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b) Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Philosophie

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Hermeneutik ist eine Querschnittswissenschaft bzw. ein Teilbereich der Wissenschaftstheorie (51: 43ff.). Bedarf an Hermeneutik besteht grundsätzlich in allen Wissenschaften, die es mit der Interpretation von Texten und sonstigen sprachlichen Äußerungen zu tun haben, von der Philologie bis zur Rechtswissenschaft. Im Prinzip gilt das auch für die Naturwissenschaften, auch wenn in ihnen das Bewußtsein für die hermeneutischen Probleme ihrer eigenen Textgattungen schwächer als in den Geistes- und Kulturwissenschaften ausgeprägt ist. Neben einer allgemeinen Hermeneutik haben die unterschiedlichen Wissenschaften verschiedene spezielle Hermeneutiken entwickelt, deren Unterschiede aber nicht in den Methoden der Interpretation, sondern allein in dem zu interpretierenden Gegenstand liegen. Insofern gibt es eine philosophische, eine theologische, eine rechtswissenschaftliche, eine geschichtswissenschaftliche und eine kulturwissenschaftliche Hermeneutik.

Die philosophische Hermeneutik H.-G. Gadamers

Hans-Georg Gadamers Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ (1960) trägt den Untertitel „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“. Bei Gadamer bedeutet philosophische Hermeneutik als Titel, daß die Hermeneutik die grundlegende Aufgabe übernommen hat, „den vorgängigen Zusammenhang von Erkanntem und Erkennendem darzulegen“, wobei sie vom endlich existierenden Menschen und seinem faktischen Leben ausgeht und auf diese Weise zeigen will, „wie Wissenschaft möglich ist und welche Relevanz sie hat“ (68: 123). Im Sinne Gadamers ist philosophische Hermeneutik nicht nur eine philosophische Theorie des Verstehens, sondern eine verstehende Philosophie mit dem „Charakter einer praktischen Philos[ophie], die den Lebenszusammenhang, in den sie selbst gehört, begrifflich zu klären unternimmt“ (20: 1653). Gadamers philosophische Hermeneutik läßt sich daher mit gutem Grund ebenso gut als hermeneutische Philosophie charakterisieren. Die Aufgabe der Philosophie und diejenige der Hermeneutik fallen in ihr weitgehend zusammen. Maßgeblich für Gadamers Konzeption sind die Erfahrungen von Kunst, Geschichte und Philosophie. In „Wahrheit und Methode“ will Gadamer zeigen, daß es „Erfahrung von Wahrheit“ und einen berechtigten Wahrheitsanspruch nicht nur innerhalb der Wissenschaften und ihren methodisch geleiteten Erkenntnisbemühungen gibt, sondern in der menschlichen Lebenspraxis überhaupt (26: 1f.).

Gadamer hat sich ausdrücklich in die Linie von Dilthey, Husserl und Heidegger gestellt (26: 5). Die schon bei ihnen zu beobachtende radikale Verallgemeinerung des Verstehensbegriffs geht letztlich auf Schleiermacher zurück. Bei Heidegger tritt die Hermeneutik an die Stelle der Metaphysik, die es seiner Ansicht nach zu überwinden gilt. Ontologie wird zur „hermeneutischen Phänomenologie“, ist sie doch nach Heidegger „nur als Phänomenologie möglich“ (29: 35). Zugleich gilt: „Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet“ (29: 37), wogegen man die Methodenlehre der Geistes- und Geschichtswissenschaften nur im abgeleiteten Sinne als Hermeneutik bezeichnen könne (29: 38). Grundlegend ist Hermeneutik bei Heidegger „Hermeneutik der Faktizität“ des Daseins (29: 72, Anm. 1), nämlich der menschlichen Existenz, verstanden als „In-der-Weltsein“. In diesem Sinne rekonstruiert Heidegger die Ontologie als „,Hermeneutik‘ des kócoy“ (29: 25).

