Читать книгу Januargier - Ulrich Behmann - Страница 15
ОглавлениеKapitel 9
Karl Mertens klopfte mit seinen Handflächen die Taschen seines giftgrünen Kittels ab. „Ja, wo ist denn ...? Wo habe ich jetzt wieder dieses Ding hingesteckt?“, fragte er sich leise. Der Rechtsmediziner stand mit dem Rücken zum Fenster. Hinter ihm huschten Gestalten vorbei. Durch das Milchglas, das die medizinischen Forensiker vor neugierigen Blicken schützte, waren nur unscharfe Schatten zu sehen. „Ah, da auf der Fensterbank liegt es ja“, sagte Mertens. Er klang erleichtert, als er abwechselnd in die Augen von Martin und von Schmidt schaute. „Neben unseren scharfen Instrumenten ist das hier“, Mertens hielt triumphierend ein altertümlich wirkendes Diktiergerät in die Höhe, „unser wichtigstes Arbeitsgerät“, sagte er lachend und drückte zweimal auf die Aufnahmetaste. Klack, klack. „Na, ist doch so, oder?“ Der Leitende Oberarzt breitete die Arme aus – er steckte in einem übergroßen Kittel und sah jetzt aus wie der Papst beim apostolischen Segen Urbi et Orbi. Assistenzarzt Martin stimmte der Feststellung seines Chefs zu. „Ja, ja, das ist wohl so. Wenn wir unsere Erkenntnisse, die wir während einer Obduktion gewinnen, auch noch am Tisch handschriftlich protokollieren müssten, dann hätten wir hier einen langen Leichenstau.“
Doktor Mertens rieb seine behandschuhten Hände aneinander, was ein quietschendes Geräusch verursachte. „So, dann wollen wir mal ...“
„Worauf soll ich genau achten?“, wollte Doktor Martin wissen.
„Lass uns bitte gemeinsam jeden Quadratmillimeter Haut absuchen, in jede Hautfalte und in jede noch so kleine Körperöffnung schauen. Du übernimmst die rechte Körperhälfte, ich die linke. Wir sollten uns auch die Augen dieser Frau ein zweites Mal vornehmen.
Fragestellung: Wie sehen die Pupillen, wie sehen die Augäpfel aus?“
Doktor Klaus Martin dämmerte es. Der Alte wollte einen Giftmord und Tod durch Erwürgen ausschließen. „Verstehe, Boss. Die Augäpfel habe ich allerdings gestern schon gecheckt. Keine Hinweise auf Einblutungen in den Bindehäuten und auf den Lidern. Diese Frau hier“, er zeigte auf die Leiche von Nadja Stern, „ist ganz sicher nicht erwürgt worden.“
Mit einer starken Lupe betrachtete Mertens gerade den linken Unterschenkel der Verstorbenen. Zwischen Poren und kleinen Härchen, braunen Leberflecken, winzigen roten Blutschwämmchen und ein paar kleinen Stilwarzen suchte er nach einer mikroskopisch kleinen Verletzung. Er schaute nur kurz zu seinem Assistenten auf und wies ihn an, auch auf der Mundschleimhaut nach Petechien zu suchen. Mertens spielte auf stecknadelkopfgroße Blutaustritte am Kopf an. Sie deuteten auf eine venöse Stauung bei einer Strangulation hin. Leistete ein Opfer heftige Gegenwehr, konnte es dazu kommen, dass zwar die Halsvenen, nicht aber die Schlagadern abgedrückt wurden. Die Folge war, dass feinste Äderchen platzten. Auf der Gesichtshaut waren sie leicht zu erkennen, im Mund und an den Augenlidern mussten Gerichtsmediziner schon genauer hinschauen.
