Читать книгу Januargier - Ulrich Behmann - Страница 16
ОглавлениеKapitel 10
Der Morgennebel hatte sich gelichtet, die Sonne Oberhand gewonnen. Das ungleiche Pärchen hatte das Wiener Café gemeinsam verlassen und schlenderte nun die Osterstraße entlang. Erika Modder und Peter Petrov gingen vorbei am Hochzeitshaus und bogen am Bäckerscharren, der sich im Erdgeschoss eines jahrhundertealten Fachwerkhauses befand, nach links in die Bäckerstraße ein. Modder blieb plötzlich zum Erstaunen von Petrov stehen – sie drehte sich um, rückte mit dem krummen Zeigefinger ihrer rechten Hand die Nana-Mouskouri-Brille auf ihrer Nase zurecht und zeigte wie ein kleines Kind, das sich in der Schule zu Wort melden wollte, auf die Marktkirche, auf deren mit Grünspan überzogener Turmspitze aus Kupfer ein goldfarbenes Schiff in der Sonne glitzerte.
„Schau mal, da bin ich getauft und konfirmiert worden, da habe ich geheiratet, da bin ich Mitglied im Kirchenvorstand, da hat der Gedenkgottesdienst für meinen lieben Otto stattgefunden“, sagte sie und wischte sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel. „Eine sehr schöne Kirche“, sagte Peter Petrov und heuchelte Bewunderung vor. „Aber, sag mal ... Warum hat diese Kirche denn da oben ein Segelschiff, wo andere einen Wetterhahn haben?“, wollte er wissen. „Wir sind doch hier nicht am Meer ...“, schob er hinterher.
Erikas traurige Miene erhellte sich. Sie freute sich, dass sich Peter für die Kirchengeschichte zu interessieren schien. „Aber an einem Fluss ...“, sagte sie und lächelte milde. „Du musst wissen: Auf der Weser war früher ganz schön viel los. Guck dich doch mal um ...“, sie zeigte auf die Häuser rechts und links von ihr. „Siehst du die vielen Holzbalken, aus denen die ganzen Fachwerkhäuser errichtet wurden, und die schweren Sandstein-Quader, mit denen das Hochzeitshaus gebaut wurde? Die sind damals alle mit Schiffen nach Hameln gebracht worden. Du musst wissen, die Sankt-Nicolai-Kirche wurde im 13. Jahrhundert errichtet. Sie ist die zweitälteste in Hameln. Der Name, also Nicolai, kommt von dem heiligen Nikolaus ...“ Sie hielt kurz inne, versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, ob er ihr folgen konnte. „Du kennst doch bestimmt den Bischof aus Myra aus dem 4. Jahrhundert, oder? Im Mittelalter war dieser Mann sehr populär und eben auch der Schutzheilige der Schifffahrt. Und da schließt sich der Kreis.“
„Hm ... Verstehe“, Petrov rieb sich das Kinn und tat so, als würde er angestrengt nachdenken. „Du meinst, das vergoldete Wetterschiff auf der Kirchturmspitze symbolisiert die Hochzeit der Weserschifffahrt ...“ Was Peter Petrov wirklich dachte, behielt er lieber für sich. Erika Modder nickte eifrig. Ihre schwarze Brille hüpfte auf ihrem Nasenrücken auf und ab. „Ja, genau.“
Blöde Kuh, dachte Petrov und entfernte sich ein paar Schritte von der Frau, die er so schnell wie möglich töten und berauben wollte. Hauptsache, die Alte kommt jetzt nicht auf die Idee, mir die Kirche von innen zu zeigen. Während Erika Modder verzückt vor dem Gotteshaus stand und den Tauben zusah, die sich auf dem Pferdemarkt niederließen, um Brotkrumen aufzupicken, die ein alter Mann mit Gehstock ausgestreut hatte, trat Petrov nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hatte seine Hände tief in den Taschen seiner Blue Jeans vergraben und den Kragen seiner braunen Lederjacke hochgeschlagen. Ihm war kalt. Vielleicht konnte er es aber auch nur nicht erwarten, die Villa der blauäugigen Unternehmerwitwe zu betreten. Sicher brannte dort ein Kamin, hatte Erika einen alten Cognac oder einen teuren Whisky im Schrank. Er würde die einsame Dame nach allen Regeln der Kunst umgarnen und wie eine Spinne einwickeln. Sie war ihm ins Netz gegangen, schon bald war die Zeit gekommen für den tödlichen Stich. Aber noch muss ich das dumme Gequatsche der Alten ertragen, dachte er. Er fror. „Komm, lass uns gehen“, forderte er sie auf. „Der Wind ist eisig. Nicht, dass wir uns hier noch einen wegholen.“