Auch Gadamers philosophische Hermeneutik ist eine Hermeneutik des Logos. Sie interpretiert Sprache als Medium aller hermeneutischer Erfahrung (26: 387ff.). „Sprachlichkeit“ ist für Gadamer die Bestimmung sowohl des hermeneutischen Gegenstandes als auch des hermeneutischen Vollzugs. Die hermeneutische Erfahrung besteht also nicht etwa nur im Verstehen von Sprache, sondern im Verstehen durch Sprache, weil die menschliche Existenz insgesamt sprachlich verfaßt ist. Sprache ist „eine Mitte, in der sich Ich und Welt zusammenschließen oder besser: in ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit darstellen“ (26: 478). Hieraus ergibt sich für Gadamer der universale Aspekt der Hermeneutik. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (ebd.). Was in diesem Zusammenhang Wahrheit heißt, entwickelt Gadamer von der Erfahrung der Kunst aus, näherhin vom Begriff des Spiels her. Wahrheit ereignet sich gewissermaßen in einem „Spiel mit Worten, die das Gemeinte umspielen“ (26: 493).

Wenn Gadamer von „sprachlichen Spielen“ spricht, erinnert das an Wittgensteins Begriff des Sprachspiels (56: 19), der freilich von Gadamer nicht ausdrücklich zitiert wird. Vordergründig scheint zwischen der Tradition einer philosophischen Hermeneutik bzw. einer hermeneutischen Philosophie und der von Wittgenstein mitbegründeten sprachanalytischen Philosophie ein Gegensatz zu bestehen. Wie Karl-Otto Apel gezeigt hat, läßt sich zwischen diesen für das 20. Jahrhundert maßgeblichen philosophischen Traditionen eine Beziehung herstellen, weil es in beiden zentral um das Problem des Verstehens von Sinn geht (3). Auch Richard Rorty sieht an dieser Stelle einen Zusammenhang (45). Der frühe Wittgenstein formuliert in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ allerdings eine antihermeneutische Position (57). An die Stelle des individuell-geschichtlichen Verstehens tritt beim frühen Wittgenstein die logische Analyse der Sprachform. Die Sprachspieltheorie des späten Wittgenstein setzt dagegen voraus, daß alle Sprache in eine Lebenspraxis eingebettet und die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist (56: 41). Das Wort „Sprachspiel“ soll dabei hervorheben, „daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“ (56: 28). Das Modell des Sprachspiels impliziert nun aber nicht nur das unmittelbare Welt- bzw. Situationsverständnis, das im „Meinen von etwas“ liegt, sondern auch „das im engeren Sinn ,hermeneutische‘ Verstehen der Intention des unmittelbaren Weltverständnisses, die in Handlungen und Werken der Menschen zum Ausdruck kommen“ (3: 73). Die Brücke zum hermeneutischen Begriff des Verstehens läßt sich deshalb schlagen, weil auch das Verstehen der Wittgensteinschen Sprachspiele anstelle einer distanzierten Beobachterperspektive die Teilnahme am Spiel und seiner Lebensform voraussetzt. Das kommt der Beschreibung der hermeneutischen Grundsituation bei Gadamer sehr nahe.

Kritik an Gadamer

Gadamers hermeneutische Philosophie hat die weitere Entwicklung der Hermeneutik entschieden geprägt, ist aber auf Kritik gestoßen. Jürgen Habermas hat vor allem Gadamers Rehabilitierung von Autorität und Tradition kritisiert (28; vgl. 26: 281ff.). Alles Verstehen setzt nach Gadamer immer schon ein Verstandenhaben voraus, das freilich im Prozeß des Neuverstehens überprüft werden muß. Da man sich im Akt der hermeneutischen Distanznahme nicht gleichzeitig von allem distanzieren kann, ist alles endliche Verstehen auf Vorannahmen bzw. Vorurteile angewiesen. Gadamer hat daher für die Rehabilitierung des Vorurteils-Begriffs plädiert, der erst durch die Aufklärung in Mißkredit geraten sei. „Vorurteil“ müsse nicht notwendig „falsches Urteil“ heißen. Außerdem sitze die Aufklärung selbst einem Vorurteil auf, „das ihr Wesen trägt und bestimmt: Dies grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung“ (26: 275). Habermas, dessen Sozialphilosophie allerdings selbst stark durch Gadamers Hermeneutik des Gesprächs beeinflußt ist, hat Gadamer an dieser Stelle einen Mangel an kritischem Bewußtsein und emanzipatorischer Kraft vorgeworfen. Wie allerdings die späteren Debatten über eine „Hermeneutik des Verdachts“ im Anschluß an Marx, Nietzsche und Freud zeigen, schließen sich ein kritisches und emanzipatorisches Verhältnis zur Tradition und hermeneutisches Denken nicht notwendigerweise aus. „Man kann“, wie Paul Ricœur schreibt, „Hermeneutik und Ideologiekritik nicht mehr einander entgegensetzen; die Ideologiekritik ist der notwendige Umweg, den das Sich-verstehen machen muß, wenn es sich durch die Sache des Textes, nicht durch die Vorurteile des Lesers bestimmen lassen will“ (201: 34). Insofern hat die Kritik von Habermas einen wichtigen Beitrag zur gesteigerten Reflexivität philosophischer Hermeneutik geleistet.