„Hm ...“ Der stellvertretende Institutsleiter hielt kurz inne, bohrte den rechten Schneidezahn in seine Unterlippe. Das tat er immer, wenn er hoch konzentriert an einer Leiche arbeitete. Seine Kollegen bekamen davon nichts mit, denn Mertens trug bei Autopsien stets Mundschutz. Auf seiner hohen Stirn waren allerdings tiefe horizontale Falten zu sehen. „Das ist eine Sisyphusarbeit ...“ Doktor Klaus Martin, der gerade die Zehen des rechten Fußes der Toten mit Daumen und Zeigefinger auseinanderspreizte, stimmte ihm zu. „Ja, Karl, wir suchen nach der Nadel im Heuhaufen.“ Mit seinem Vergrößerungsglas untersuchte Mertens ein Hämangiom. Ihn interessierte, ob sich in den winzigen roten Pünktchen ein Loch befand. Mertens wurde nicht fündig. Anderthalb Stunden brachten sie mit der Suche nach einer Einstichstelle zu. Gemeinsam mit Schmidt, dem Sektions- und Präparationsassistenten, hatten sie die Leiche von Nadja Stern umgedreht und auch die Rückseite der Toten abgesucht – ohne Erfolg. Mertens und Martin waren gefrustet. „Tja ... Das war ein Satz mit x, das war wohl nix“, meinte Doktor Martin. Er klang schadenfroh, bekam wieder Oberwasser. „Ich hab’s dir ja gleich gesagt ...“
In Mertens arbeitete es. Ohne sich zuvor mit Martin abzustimmen, bat er den Präparator, einen Rasierer zu holen. Schmidt drehte sich um, zog eine Schublade auf und hielt eine Schermaschine, die aussah wie ein handelsüblicher Bartschneider, in der Hand. „Voilà!“, meldete er Vollzug. Der Sektionsassistent wollte mit einem Fremdwort glänzen. Mertens war davon nicht beeindruckt. Er war fest entschlossen, das Rätsel um den Tod von Nadja Stern zu lösen. „Herr Schmidt, bitte entfernen Sie das Kopf- und das Schamhaar. Aber ganz, ganz vorsichtig ... Sie dürfen unter gar keinen Umständen die Haut verletzen“, wies er den Sektionsassistenten an.
Doktor Martin verdrehte die Augen. „Du gibst wohl nie auf, oder?“
Mertens überhörte die Frage. Er ging strikt nach dem Ausschlussverfahren vor. „Lass uns das alles noch mal kurz gemeinsam durchgehen.“ Während Hermann Schmidt die Tote rasierte, hob Mertens seine rechte Hand, um die einzelnen Feststellungen mit Daumen und Fingern abzuzählen; in seiner linken hielt er das eingeschaltete Diktiergerät fest umklammert. Klack ... „Fassen wir zusammen. Keine Petechien. Ergo: Sie ist weder erstickt, erwürgt, erdrosselt oder stranguliert worden. Weite Pupillen? Fehlanzeige. Ergo: ABC, also Alkohol, Benzodiazepine, Barbiturate und Cocain, scheiden als Todesursache ebenfalls aus. Halten wir also fest: Keine Hinweise auf eine ABC-Vergiftung. Die Pupillen sind auch nicht eng. Ergo: Morphium, andere Opiate, Heroin oder Nikotin waren offenbar auch nicht im Spiel.“ Klaus Martin unterbrach seinen Chef: „Ähm ... Raucherin dürfte sie gewesen sein. Das sagt uns der Teer, den sie in ihren Lungen hat.“
Mertens grinste. „Ja, da hast du völlig recht, Klaus. Ich meine aber etwas anderes. Wir können davon ausgehen, dass sie nicht eine Zigarette gegessen oder einen Glimmstängel in Wasser aufgelöst und die Lösung getrunken hat. Beides wäre, wie du weißt, absolut tödlich.“
„Das wäre dann Suizid gewesen. Es könnte ihr natürlich auch jemand die Lösung gegen ihren Willen eingeflößt haben. Auch das ist möglich ...“, orakelte er. „Dann hätten wir aber Tabakreste oder braune Flüssigkeit in ihrem Magen finden müssen. Haben wir aber nicht.“
„Stimmt genau“, sagte Mertens und wischte sich mit dem Ärmel seines Kittels ein paar Schweißperlen von der Stirn. „Ihre letzte Mahlzeit bestand aus Pizza-Kräckern, Gouda-Würfeln und Rotwein. Mehr hatte sie nicht im Magen.“ Doktor Martin musterte die Tote. Er kam zu dem Schluss, dass Nadja Stern eine schöne Frau gewesen war. Ihr wachsbleiches Gesicht, ihre blau angelaufenen Lippen und ihre ausdruckslosen Augen konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Martin wurde vom Rattern der Schermaschine aus seinen Gedanken gerissen. Mertens hob den Ringfinger. „Viertens ... Als sie gestern auf unserem Tisch lag, hatte sie keinen Schaum vor dem Mund. Auch als wir fest auf ihren Brustkorb gedrückt haben, ist keine wässrige Flüssigkeit aus Mund oder Nase gelaufen. Ergo: Eine Überwässerung der Lunge, also: Auch ein Ödem können wir ausschließen. Wir hätten das ja auch sofort bemerkt, als wir ihre Lungenflügel aufgeschnitten und untersucht haben. Wir haben nichts Auffälliges gesehen – wenn man einmal von dem Zigaretten-Teer absieht, den sie sich im Laufe der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes reingezogen hat. Fünftens: Sie hat keine hellroten Totenflecke. Und nach Bittermandel riecht die Leiche auch nicht. Ergo: Kein Zyanid, kein Kohlendioxid, keine Anzeichen für einen Kältetod. Was haben wir noch?“