Erika Modder hätte ihrem Verehrer gern noch die Kirche von innen gezeigt. Aber sie wusste, dass es in dem uralten Gemäuer äußerst fußkalt sein würde. Sie ging lächelnd auf Peter Petrov zu und hakte ihn unter. „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich bei dir einhake, oder?“, fragte sie ihn – und es hatte den Anschein, als himmele sie ihn an. „Ich meine nur ... Wir kennen uns ja eigentlich gar nicht.“ Petrov zog sie näher zu sich heran. „Aber nein ... Ganz im Gegenteil. Es ist mir eine Freude, mit einer so klugen und attraktiven Frau spazieren zu gehen.“ Erika Modder strahlte und lief rot an. Sie schien in diesem Moment von Amors Pfeil getroffen zu sein, fühlte sich seit vielen Jahren erstmals wieder geliebt und respektiert – und das von einem viel jüngeren Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte. War das Liebe auf den ersten Blick? Oder wurde sie heimlich gefilmt und sah sich in ein paar Wochen in der Sendung „Verstehen Sie Spaß“ wieder? Nein, dachte Modder, die sehr gläubig war, diesen geheimnisvollen Fremden hat mir der liebe Gott gesandt. Er will, dass ich noch einmal glücklich werde. Die Witwe hatte plötzlich Schmetterlinge im Bauch. Ein Cocktail aus Hormonen rauschte durch die Blutbahn und vernebelte ihr regelrecht die Sinne. Ihr Körper schüttete in diesem Moment jede Menge Hormone aus. Dopamin ließ sie auf Wolke sieben schweben, Adrenalin und Cortisol machten sie impulsiv und noch viel aktiver, als sie ohnehin schon war – die Hormone spielten verrückt, ließen ihr Herz schneller schlagen und schalteten ihren Verstand aus. Erika Modder war in einem Erregungszustand, sie hatte das Gefühl, auf Droge zu sein.
Zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes Otto hatte sie sich dazu entschlossen, nicht länger allein zu bleiben und noch einmal einen Partner fürs Leben zu finden. Sie hatte sich vor zwei Wochen dazu durchgerungen, in der Wochenendausgabe der Deister- und Weserzeitung eine Kontaktanzeige zu schalten – und hatte unter Chiffre Zuschriften erhalten. Dass sie von dem Mann, der ihr geschrieben und sich als Apollo vorgestellt hatte, versetzt worden war und ein teuflischer Don Juan in die Rolle des schüchternen Liebesbriefschreibers geschlüpft war, ahnte sie nicht. Wie sollte sie auch? Es war eingetreten, wovon sie nie zu träumen gewagt hätte – ein gut aussehender Mann flirtete mit ihr. Wie alt er war, wusste sie nicht. Sie hatte sich nicht getraut, ihn danach zu fragen, um das erste Gespräch nicht auf das Thema Altersunterschied zu lenken.
Erika Modder war eigentlich ein Vernunftmensch, eine, der man so leicht kein X für ein U vormachen konnte, eine, die sich nicht von ihren Gefühlen leiten ließ. Aber in diesem Moment wurde sie – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – von ihren Gefühlen beherrscht. Sie wunderte sich über sich selbst. Wie ein Teenager hatte sie sich Hals über Kopf verknallt in diesen Typen. Erika legte ihren Kopf auf seine Schulter – und sie setzten ihren Weg durch die Altstadt in Richtung Münsterkirchhof fort. Modder war Historikerin, hatte als Professorin an der Universität Potsdam Geschichte des Altertums gelehrt. Ihr kam Platon in den Sinn. Der berühmte griechische Philosoph hatte gesagt: „Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit.“ Und das stimmte wohl auch – irgendwie zumindest. Wie bei frisch verliebten Menschen üblich, benahm sich nun auch Erika Modder sonderbar – sie war nur auf das Objekt ihrer Liebe fixiert, sie wollte nur noch mit Peter Petrov den Rest des Tages verbringen und hoffte darauf, dass er bei ihr über Nacht bleiben würde. Ach, wie vermessen ist das denn, dachte sie. Ich darf jetzt nichts überstürzen, ihn nicht unter Druck setzen, sonst wird er sich von mir abwenden. In seiner Nähe fühlte sie sich wohl und geborgen. Ich will ihn nicht verlieren.