J. Derridas Interpretationstheorie

Eine radikale Abkehr von der hermeneutischen Philosophie Gadamers vollziehen dagegen Jacques Derrida (1930 – 2004) und andere Vertreter des Dekonstruktivismus (22). Hatte schon Heidegger im Anschluß an Nietzsche das Ende der Metaphysik postuliert und ihre Überwindung im Sinne einer beständigen „Verwindung“ zur Aufgabe der Philosophie erklärt, so gehört für Derrida Gadamers philosophische Hermeneutik noch in den Zusammenhang der zu überwindenden Metaphysik, weil sie am Gedanken der Identität von sprachlichem Sinn festhalte. In Wahrheit unterliege der Sinn sprachlicher Ausdrücke in jedem neuen Akt des Sprechens einem Wandel. Für diese unaufhebbare Differenz hat Derrida das Kunstwort der „différance“ geprägt. Gadamer hat sich auf die Diskussion mit Derrida eingelassen und auf dessen Kritik entgegnet, daß auch der Gedanke des sich beständig wandelnden sprachlichen Sinnes in das Konzept einer philosophischen Hermeneutik integriert werden kann. Poststrukturalistische oder dekonstruktivistische Theorien der Interpretationen müssen nicht zwangsläufig darauf hinauslaufen, den Begriff der Hermeneutik überhaupt aufzugeben. Sie geben aber wichtige Impulse für eine Erweiterung hermeneutischer Fragestellungen.

Die philosophische Hermeneutik P. Ricœurs

Den Titel einer philosophischen Hermeneutik verwendet auch Paul Ricœur (1913 – 2005). Anders als die Hermeneutik Gadamers orientiert sich diejenige Ricœurs – ähnlich wie die Hermeneutik Emilio Bettis (6) – am individuellen Sinn. Dabei betont er die Produktivität jedes Verstehensaktes. Die Situation der Interpretation wird nach Ricœur ebenso durch die Gabe eines Vorhergehenden als auch durch einen Neubeginn, die Initiative des Denkens gekennzeichnet. Verstehen heißt demnach weder wiederholen noch übersetzen, sondern schöpferisches Hervorbringen. Gegenüber Gadamer fällt die Konzentration auf den Begriff des Textes auf. Ricœur definiert Hermeneutik als „Untersuchung der Kunst des Verstehens, die durch die Interpretation von Texten ermöglicht wird“ (202: 27). Verglichen mit dem Universalitätsanspruch einer an der Sprachlichkeit orientierten Hermeneutik bedeutet dies zunächst eine Eingrenzung. Jedoch zielt Ricœurs Hermeneutik „nicht eigentlich auf eine Hermeneutik des Textes, sondern auf eine Hermeneutik, die von dem durch den Text gestellten Problem ausgeht“ (ebd.). Das grundlegende Problem des Textes aber ist die Beziehung zwischen Rede und Schrift und die mit der Verschriftlichung von Sprache verbundene Erfahrung der Verfremdung. Durch seine Schriftwerdung gewinnt der Text sowohl gegenüber seinem Autor als auch gegenüber jedem Leser Autonomie. Was der Text zu sagen hat, fällt weder mit der Aussageabsicht des Autors noch mit der Interpretation des Lesers zusammen. Indem aber der Text als Werk zu beständig neuer Interpretation reizt, ist er schöpferisch. Im Akt des Lesens bringt der Text ständig neuen Sinn hervor, ohne sich je zu erschöpfen. Im Gegensatz zu dem Verfallscharakter, den Gadamer in der Verfremdung von sprachlichem Sinn durch Verschriftlichung sieht, erkennt ihr Ricœur eine positive Bedeutung zu. „Die Verfremdung ist nicht nur das, was das Verstehen besiegen muß, sondern auch das, was dieses bedingt“ (202: 29).