Martin räusperte sich: „Na ja, ihre Haut war nicht gelb, ihre Leber ohne Befund. Ein Leberzerfallskoma, zum Beispiel durch eine Pilzvergiftung, können wir auch ausschließen.“
„Sie hatte ja auch keine Reste einer Pilzmahlzeit in ihrem Magen“, gab Mertens zu bedenken. „Stimmt“, pflichtete ihm Martin bei. „Eine Vergiftung mit Arsen oder Thallium können wir auch ausschließen. Weder die Finger- noch die Zehennägel weisen Mees-Nagelbänder auf. Ergo: Keine mattgrauen Querstreifen – also kein Hinweis auf eine Intoxikation mit Halb- oder Schwermetallen. Um genau zu sein – zumindest können wir in diesem Fall diese beiden chemischen Elemente ausschließen. Hm ... Tja, bleibt eigentlich nur ihr Gehirn. Das ist auffallend klein.“ Doktor Mertens blickte auf eine weiße Tafel, auf der Organe aufgelistet waren. Dahinter hatte der Sektionshelfer nach dem Wiegen handschriftlich das Gewicht von Herz, Hirn, Lunge, Leber und Nieren vermerkt. „Stammen die Gewichtsangaben von unserer Leiche hier?“, wollte Mertens von Schmidt, der in der Zwischenzeit sämtliche Haare an der Leiche entfernt hatte und gerade Löcher in die Luft guckte, wissen. Der Präparator hatte offenbar nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Die Ärzte schienen mit sich selbst beschäftigt zu sein. „Äh ... Sorry, ich war gerade nicht auf Empfang. Welche Angaben meinen Sie genau?“ Der stellvertretende Institutsleiter rümpfte die Nase und verschränkte seine Arme vor der Brust. Er hasste es, wenn seine Mitarbeiter nicht bei der Sache waren. „Na, die Angaben, die dort hinter Ihnen auf der Tafel stehen ...“ Mertens zeigte auf die Tafel. Hermann Schmidt blickte sich verstohlen um. „Ach so, die meinen Sie. Ja, die sind noch von dieser Leiche.“
Mertens nahm die Werte ins Visier. „Tja, das ist wirklich seltsam. Ihr Gehirn wiegt nur 1150 Gramm. Normal wären 1300 Gramm, vielleicht auch etwas mehr. Jedenfalls so um den Dreh rum. Hm ... Trotzdem hatte Frau Stern eine Hirnschwellung, die aber nicht todesursächlich war. Sonderbar ...“
„Klarer Fall von Hirnatrophie“, meldete sich Doktor Martin zu Wort. „Ja, Gehirnschwund. Das ist schon klar. Der Mensch verliert ab dem 20. Lebensjahr etwa 50000 bis 100000 Hirnzellen täglich. Aber das erklärt nicht diese ausgeprägte Atrophie.“
„Sie war starke Raucherin“, warf Martin ein. „Das könnte davon kommen.“
Doktor Mertens rieb sich mit dem Ärmel des Kittels nachdenklich sein Kinn. „Dafür kann es viele Ursachen geben: Alzheimer, Demenz, Multiple Sklerose, Alkoholmissbrauch und haste nicht gesehen. Aber Frau Stern war erst 35. Was ich damit sagen will: Neurodegenerative Erkrankungen scheiden bei einer so jungen Frau eigentlich aus – und sie hatte auch keine Säuferleber.“
Präparator Schmidt mischte sich ein: „Ich will ja das Fachgespräch der Herren Doktoren nicht unterbrechen. Aber ich wäre dann so weit ...“
Die Rechtsmediziner schauten den Sektionsassistenten fragend an. „Na ja, ich sollte Kopf- und Schamhaare entfernen, und das habe ich getan ... Ich wollte’s ja nur sagen.“
Mertens und Martin mussten lachen. „Alles gut, wir gucken uns jetzt auch noch die freigelegte Haut an. Mehr können wir nicht tun“, sagte der stellvertretende Institutsleiter. Resignation schwang in seiner Stimme mit. „Venushügel oder Kopf – du hast die Wahl, Klaus“, sagte Mertens. „Dann nehme ich den Kopf“, antwortete Martin und schenkte ihm ein sanftes, schiefes Lächeln. „Ich habe nichts anderes erwartet“, zischte Mertens unter seinem Mundschutz. Wieder suchten die beiden Gerichtsmediziner jeden Quadratzentimeter Haut ab. Dort, wo Schmidt die Haare entfernt hatte, sah sie noch weißer aus als am übrigen Körper. Nadja Stern musste sich in den zurückliegenden Monaten irgendwo hüllenlos gesonnt haben. Doktor Martin hielt plötzlich inne und schnalzte mit der Zunge. „Karl, komm doch bitte mal her – und bring deine Lupe mit.“ Mertens, der gerade in gebückter Haltung den Schambereich der Toten inspizierte, richtete sich auf, drückte seine rechte zur Faust geballte Hand gegen seine Lendenwirbel und drehte sich zu seinem Assistenten um. Sein Rücken schmerzte. Kein Wunder: Er hatte sich heute ja auch schon über 21 Leichen gebeugt und einige Stunden in gebückter Haltung verbracht.