Auch Peter Petrov dachte nach – seine Schläfen bewegten sich auf und ab. In ihm arbeitete es. Wie sollte er es anstellen, dass sie ihn zu sich nach Hause einlud? Am besten heute noch ... Sie durfte ihm nicht von der Fahne gehen. Er hatte einen dicken Fisch am Haken und musste ihn nur noch an Land ziehen. Aus den Augenwinkeln sah er sie angewidert an. Er hätte ihr Sohn sein können, war locker zwanzig Jahre jünger als sie. Was bildet sich diese alte Schachtel bloß ein?, fragte er sich. Glaubt die allen Ernstes, dass ich mich in sie verliebt habe? Er sog verächtlich scharf Luft durch die Nase ein. „Hast du dich erkältet?“, wollte Erika wissen. „Nein, nein ... Alles gut“, beeilte er sich zu sagen. „Aber ein bisschen kalt ist mir schon. Dir etwa nicht?“
Sie zwinkerte ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln. „In deiner Nähe nicht ... Aber wir könnten zu mir fahren. Ich mache uns einen schönen Grog oder einen Pharisäer. Der wärmt uns von innen. Was meinst du?“ Petrov konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen – er hatte sein Ziel erreicht. „Au ja! ... Das wäre jetzt genau das Richtige. Ein Pharisäer, der täte uns gut.“
Erika Modder freute sich, dass es Peter Petrov nicht sofort abgelehnt hatte, mit zu ihr zu kommen. Sie würde ihm den besten Pharisäer zubereiten, den er jemals getrunken hatte – aus frisch aufgebrühtem Kaffee, zwei, drei Stückchen Zucker, einem ordentlichen Schuss Übersee-Rum und einer Portion Schlagsahne. Früher, als Otto noch lebte, hatten sie oft Urlaub in Kampen auf Sylt gemacht und das heiße Nationalgetränk der Insulaner im berühmten Sandy-Beach-Club durch eine kühle Sahnehaube geschlürft. Wie schön, dass auch Peter diese Kaffeespezialität mochte. Seit Ottos Tod hatte sie keinen Pharisäer mehr getrunken. Heute freute sie sich darauf.
Peter Petrov hatte keine Ahnung, von welchem Getränk Erika Modder sprach. Er tat nur so, um sie bei Laune zu halten. „Sag mal, äh, was machst du eigentlich in diesen Pharisäer rein? Rum oder Whisky?“ Die verliebte Witwe blieb stehen und sah ihn fragend an. „Wieso jetzt Whisky? Du meinst wohl Rüdesheimer Kaffee, oder?“ Petrov fühlte sich ertappt, er sah ein, dass sein Bluff aufgeflogen war, zog die Notbremse. „Ach ja ... Entschuldige bitte ... Ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht so gut aus. Ich trinke nur sehr wenig Alkohol, weißt du, ich bin schnell beschwipst“, sagte er.
Erika lachte herzlich. „Ein Mann, der nicht trinkt und an Kultur interessiert ist ... Na, das lob ich mir. So einen Kerl wünscht sich jede Frau.“
Sie schwiegen einen Moment lang. Dann kam bei
Erika Modder die Professorin durch. „Weißt du, wie der Name Pharisäer entstanden sein soll – ich meine, für das Getränk?“ Petrov schüttelte wortlos den Kopf. „Also, die Geschichte geht so: Auf einer Hallig soll es einmal einen Pastor gegeben haben. Es heißt, der Geistliche habe seiner Kirchengemeinde verboten, Alkohol zu trinken. Die Leute taten so, als würden sie sich daran halten. In Wirklichkeit haben sie sich aber Rum in den Kaffee gegossen. Als der Pfarrer einmal versehentlich seine Tasse verwechselte, wurde ihm klar, dass die Leute ihn getäuscht hatten. Erbost soll er gerufen haben: ,Ihr Pharisäer!‘ Tja, und so ist der Kaffee zu seinem ungewöhnlichen Namen gekommen.“
„Ja, ja ... Ich habe davon gehört“, log Petrov.
„Du wirst sehen: Mein Pharisäer ist genauso gut wie der im Sandy-Beach-Club. Warte es ab. Du wirst begeistert sein.“ Sie tätschelte seine Wange, legte wieder ihren Kopf auf seine Schulter, als sie am Ende des Kopmanshofs die Treppe zum Europaplatz hinabstiegen. Erika Modder hatte ihr rotes Mercedes-Cabriolet in der Tiefgarage, die sich unterhalb der Rattenfängerhalle befand, abgestellt. „Apropos Pharisäer ... Mein verstorbener Mann hat immer gesagt: Das ist ein Kaffee, an dem man seine Hände, sein Herz und seine Seele wärmt. Ach ja, der Otto ... Gott hab ihn selig.“
Ein paar Minuten später steckte Erika Modder den Parkschein in den Schlitz des Automaten und bezahlte mit einem Zehn-Euro-Schein. Das ungleiche Paar steuerte kurz darauf auf Erikas Mercedes-Benz 190 SL Cabrio, Baujahr 1963, zu. „Oh, mein Gott, was für ein wunderschönes Auto“, sagte Peter Petrov begeistert. „Wow. Gefällt mir. Super gepflegt. Sieht ja aus wie neu ...“
Erika Modder schloss die Fahrertür auf, setzte sich hinter das Steuer, beugte sich über die Mittelkonsole und den schwarzen Ledersitz, um per Hand die Beifahrertür zu öffnen. „Ja, das ist ein Schätzchen. Der Wagen war der ganze Stolz von meinem Otto. Da hängen viele Erinnerungen dran ...“ Die Professorin steckte den Schlüssel ins Schloss und startete die 1,9-Liter-Maschine. Der 105 PS starke Motor des 57 Jahre alten Sportwagens surrte leise wie eine Nähmaschine. Erika Modder war in diesem Moment sehr glücklich, sie ahnte nicht, dass sie in vier Stunden tot sein würde.