Ricœur zieht aus seinen hermeneutischen Überlegungen die Konsequenz, daß der von Dilthey überkommene Gegensatz zwischen Verstehen und Erklären, der noch im Titel von Gadamers Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ nachwirkt, grundsätzlich in Frage zu stellen ist. Konkret bedeutet dies, daß sich die Hermeneutik strukturalistischer und linguistischer Methoden zur Erfassung der Struktur von Texten bedienen kann. Den Strukturalismus weist Ricœur allerdings als das einfache Gegenteil der Romantik zurück und bestreitet dessen These von der Trennung zwischen Sinn und Referenz. Zwar wird durch die Schriftwerdung des Textes der ursprüngliche Verweisungsbezug von Sprache zerstört, dadurch jedoch ein sekundärer Verweisungsbezug freigelegt (202: 31f.). Einen Text interpretieren bedeutet, ihn als einen Entwurf von Welt zu verstehen, die der Interpret bewohnen kann, um eine seiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen. Ricœur nennt dies die Textwelt oder die Welt des Werkes, welcher bei Gadamer die „Sache des Textes“ entspricht (201: 33).

Hermeneutik bei G. Vattimo

Eine Entgrenzung des Hermeneutikbegriffs findet wiederum bei Gianni Vattimo statt. Anders als Ricœur geht Vattimo nicht von dem durch den Text gestellten Problem aus, sondern von der Spätphilosophie Heideggers und dem Denken Friedrich Nietzsches. Nach Vattimo lautet die grundlegende These der Hermeneutik, mit Nietzsche gesprochen, „dass es keine Tatsachen gibt, sondern nur Interpretationen“ (113: 17; vgl. F. Nietzsche, KSA 12, 315). Auch diese Aussage beschreibt keine Tatsache, sondern ist selbst nur eine Interpretation. Die Interpretation ist folglich die einzige „Tatsache“, über die man sprechen kann. Sie ist „wie ein Virus, das alles infiziert, womit es in Berührung kommt“ (113: 19). Die Erfahrung von Wahrheit ist „vor allem eine Erfahrung des Hinhörens auf – und der Interpretation von Botschaften“ (113: 29). Unter Berufung auf Gadamer deutet Vattimo „Wahrheit als unendliche Konstruktion von Gemeinschaft“ (113: 27), die letztendlich mit Gadamers „Horizontverschmelzung“ (26: 311) zusammenfällt. Bei Vattimo verbindet sich die Tradition hermeneutischer Philosophie mit dem postmodernen Denken, wenn er erklärt: „die Hermeneutik ist keine Philosophie, sondern die Erscheinung der geschichtlichen Existenz selbst, wie sie sich im Zeitalter des Endes der Metaphysik gibt“ (113: 20).

Die jüngste Entwicklung zeigt, daß das Thema der Hermeneutik in der Philosophie nach wie vor präsent ist. 1971 lautete die Diagnose Klaus Scholders: „Die Hermeneutik wurde von ihrem Thron gestoßen, und wer heute nach ihr fragt, beweist nur, daß er von gestern ist“ (248: 1). Dieses Urteil ist aus heutiger Sicht korrekturbedürftig. Wohl stimmt es, daß der Einfluß Heideggers und seiner Schule auf Philosophie und Theologie stark zurückgegangen ist. Das Sachproblem der Hermeneutik steht und fällt aber nicht mit einer bestimmten Spielart philosophischer Hermeneutik. Im Gegenteil läßt sich heute ein neues Interesse an hermeneutischen Fragestellungen beobachten. Das kann auch nicht weiter verwundern, insofern das hermeneutische Problem des Verstehens und Interpretierens, das durch Mißverstehen und Unverständnis konterkariert wird, unabweisbar ist.

Einführung in die theologische Hermeneutik

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