Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 54
Polizeigebäude Santa Chiara, Venedig
ОглавлениеNach einer schlaflosen Nacht lag Brian auf der Pritsche seiner Zelle und blickte an die schmuddelige Decke. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und überlegte, wie er ungeschoren aus dieser Situation kommen könnte. Er hatte von Anfang an geahnt, dass es mit Leon Schwierigkeiten geben würde, doch nie im Traum hätte er daran gedacht, für ein Mitglied einer vermeintlichen Bande von Kunstdieben gehalten zu werden und in einem italienischen Gefängnis zu enden. Was konnte er noch tun? Der Kommissar schien seiner Geschichte keinen Glauben zu schenken. Brian hatte seinen Anruf getätigt, nun blieb ihm nichts weiter, als darauf zu vertrauen, dass Porky alle Hebel in Bewegung setzte, um ihn, Gina und Leon freizubekommen. Die Luft im Inneren der engen Zelle war feucht und stickig. Es mochten hier gut dreißig Grad herrschen. In Kanada wurden selbst Mörder komfortabler behandelt als er hier im altehrwürdigen Europa. In dieser Zelle fühlte er sich lebendig begraben. Sollte er weich gekocht werden, bis er schließlich doch noch einräumte, ein Krimineller zu sein?
Brian horchte auf, als er dumpfe Schritte vernahm und kurz darauf ein Schlüssel in das Schloss der schweren Stahltür gesteckt wurde. Er richtete sich auf. Die Tür wurde aufgestoßen, ein uniformierter Beamter trat in den Türspalt und forderte ihn mit einer Geste auf mitzukommen. Brian fiel ein Stein vom Herzen.
Als er in den langen Gang trat, wurde Leon von zwei Beamten vorbeigeführt.
»Leon!«, rief Brian.
Leon wandte sich um. Ein Grinsen lief über sein Gesicht. »Hallo, Chef! Scheißsituation, was? Und der Zimmerservice lässt auch zu wünschen übrig.«
»Hatte ich nicht gesagt: keine Alleingänge!«, erwiderte Brian ärgerlich, dem nicht nach Scherzen zumute war.
Die Beamten zogen Leon in eine Zelle, doch der sträubte sich. »Es hat sich zumindest gelohnt!«, rief er über die Schulter zurück. »Eisenpartikel und Sauerstoff, rostiges Wasser, verstehst du. Wir sind verarscht worden!«
Brian wurde von dem Beamten an den Händen gepackt. »Silenzio!«, herrschte ihn der Uniformierte an. Doch auch Brian setzte sich zur Wehr und zog die Hände zurück.
»Woher kommt es?«, rief Brian, ehe Leon in die Zelle gezerrt wurde.
Geräuschvoll krachte Leons Zellentür ins Schloss. Dennoch war seine Antwort unüberhörbar. Der Polizist drückte Brian gegen die Wand und schlug ihm mit einem Schlagstock in den Rücken.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht streckte Brian die Hände gegen die Wand.
»Aufhören!«, rief er dem Beamten zu. Ein zweiter Polizist sprang hinzu. Die beiden rissen Brian die Arme auf den Rücken, und schon klickten die Handschellen und schnitten ihm schmerzhaft in die Handgelenke. Brian sank zu Boden. Ein Fluch kam über seine Lippen. Doch schon zogen ihn die Polizisten wieder hoch und zerrten ihn mit. Wortlos drängten sie ihn durch den Flur und führten ihn die Treppen hinauf. In einem kleinen, spärlich eingerichteten Zimmer setzten sie ihn auf einen Stuhl und postierten sich zu beiden Seiten neben ihn.
Mehrere Minuten vergingen, ehe der Kommissar erschien. Er warf Brian einen fragenden Blick zu.
