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b) Das Andere und das Fremde in der Theologie
ОглавлениеHermeneutik des Fremden
Gegen die Wut des Verstehens richten sich Versuche einer Hermeneutik des Fremden (54; 109). Sie gründet in einer Philosophie des Anderen bzw. einer Philosophie des Fremden, welche den Anderen in seinem Anderssein achten will. Darum geht es z. B. in heutigen Konzeptionen einer interkulturellen und interreligiösen Hermeneutik (67). Grundlegend ist hierfür das Denken von Emanuel Levinas (1906 – 1995). Für eine Hermeneutik des Fremden hat daher auch die Verfremdung, die z. B. durch die Verschriftlichung von Sprache stattfindet, eine positive Funktion. Die Aufgabe der Hermeneutik besteht dann gerade darin, das Anderssein des Textes, seine Nichtidentität mit den Intentionen seines Autors wie seiner Leser, zu schützen.
Es läßt sich zeigen, daß die Kategorie des Fremden im neuzeitlichen Sinne zumindest implizit eine religiöse Kategorie ist. Die neuzeitliche Erfahrung der Fremdheit Gottes verweist aber zugleich auf die Erfahrung der Fremdheit des eigenen Selbst, der Erfahrung nämlich, seiner selbst keineswegs so mächtig zu sein, wie wir glauben möchten und gewöhnlich vorgeben. Das von außen auf uns zukommende Fremde, das wir ablehnen und abzuwehren suchen, ist die Fläche und teilweise überhaupt das Produkt unserer Projektionen eines Fremden und Unbeherrschbaren, das wir in uns selbst entdecken und an uns selbst fürchten. Die Bibel deutet dieses Fremde als Macht der Sünde.
Das Phänomen der Fremdenfeindschaft verweist auf die grundlegende Ambivalenz des Fremden. Dabei ist das Fremde, ist der Fremde nicht fremd an sich, sondern fremd für einen jeweils anderen. Begrifflich ist aber zwischen dem Fremden und dem Anderen zu unterscheiden (101). Der oder das Andere ist nicht notwendigerweise das mir Fremde. Es ist zunächst das Andere meiner selbst und kann als solches als dialektisch zu mir gehörig begriffen werden. Sofern es nicht auf solche Weise vereinnahmt und letztlich in seiner Eigenständigkeit negiert werden soll, existieren das Eigene wie das Andere aufgrund eines wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses. Insofern aber das Andere oder der Andere anerkannt wird, wir er auch verstanden. Verstehen aber ist die Voraussetzung für die Überwindung von Angst.
Das Fremde dagegen ist das nicht Zugehörige, vom Eigenen Abgegrenzte und Ausgeschlossene. Es ist das zunächst Unbekannte und Unverstandene, welches völlig offenläßt, ob es zu einem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis und einer Form des Verstehens kommt oder nicht. Sofern es vom Eigenen abgegrenzt ist, wird es von diesem definiert, was bereits ein Mindestmaß von Verstehen oder jedenfalls die subjektive Überzeugung voraussetzt, das Fremde in irgendeiner Weise bereits verstanden zu haben. Insofern ist die Fremdheit des Fremden abhängig von der Selbstdefinition oder Identitätsbildung eines Anderen. Andererseits kann aber die sich selbst bestimmende Identität das Fremde gar nicht im vorhinein definieren. Es macht gerade das Wesen des Fremden aus, daß es undurchdringlich bleibt, so daß sich gar nicht sagen läßt, ob seine Verstehbarkeit noch aussteht oder grundsätzlich ausgeschlossen bleibt, ob es zum Anderen meiner Selbst und also zu einem mir dialektisch Zugehörigen werden kann oder meine Identität und Existenz bedroht. Der Andere als der Fremde kann, wie Emanuel Levinas gezeigt hat, nicht durch mich konstituiert werden, sondern ich kann ihm nur begegnen (38).
Das Fremde in seiner Rätselhaftigkeit wird nicht nur als potentiell bedrohlich, sondern zugleich als anziehend erlebt. Es fasziniert, weil es jenseits des Vertrauten neue Möglichkeiten erahnen läßt. Unter die Furcht vor dem anderen und Unbekannten mischt sich die Sehnsucht nach dem ganz anderen. Dieses birgt in sich die Möglichkeit der Identitätszerstörung wie der Erweiterung und Bereicherung der Identität.
Der unbekannte Gott
Die religiöse Dimension der Angst vor dem Fremden und ihrer Ambivalenz hat der evangelische Theologe Rudolf Otto (1869 – 1937) auf den Begriff des Numinosen gebracht. In seiner berühmten Abhandlung über „Das Heilige“ deutet er dieses als das Numinose, welches sich in Gefühlen der Ergriffenheit wie in solchen der Furcht und der Ohnmacht vor einem Überwältigenden äußert (94). Die biblische Tradition spricht von der Ambivalenz des Numinosen in der Weise, daß man Gott sowohl über alle Dinge lieben als auch fürchten soll. Das Mysterium des Numinosen bezeichnet Otto auch als das Geheimnis des „Ganz Anderen“. Das Numinose ist mit anderen Worten der religiöse Inbegriff des Fremden.
