gern mit ihrem Arzt ein paar Minuten mehr geplaudert. Das bevorstehende Gespräch mit dem Polizeipsychologen schwebte wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf. Es schlug ihr auf den Magen. Sie musste mit Ulli darüber reden. Vielleicht konnte er ihr Tipps geben, wie sie sich bei Rixinger verhalten musste, damit der Psychologe sie für diensttauglich hielt. Aber Herma sah ein, dass Doktor Messner sich noch um andere Patienten kümmern musste. „Nee, alles gut so weit, Ulli. Ich danke dir, dass du dir so viel Zeit für mich genommen hast.“ Messner stand auf, reichte ihr seine Hand und zwinkerte ihr aufmunternd zu. „Bald bist du wieder ganz die Alte. Wirst schon sehen. Lass jetzt bloß nicht den Kopf hängen ...“

Herma musste schlucken. „Danke, Ulli – für deine lieben Worte“, sagte sie und nahm den Arzt in den Arm. Sie hatte Tränen in den Augen.

Januargier

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