Brian drehte sich ein wenig zur Seite und präsentierte die Handschellen um seine Gelenke. »Sagten Sie nicht, Italien sei ein Rechtsstaat? Stattdessen werden die Gefangenen mit Brutalität und Willkür behandelt.«
Der Kommissar wandte sich an einen der Beamten. Der Uniformierte erklärte, dass Brian sich widersetzt habe und deswegen gefesselt worden sei.
»Das ist Quatsch. Ich wollte mich nur mit meinem Komplizen unterhalten, damit wir unsere Aussagen abstimmen«, sagte Brian sarkastisch. »Ist das etwa auch ein Verbrechen?«
Brian zog das Wort Komplize in die Länge, sodass der Kommissar schmunzeln musste. Er befahl den Polizisten, die Handschellen abzunehmen, und setzte sich auf den freien Stuhl. Brian rieb sich erleichtert die schmerzhaften Druckstellen.
»Manchmal sind meine Kollegen etwas zu eifrig«, entschuldigte sich der Kommissar. »Aber ich gab Anweisung, dass sich die Gefangenen nicht unterhalten dürfen. Vor allem, weil noch immer Verdunklungsgefahr besteht. Meine Leute glaubten, dass Sie sich befreien wollten.«
»Blödsinn«, antwortete Brian. »Sie glauben wohl noch immer, dass wir eine Bande von Kunstdieben sind. Aber wenn Sie gründlich ermitteln würden, dann …«
»Was ich glaube, spielt keine Rolle«, fiel ihm der Kommissar ins Wort. »Ich sagte schon, ich traue Ihnen und Ihren Freunden nicht. Für mich ist das alles nichts weiter als eine billige Ausrede.«
Brian richtete sich auf, und schon legte ihm einer der Polizisten die Hand auf die Schulter. Doch der Kommissar hob beschwichtigend die Hand.
»Es ist keine Ausrede!«, erwiderte Brian. »Sie haben doch mit meiner Redaktion gesprochen und mit Sicherheit auch unsere Personalien überprüft. Und wenn Sie inzwischen mit Pater Francesco geredet hätten, dann wüssten Sie, wovon ich rede.«
Der Kommissar lächelte. »Hier ist jemand, der Sie sprechen will.«
Die Tür wurde geöffnet, und Pater Francesco stand davor.
Brian schaute den Geistlichen mit großen Augen an. »Pater Francesco! Sie müssen dem Kommissar erklären, weswegen ich bei Ihnen war«, platzte er heraus.
Der Kommissar erhob sich und ging zur Tür. »Sie haben eine halbe Stunde, Padre«, sagte er im Vorübergehen.
Der Pater nickte. »Unter vier Augen, sagte ich.« Padre Francesco wies auf die beiden Polizisten.
Brian beobachtete die Szene gespannt. Kurz darauf hatten der Kommissar und die beiden Polizeibeamten den Raum verlassen.
Pater Francesco setzte sich auf den Stuhl und faltete die Hände vor seinem runden Bauch. »In einen schönen Schlamassel sind Sie da geraten«, sagte der Pater freundlich.
Brian lächelte. »Da sind wir aber nicht ganz allein dran schuld. Wenn Sie uns erlaubt hätten, Nachforschungen anzustellen, dann wäre diese Nacht-und-Nebel-Aktion gar nicht notwendig gewesen.«
»Ich erklärte Ihnen, dass es kirchliche Vorschriften gibt …«
Brian hob die Hände. »Lassen Sie mich kurz erzählen, was wir herausgefunden haben. Die Kirche muss renoviert werden, aber es ist kein Geld vorhanden, und Ihre kirchliche Finanzabteilung denkt gar nicht daran, der kleinen Gemeinde unter die Arme zu greifen. Die Enkel des Küsters – ihrem Großvater treu ergeben – plappern alles nach, was sich der Alte ausdenkt. Irgendwann beginnt jeder Nagel zu rosten. Und die Feuchtigkeit in dem alten Kirchenbau tut das Übrige. Das alles zusammen ergibt die tränenrührige Geschichte von San Zulian.«
Der Pater blickte zu Boden. Minutenlang verharrte er stumm in dieser Pose. »Ich habe Ihnen erklärt, dass unsere Kirche äußerst kritisch mit sogenannten Wundern umgeht. Es wurde eine Prüfungskommission einberufen, die den Fall überprüft.«
»Und ich habe Ihnen erklärt, was wir herausgefunden haben«, entgegnete Brian.