„Sag nicht, du bist auf was gestoßen?“, fragte Mertens erwartungsvoll. „Vielleicht ... Hier, guck mal ...“ Klaus Martin zeigte auf einen winzigen Punkt am Hinterkopf der Toten. „Das da könnte eine Einstichstelle sein, oder?“ Mertens schaute sich die Stelle durch sein Vergrößerungsglas an. „Hm ... Ja, in der Tat ... Das sieht wie eine Punktion aus. Könnte aber auch ein Insektenstich sein.“
Martin tat überrascht: „Im Januar? Nee, das halte ich für mehr als unwahrscheinlich.“ Doc Mertens war elektrisiert. In seinem Kopf tobte ein Gedankensturm. Was, wenn dieser Frau ein unbekanntes Gift injiziert worden war? War Nadja Stern getötet worden? Dann hatte der Mörder womöglich Insiderwissen, denn Kopf-, Achsel- und Schamhaare wurden den Toten bei Leichenschauen nur äußerst selten entfernt – es sei denn, die Körper wiesen an diesen Stellen äußere Verletzungen auf, die begutachtet und fotografisch dokumentiert werden mussten. Aber welches Gift hatte der Täter benutzt? Sie hatten bislang keine Hinweise auf eine Intoxikation gefunden. Doc Mertens schloss zwei Sekunden lang die Augen. Er musste sich kurz sammeln und eine Entscheidung fällen. „Wir müssen das Gewebe im Bereich der Einstichstelle toxikologisch untersuchen lassen. Daran geht kein Weg vorbei“, sagte er – und schaute seinen Assistenten an. Der nickte kaum merklich und signalisierte damit Zustimmung. „Klaus, schnapp dir bitte ein Skalpell und entferne damit großzügig das Gewebe rund um die Punktionsstelle – und zwar bis auf den Schädelknochen. Dann ab damit in ein Reagenzglas, aber kein Formalin benutzen!“ Im Weggehen streifte Doktor Mertens zunächst seine schwefelgelben Latex-Handschuhe ab und entsorgte sie in einem Abfalleimer für Biomüll. Dann riss er sich den Mundschutz runter und zerknüllte ihn in seiner Hand. „Ich rufe gleich mal die Kripo an und besorge uns die Genehmigung, eine toxikologische Untersuchung zu veranlassen.“ Der Leitende Oberarzt machte große Schritte. Er hatte es eilig – seine glatten Ledersohlen verursachten auf dem Mosaikfußboden hämmernde Geräusche. Als er zur Tür hinausging, um von seinem Arbeitszimmer aus seinen alten Bekannten Kurt Brenner anzurufen, schaute er auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor halb elf. Mertens hoffte, dass er den Ersten Kriminalhauptkommissar gleich ans Telefon bekam. Er hoffte, dass er nicht zu irgendeinem Tatort gerufen worden war und sein Handy ausgeschaltet hatte.
Mertens war ein ungeduldiger Mensch. Er hätte die Laboruntersuchungen gern sofort in Auftrag gegeben. Aber dafür brauchte er grünes Licht von den Ermittlungsbehörden. Es ging – wie immer – ums liebe Geld. Der Staat musste weitergehende Nachforschungen bezahlen. Insgeheim hoffte der Gerichtsmediziner, dass Brenner die Entscheidung auf seine Kappe nehmen und nicht – wie eigentlich vorgeschrieben – zunächst einmal Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft Hannover halten würde. Kurt Brenner leitete das für Mord und Totschlag zuständige 1. Fachkommissariat des Zentralen Kriminaldienstes in Hameln.