Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 46
12 Chiesa di San Zulian, Venedig
ОглавлениеIn der mondlosen, stockfinsteren Nacht konnte man nicht einmal die Hand vor Augen erkennen. Es war weit nach Mitternacht, und das bunte Treiben in der Stadt im Meer schien erloschen, wie die Laternen in den engen Gassen rund um den Campo San Zulian. Dort, wo sich tagsüber die Ströme der Touristen durch die engen Gassen schlängelten, herrschte Stille. Nur ab und zu bellte irgendwo in der Lagunenstadt ein Hund.
Leise tastete er sich voran. Immer darauf bedacht, keinen Lärm zu verursachen. Die Leiter hatte er von einer nahen Baustelle mitgenommen. Sie war leicht, wenngleich mit ihren drei Metern nicht leicht zu transportieren. Ständig musste er auf der Hut sein, um in der Dunkelheit nirgends anzuecken. Doch er gab sich Mühe und schaffte es ohne den geringsten Laut bis zum Nebeneingang der Kirche. In seinem schwarzen Overall, der schwarzen Strickmütze und dem geschwärzten Gesicht wirkte er wie ein unsichtbarer Schatten, als er sich gegen die hölzerne Tür des Seiteneingangs lehnte. In seinem Rucksack trug er alles mit sich, was er für diesen nächtlichen Ausflug brauchte. Kurz flammte der Strahl einer Taschenlampe auf. Er schob den Schlüssel in das Schloss und atmete auf, als er ihn nach rechts drehte und ein kurzes metallenes Knacken zu hören war. Einen Augenblick hielt er inne und lauschte in die Schwärze, dann schob er die Tür weit auf und bugsierte die Leiter ins Innere. Die Taschenlampe flammte erneut auf. Durch die kleine Sakristei gelangte er in den Hauptraum, wo er sich zielstrebig dem Altarplatz zuwandte und die Leiter vor der Wand platzierte. Vorsichtig klappte er sie aus, dann überprüfte er, ob sie auch fest stand, bevor er im Schein der Lampe im Rucksack kramte. Die Taschenlampe war kaum größer als ein Bleistift, doch ihr konzentrierter Strahl tauchte das Innere des Rucksacks in gleißende Helligkeit. Er griff nach dem dunklen Etui und steckte es in die Innentasche seines Overalls. In einem weiteren Kästchen befanden sich sechs Fläschchen mit Flüssigkeit, Chemikalien, die im Kontakt mit gewissen Substanzen reagierten und sich entsprechend verfärbten. Nachdem er alles in seinem Overall verstaut hatte, kletterte er die Sprossen hinauf. Auch hierbei vermied er unnötigen Lärm, obwohl jeder Tritt auf den metallenen Streben im Kirchengewölbe widerhallte.
Oben angekommen, die Taschenlampe zwischen den Zähnen, zog er vorsichtig ein Skalpell aus seiner Tasche. In den hautengen Latexhandschuhen wirkten seine Hände blass und leblos. Sich mit den Beinen abstützend, hob er ein speziell gefaltetes Papier gegen die Wand. Behutsam schabte er mit dem Skalpell über wechselnde Stellen der Wand, auch des Altarbilds. Niemand würde hinterher sein Tun bemerken, es sei denn, der Betrachter kannte sich in der Analyse von Oberflächenmaterial aus und suchte die Wand nach den feinen Radierungen ab, die er hinterließ. Insgesamt zehn kleine Kuverts füllte er so mit Staub. Bevor er sich anschickte, die Leiter wieder hinabzusteigen, suchte er im Strahl der Taschenlampe die Fugen ab, die sich zwischen dem Altarbild und dem aufgesetzten Rundbogen gebildet hatten. Zufrieden nickte er. Es war so, wie er es sich gedacht hatte. Der Rundbogen über dem Bild, für den oberflächlichen Betrachter aus Marmor geformt, bestand unter einer knapp zwei Zentimeter starken Marmorbeschichtung aus Gips. Und senkrecht über dem Gesicht der Maria befand sich eben an diesem Übergang ein dunkler Fleck. Er steckte das Skalpell zurück in die Scheide und holte das Kästchen mit den Fläschchen heraus. Dann benetzte er einen Wattebausch mit einer weißen Flüssigkeit und fuhr damit über den dunklen Fleck. Den Wattebausch teilte er in sechs Teile und gab je ein Stück in die sechs Fläschchen, die er anschließend in ein Futteral steckte. Schließlich stieg er die Leiter hinab. Unten angekommen, legte er seine Utensilien auf dem Boden ab und klappte die Leiter wieder ein. Er schaute auf seine Armbanduhr. Sie zeigte drei Minuten vor vier. Zeit, von hier zu verschwinden, dachte er, gleichwohl ließ ihn seine Neugier nicht los. Er wollte wissen, ob seine Vermutung stimmte, und zog die Fläschchen noch einmal aus dem Futteral. Mit seiner Lampe prüfte er sorgfältig jedes einzelne der sechs gläsernen Behältnisse. Und tatsächlich, Nummer zwei und drei hatten sich verfärbt: Die klare Flüssigkeit von Nummer zwei hatte sich in eine dunkle Brühe verwandelt, und Nummer drei erstrahlte in leuchtendem Lila. Zufrieden atmete er ein, ehe ihn ein leises Geräusch zusammenfahren ließ. Er duckte sich, als auch schon der Schein einer Taschenlampe aufflammte und ihn erfasste.
»Polizia!«, hallte es durch die Kirche. »Stia fermo!«
Leon fuhr zusammen. Vor Schreck ließ er das Etui mit den Fläschchen zu Boden fallen.
»E arrestato!«, erklang die Stimme erneut.
Sein Herz raste, und er riss die Arme in die Höhe. Die Worte blieben ihm im Hals stecken.