»Und das werden Sie schreiben?«
»Nur das, was wir herausgefunden haben. Mit den Kindern konnten wir ja bislang nicht reden.«
Pater Francesco seufzte. »Sie vergessen die Menschen. Die Kinder und Paolo, der Küster, der aus selbstlosen Gründen handelte. Wir würden sie alle damit offiziell der Lüge bezichtigen. Sie müssten mit diesem Makel weiterleben, und der Alte würde in seinem Viertel das Gesicht verlieren. Das ist nicht das, was Sie wollen, oder?«
»Hat sich die Kirche selbst nicht der Wahrheit verschrieben?«
Pater Francesco lächelte. »Wahrheit. Es gibt viele Wahrheiten. Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Wahrheit und Glaube sind die Grundfesten unseres Daseins. Aber niemand sollte unter diesen Mauern begraben werden. Sie sind nach Venedig gekommen, um eine Heiligenerscheinung zu untersuchen. Um anschließend einen Artikel für Ihr Magazin zu schreiben. Ein Magazin, das sich verkaufen soll. Und je mehr Exemplare verkauft werden, desto mehr Geld verdient Ihr Verlag. Das ist auch eine Wahrheit, oder? Ihnen ist es vollkommen gleichgültig, was die Menschen in einem solchen Zeichen sehen oder welche Hoffnungen sie damit verbinden. Sie denken an den Verkauf. Unsere Kirche hingegen untersucht alle Umstände, und irgendwann, wenn genug Zeit ins Land geflossen ist, wird eine kleine Erklärung in einem unserer Hefte stehen, in der die Erscheinung von San Zulian als außergewöhnliche Wahrnehmung, aber ausdrücklich nicht als Wunder deklariert wird. Niemand wird über die Menschen sprechen, niemand wird sie verurteilen oder bloßstellen. Ich finde, das ist eine Wahrheit, mit der man gut leben kann, Sie nicht?«
Brian sog tief die Luft ein. »Es ist Ihre Wahrheit, aber nicht die Wahrheit, die ein Journalist aufdecken möchte«, antwortete Brian.
Pater Francesco faltete die Hände. »Ich werde Ihnen jetzt etwas erzählen, das nicht in Ihre Zeitung gehört. Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie schweigen. Ihr Ehrenwort.«
Brian zögerte, ehe er nickte.
Pater Francesco blickte an die Zellendecke, so als ob er sich das Einverständnis des Herrn einholen wollte, bevor er Brian die Geschichte offenbarte. »Wissen Sie, ich kenne Paolo schon seit über dreißig Jahren«, begann er. »Seit ich hier in Venedig bin, kümmert er sich um die Kirche, so wie vor ihm sein Vater und sein Großvater, und wahrscheinlich auch sein Urgroßvater. Es war vor drei Jahren. Paolo sprach mich eines Tages nach der Messe an. Ich weiß den Tag noch genau, denn ich hatte ihn zuvor noch nie so aufgelöst gesehen. Er wirkte übernächtigt, nervös und fahrig. Er fragte mich, wie es denn sei, wenn einem ein Heiliger erscheine. Ich erklärte ihm den Standpunkt der Kirche gegenüber Illuminationen, doch er wollte meine persönliche Ansicht hören, das merkte ich bald.