Die Begrifflichkeit Ottos aufgreifend, seinen Ansatz jedoch vom Gedanken der worthaften Selbstoffenbarung Gottes her kritisierend, hat der evangelische Theologe Karl Barth, einer der Begründer der sogenannten Dialektischen Theologie, den biblischen Gott personal als den Ganz Anderen bezeichnet. Der ganz andere Gott ist der von allen sonstigen Gottesvorstellungen strikt unterschiedene „unbekannte Gott“, welchem nach Apg 17,23ff. die Athener auf dem Areopag einen Altar errichtet hatten und den Paulus in seiner Areopagrede mit dem Gott Jesu Christi identifizierte (125: 11).
Der unbekannte Gott ist verborgen und somit der menschlichen Verfügungsmacht, d. h. aber auch jeder religiösen Strategie zur Bewältigung und Eindämmung seiner Fremdheit grundsätzlich entzogen. Nach Barth besteht alle Religion in dem hoffnungslosen Versuch, die Unberechenbarkeit Gottes als des „Ganz Anderen“ – wir können auch sagen seine radikale Freiheit und somit Fremdheit – zu vermindern. Indem der Mensch sich Gott in der Religion zuwendet und seiner zu vergewissern versucht, wehrt er ihn zugleich ab. Von Haus aus ist der Mensch dem fremden Gott feindlich gesonnen, weil er sich vor ihm ängstigt wie Adam, der sich nach dem Sündenfall vor Gott verbirgt. Religion als ambivalente Begegnung mit dem Ganz Anderen wie als Strategie seiner Abwehr entspringt also im Kern der Angst vor dem Fremden, welche in offene Feindschaft umschlagen kann. Und in der Tat ist Gottesfeindschaft nach biblischer Tradition das Wesen der Sünde. Die Angst vor dem Ganz Anderen als dem vermeintlichen Feind läßt den Menschen seinerseits zum Feind werden.
Das Neue Testament schildert, wie Gott in Jesus von Nazareth als Fremder in die Welt kommt und abgelehnt wird. Das Geschick Jesu von Nazareth, der in der Vollmacht des fremden Gottes wirkt und predigt, wird zum Geschick dieses Gottes, der sich ganz mit diesem Menschen identifiziert und so mit denen versöhnen will, die in Feindschaft mit im leben. Dementsprechend findet die schon im Alten Testament gebotene Liebe zum Fremden ihre Zuspitzung im Gebot der Feindesliebe. Die von Jesus geforderte Feindesliebe hat nach Paulus (Röm 5) in der Feindesliebe Gottes ihren sachlichen Grund.
Das hermeneutische Problem der Sünde
Im Lichte dieser Offenbarung tritt nun aber auch eine Fremdheit zutage, die dem Menschen in seinem eigenen Selbst begegnet. Sünde ist nach neutestamentlicher Auffassung nicht nur Feindschaft gegen Gott, sondern zugleich ein Widerspruch im Sünder selbst. Der sündige Mensch, welcher sein Leben selbstmächtig führen will, ist in Wahrheit seiner selbst gar nicht mächtig. Er wird sich selbst fremd bzw. entdeckt er in sich eine unheimliche, fremde Kraft, die seine Selbstmächtigkeit unterläuft, von ihm grundsätzlich nicht beherrscht werden kann, sondern sich seiner bemächtigt. Paulus hat diesen inneren Widerspruch eindrucksvoll in Röm 7 analysiert.
Wo die Liebe Gottes erwidert wird, wo mit anderen Worten Glaube entsteht, da wird die unheilvolle fremde Macht, über welche das Ich in Röm7 tief erschrocken ist, überwunden durch den fremden, jedoch in Wahrheit gerade nicht feindlichen, sondern menschenfreundlichen Gott. Wo es zur Einwohnung des Ganz Anderen im Selbst des Menschen kommt, erfährt der Mensch nun an sich selbst eine anders geartete Transzendenz, die darin besteht, daß er sich selbst uneinholbar (vor)gegeben ist und zugleich gnädig entzogen bleibt. Durch diese Erfahrung wird die Angst vor dem Fremden überwunden, ohne daß dieses sein Geheimnis verliert.
Vor diesem Hintergrund unternimmt Hans Weder den Versuch einer neutestamentlichen Hermeneutik des Fremden. Er bedient sich dabei der Metapher vom fremden Gast, anhand derer die neutestamentlichen Texte wahrgenommen werden sollen (269: 428ff.). Es geht Weder nicht nur darum, die Texte des Neuen Testaments durch eine historische Kultur gegen ihre Vereinnahmung durch Assimiliation zu schützen. Seine Hermeneutik des Fremden möchte vielmehr dazu anleiten, diese Texte als Platzhalter des fremden Gottes anzusehen. Die Ohnmacht der Texte gegenüber der machtförmigen Wut des Verstehens ist eine Gestalt der Ohnmacht Gottes, der sich in der Person Jesu von Nazareth dem Tod am Kreuz ausliefert. Die Beschäftigung mit den neutestamentlichen Texten wird somit zur „Einübung in ein Leben, das aus der Schwachheit allererst entsteht“. In der Begegnung mit ihnen sollen Menschen zu der Einsicht gelangen, „daß die göttliche Lebenskraft in der Schwachheit zur Vollendung kommt“ (269: 435).