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Kapitel 1

Er schaute auf die schwefelgelben Gummihandschuhe, in denen seine Hände steckten. Sie waren mit dem Blut der Toten in Kontakt gekommen und sahen nun seltsam marmoriert aus. Das Muster erinnerte ihn an den „Rausch in Rot“, den er sich vor ein paar Monaten für 140 Euro bei Palundu im Internet bestellt hatte. Das Acryl-Gemälde hatte ihm sofort gefallen. Es schmückte jetzt sein Arbeitszimmer. An den Namen des Künstlers konnte er sich nicht erinnern.

Von dem kleinen Finger seiner rechten Hand tropfte Blut auf das kleine Tischchen aus Edelstahl, das im Schein der Neon-Deckenlampen funkelte. Eigentlich war alles wie immer. Er hatte sich gerade die Leber der jungen Frau genauer angeschaut, das Organ vorsichtig abgetastet – und schließlich zum Messer gegriffen, es in daumendicke Scheiben geschnitten, um es mit seinen wachen Augen ausgiebig von innen zu betrachten. Um ihn herum herrschte Stille. Das war eher unüblich für diesen Ort – obwohl dort der Tod allgegenwärtig war. Aber heute war alles anders. Er beobachtete sich selbst, sah von oben auf sich herab, so als stünde er wie ein nektartrunkener Kolibri in der Luft. Das war definitiv nicht normal. Menschen, die klinisch tot waren und in diesen Momenten wohl an der Schwelle vom Diesseits ins Jenseits standen, schilderten nach einer erfolgreichen Reanimation so ihre Nahtoderfahrungen. Lag er im Sterben? Was passierte gerade? Er war irritiert. Seine grünen Augen zuckten wild hin und her, berührten dabei seine geschlossenen Augenlider. Irgendein Geräusch schreckte ihn aus dem Schlaf. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er schweißgebadet daheim in seinem Bett lag und nicht im Sektionssaal stand. Doktor Karl Mertens richtete sich auf, stützte seinen Oberkörper auf seinen Ellenbogen ab und schüttelte sich wie ein nasser Pudel, so als wolle er einen Albtraum fortschleudern. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet. Einige vereinten sich jetzt zu einem dicken Tropfen, der in Höhe seiner Stirnfalte auf seinen Nasenrücken lief und von der Spitze seines Riechorgans auf seine Brust tropfte. Durch das Fenster schien der Mond in sein Schlafzimmer. Das fahle Licht des Erdtrabanten ließ auf der weißen Schrankwand gruselige Schatten entstehen. Einer erinnerte ihn an die Abbildung eines fiesen Dämons. Aber das hier war nur das Schattenbild der Krusning-Hängelampe, die seine Frau Barbara im vergangenen Sommer bei Ikea gekauft hatte.

Mertens hatte schlecht geträumt. Von einer Leiche. Das war noch niemals zuvor geschehen. Er hatte in seinem Berufsleben schon mehr als 5000 Tote obduziert, sie mit scharfen Werkzeugen aufgeschnitten und deren Organe untersucht. Er schüttelte sich noch einmal, legte sich dann wieder auf den Rücken und dachte nach. Die Tote, von der er geträumt hatte, lag immer noch in einem Kühlfach des Instituts für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule, deren stellvertretender Leiter er war. Er hatte nicht herausfinden können, woran die junge Frau gestorben war, bei der Obduktion allerdings auch keine Spuren entdeckt, die auf Fremdverschulden hinwiesen. Vorerst gab es keine Anzeichen für Mord, Totschlag oder fahrlässige Tötung. Und dennoch hatte ihn diese Leiche bis in den Schlaf verfolgt. Das war neu für ihn – und wahrlich kein schönes Erlebnis. Jedenfalls beschloss der erfahrene Rechtsmediziner, sich den Leichnam ein zweites Mal anzuschauen. Er hatte in dieser Nacht das Gefühl, dass die Tote aus Kühlfach Nummer sechs ihm etwas sagen wollte. Wirst du jetzt auf deine alten Tage etwas crazy?, fragte er sich. Kurz bevor er wieder einschlief, kam ihm das lateinische Sprichwort „Mortui vivos docent“ in den Sinn. „Die Toten lehren die Lebenden“ – ja, so ist es, dachte er. Es war der Leitsatz aller Pathologen und Gerichtsmediziner.

Das erneute Krächzen des Fasans, das ihn wenige Minuten zuvor aus dem Tiefschlaf gerissen hatte, hörte Doktor Mertens schon nicht mehr.

Januargier

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