Schließlich gestand er mir, dass er am Abend zuvor mit der Mutter Jesu gesprochen habe. Sie sei ihm bei Anbruch der Dunkelheit in der Kirche erschienen. Sie habe ihm von einer großen Katastrophe berichtet. Über die Menschen im Herzen Europas würde die Sintflut hereinbrechen, sie würden ihr Hab und Gut in den wütenden Fluten verlieren und manche sogar ihr Leben. Er schilderte mir seine Vision mit solch einer Lebendigkeit, dass ich einen Augenblick lang meine Skepsis verlor. Ich versuchte ihn zu beruhigen, doch die Erscheinung verfolgte ihn noch tage- und wochenlang in seinen Träumen. Seine Visionen verflogen erst, nachdem zwei Wochen darauf der Osten Deutschlands und Teile Polens von heftigen Regenfällen und Überschwemmungen heimgesucht wurden. Sie haben bestimmt davon gehört. Es gab mehrere Tote, und die Schäden erreichten Milliardenhöhe.
Nach dieser Flutkatastrophe fand Paolo seine Ruhe wieder, bis er vor drei Wochen erneut zu mir kam und mir erzählte, dass ihm abermals die Jungfrau Maria erschienen sei. Dieses Mal habe sie ihm von heftigen tropischen Stürmen erzählt, die den amerikanischen Kontinent heimsuchen würden. Ganze Städte würden in den Fluten versinken, und die Erde würde sich auftun und mit Feuer und heißem Staub ganze Landstriche verwüsten.«
Brian schüttelte den Kopf. »In jedem Jahr rasen Hurrikans von der Karibik auf Amerika zu. Tornados und Orkane gehören in den Staaten zum Sommer, so wie Hitze und heftige Gewitter in Ihrem Land.«
Der Pater hob beschwichtigend die Hände. »Paolo sprach von einem ungekannten katastrophalen Ausmaß. Diese Vision raubt ihm seither den Schlaf. Sie haben ihn gesehen. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Er glaubt fest daran, dass er die Menschen vor dem Teufel warnen, ihnen die Augen öffnen muss. Dass dies der Wille Gottes ist. Ich habe Paolo auf die Konsequenzen einer solchen Offenbarung hingewiesen. Ich sagte, niemand würde ihm Glauben schenken, jeder würde ihn für verrückt halten und über ihn lachen. Am Ende würde er sogar sein Amt als Küster verlieren. Ich redete auf ihn ein, beschwor ihn, bat ihn, meinetwegen zu schweigen, doch er tat es nicht. Ich kann nicht sagen, was ihn dazu bewogen hat, die Kinder in diese Sache hineinzuziehen. Wahrscheinlich war es mein Fehler, denn ich hatte ihm erzählt, dass in der Vergangenheit vor allem Kinder als Medium von Heiligen ausgesucht wurden. Vielleicht weil Kinder noch unschuldig sind und Jesus eine besondere Beziehung zu ihnen hat.«
»Er hat die Kinder vorgeschoben, um sein Amt zu behalten und den möglichen Konsequenzen aus dem Wege zu gehen«, resümierte Brian. »Seine eigenen Enkelkinder: Wie kann er sie nur in eine solche Situation bringen?«
»Die Sorge um San Zulian, die Kirche, hat ihn dazu gebracht. Sie ist alles, was er hat. Er sah wohl keinen anderen Ausweg, seiner Bestimmung zu folgen und gleichzeitig meinen Willen zu respektieren.«
»Es ist eine Lüge«, widersprach Brian.
»Eine Halbwahrheit, würde ich sagen.«
Brian lächelte. »Wieder eine Ihrer kirchlichen Thesen?«
Der Pater erhob sich. »Ich bitte Sie im Namen der Kinder und im Namen Paolos, verurteilen Sie diese Menschen nicht, die zu retten versuchen, was zu ihrem Lebensinhalt wurde. Ich bitte Sie, auf diesen Artikel zu verzichten.«
Brian schaute aus dem Fenster, als der Geistliche an ihm vorüberging und an die Tür klopfte.
»Ich bitte Sie, im Namen Jesu Christi«, sagte Pater Francesco, bevor er den Raum verließ und sich die beiden Polizisten wieder hinter Brian aufbauten.