Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 47
Baltimore, Maryland
ОглавлениеEigentlich hatte sie vorgehabt, nur über das Wochenende in Baltimore zu bleiben, doch Peggy hatte ihr einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Suzannah Shane hätte es wissen müssen. Und so wurde aus dem geplanten Wochenende eine ganze Woche. Insgeheim genoss sie die Zeit in ihrem Elternhaus, mit ihrer Schwester Peggy und deren süßen Kindern Sarah und Tom, und, ja, sogar mit ihrer Mutter. Obwohl es bisher noch zu keiner Aussprache zwischen Mutter und Tochter gekommen war. Vor allem der kleine Tom, gerade sechs Jahre alt geworden, hatte einen Narren an seiner Tante gefressen und ließ keinen Augenblick verstreichen, ohne in ihrer Nähe zu sein. Anstrengend war es mit den Kindern schon, doch Suzannah musste sich eingestehen, dass am Ende die Freude überwog. In ihrer Gegenwart schien der unterdrückte Mutterinstinkt zu erwachen, der tief in ihr schlummerte, obwohl Kinder bislang nie ein Thema für sie gewesen waren. Als Kind hatte sie wie die meisten anderen Mädchen mit Puppen gespielt, und als Teenager hatte sie sich ein Leben als Ehefrau und Mutter vorgestellt. Ein schönes Haus, einen fürsorglichen Mann und zwei süße Kinder. Über die Jahre hatte sie diese Vorstellung verdrängt. So, wie sie vieles in ihrem Leben verdrängt hatte. Sie wusste, warum sie immer wieder eine Krise durchlitt, sie kannte die Symptome und Folgen der Verdrängung, schließlich war Psychologie eines ihrer Studienfächer gewesen. Eine Zeit lang hatte sie sogar als Psychologin praktiziert, bevor es sie in die Forschung zog. Doch sich selbst zu helfen, das vermochte sie nicht.
Seit drei Tagen waren Suzannahs Schlafstörungen wie weggeblasen, sie schlief wie ein Murmeltier. Auch an diesem Morgen hatte Peggy sie wecken müssen, damit sie es noch rechtzeitig vor Mittag hinaus auf den Baltimore Cemetery East schafften. Seit einem halben Jahr war Suzannah nicht mehr am Grab ihres Vaters gewesen. John William Shane war vor vier Jahren an den Folgen eines Herzanfalls gestorben. Suzannah hatte Tränen in den Augen, als sie vor dem Grabstein aus weißem Marmor stand. Sie hatte ihren Vater sehr geliebt.
»Ich habe ganz vergessen, welche Farbe seine Augen hatten«, sagte Suzannah und legte den Strauß weißer Nelken auf das Grab.
»Ich vermisse ihn ebenfalls«, antwortete Peggy. »Es ist nicht gerecht. Er war im besten Alter. Er hätte noch nicht sterben dürfen.«
Suzannah legte ihrer Schwester den Arm um die Schultern. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.
Peggy atmete tief ein, dann richtete sie sich auf. »Wie geht es dir wirklich?«, fragte sie.
Suzannah seufzte. »Wenn ich arbeite, dann habe ich keine Zeit, darüber nachzudenken. Nur abends manchmal oder an gewissen Wochenenden fühle ich mich echt beschissen. Manchmal beneide ich dich.«
Peggy streichelte über Suzannahs Arm. »Es ist schon komisch. Du hast einen tollen Job, bist gebildet, verdienst gut, fährst einen teuren Sportwagen und scheinst trotzdem nicht glücklich zu sein mit deinem Leben. Ich stehe zu Hause am Herd, kümmere mich um die Kinder und den Haushalt und warte darauf, dass Robert abends nach Hause kommt. Manchmal beneide ich dich um deine Freiheit und würde gern mit dir tauschen. Aber nur manchmal.«
»Man vermisst immer das am meisten, was man nicht mehr besitzt«, antwortete Suzannah.
Peggy ahnte, was sie damit sagen wollte. Sie sah ihre Schwester von der Seite an. »Hast du eigentlich je wieder etwas von ihm gehört?«
»Von Andrew?«
»Nein, ich meine nicht Andrew. Er war nur ein kleines Kapitel in deinem Leben. Ich meine ihn, den Kerl, der dich nicht loslässt und den du offensichtlich nicht vergessen kannst.«
Suzannah schüttelte den Kopf. »Nichts. Nur, dass er noch immer als Journalist für irgend so ein Okkultismus-Blättchen unterwegs ist.«
»Es tut mir leid, ich weiß, wie du dich fühlst.«
»Tust du das wirklich?«
»Ich bin deine große Schwester«, sagte Peggy. »Lass uns in die Stadt fahren. Wir shoppen ein bisschen und setzen uns in ein Straßencafé. Und rede mit Mutter, sie hat dein Schweigen nicht verdient.«
»Du weißt von dem Streit, hat sie mit dir darüber geredet?«
»Sie leidet sehr darunter. Ich weiß doch, wie stolz sie auf dich ist.«