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c) Auslegung und Interpretation des Evangeliums
ОглавлениеDer Begriff der Interpretation
Anstelle des Deutungsbegriffs bevorzugt Dalferth den Begriff der Interpretation. Der Aufstieg dieses Begriffes in der Gegenwartsphilosophie beginnt der Sache nach mit Immanuel Kant (1722 – 1804), der gezeigt hat, daß jeder Gegenstand für das menschliche Bewußtsein immer nur Gegenstand in der Erscheinung bzw. Erkenntnis ist. Die Erscheinungswelt hat folglich konstruktionalen Charakter, und die Einheit unserer Erfahrungen ist von den grundlegenden Verstandesfunktionen abhängig (14: 658bf.). Eine Schlüsselstellung nimmt der Begriff der Interpretation in der Philosophie Friedrich Nietzsches (1844 – 1900) ein, der die These aufstellt, daß es keine Tatsachen gibt, sondern nur Interpretationen. Im Anschluß an Kant und Nietzsche entwickeln Günter Abel (1) und Hans Lenk (37) eine konstruktivistische Philosophie der Interpretation bzw. der interpretatorischen Vernunft. So spielt der Interpretationsbegriff in der Debatte zum Konstruktivismus eine entscheidende Rolle.
Dalferth greift für seinen Begriff der Interpretation auf die Zeichentheorien von Charles S. Peirce (1839 – 1914) zurück. Demnach sind Zeichen dreistellige Relationen, in denen etwas durch bzw. für jemanden als etwas interpretiert wird. Jedes Zeichen läßt sich beschreiben als eine Repräsentation in Beziehung zu einem Objekt, das in einem Interpreten, der das Zeichen als Zeichen wahrnimmt, eine Reaktion hervorruft. Im Anschluß an Peirce bezeichnet man das Objekt auch als „Referenten“, das Zeichen als „Interpretant“ oder „Signifikat“ und die Zeichengestalt in ihrem Verweisungsbezug auf das Objekt als „Signifikant“ oder „Repräsentamen“ (542: 54f.). Charles W. Morris (1901 – 1979) hat die semiotische Theorie verhaltenstheoretisch modifiziert (542: 64f.). Der Vorgang der Semiose, d. h. des mittelbaren Notiznehmens von etwas, besteht demnach aus den vermittelnden Zeichenträgern (Signifikant) – bei Dalferth „Interpretamen“ genannt – , demjenigen, welches bezeichnet wird (Designat) – bei Dalferth das „Interpretat“ – und dem Verhalten des Interpreten oder seiner Notiznahme (Interpretant/Signifikat). Die Akteure in diesem Prozeß sind die Interpreten. Dalferth erklärt nun: „Jedes Zeichen ist als Interpretamen so über einen Interpretanten auf ein Interpretat bezogen, dass dieser Interpretant seinerseits als Zeichen fungiert, das als Interpretamen über einen Interpretanten auf ein Interpretat bezogen ist, der seinerseits in der selben Weise als Zeichen fungiert usf. Jedes Zeichen verweist also auf einen Zeichen- und Interpretationsprozess, der ohne Ende weiter geht, wenn er nicht aus externen Gründen abgebrochen wird“ (71: 60f.).
Christliche Theologie interpretiert nun alle Phänomene menschlicher Selbst-, Welt- und Gotteserfahrung coram deo, d. h. „unter dem Gesichtspunkt von Gottes dynamischer Gegenwart bei ihnen und der wirksamen Beziehung zu ihnen“ (71: 61). Die solchermaßen interpretierten Phänomene sind freilich kein Ding an sich, sondern stets nur durch bereits vorgängige, anderweitige Interpretationen präsent. Sie haben also einen der Glaubensperspektive vorlaufenden Eigensinn, der nun theologisch in eine andere Perspektive gerückt und auf diese Weise neu bestimmt wird. Theologie ist also nicht einfach Interpretation von Wirklichkeit, sondern Interpretation von Interpretationen, genauer gesagt sogar eine Interpretation von Interpretationen von Interpretationen, nämlich die „theologische Interpretation christlicher Interpretationen des Glaubens von Lebensphänomenen in ihrem Eigensinn“ (71: 61f.). Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel haben in diesem Zusammenhang den Erfahrungsbegriff verwendet und den christlichen Glauben als „Erfahrung mit der Erfahrung“ bezeichnet (159: 22; 82: 122; 83: 225).
Der Begriff des Evangeliums
Christlicher Glaube interpretiert die Wirklichkeit und ihre Phänomene aus der Perspektive des Evangeliums. Mit „Evangelium“ ist bei Dalferth „die Kraft der Veränderung eines Lebens durch Gottes Gegenwart“ gemeint (71: 87). Solche Interpretation geschieht in der „Kommunikation des Evangeliums“ – eine Formulierung, die auf Ernst Lange zurückgeht (486: 11ff.). Im Sinne der Definition, die Dalferth gibt, ist das Evangelium selbst von menschlichen Kommunikationsvorgängen zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden, handelt es sich doch nicht um eine fixierbare Lehre, sondern um das Ereignis und Widerfahrnis, das Gottes heilvolle Gegenwart das Leben eines Menschen verändert und neu orientiert. Das Evangelium als Wort oder Kraft Gottes (vgl. Röm 1,16; I Kor 1,18) teilt sich zwar in, mit und unter menschlichen Kommunikationsprozessen mit, ist aber mit diesen nicht identisch. Es hat die Form der indirekten Mitteilung (vgl. S. Kierkegaard). Keine menschliche Symbolisierung des Evangeliums ist demnach so, „dass dieses damit für irgend jemanden direkt symbolisiert wurde, sondern es wird immer nur in dem, was jeweils direkt kommuniziert wird, indirekt mitthematisiert“ (71: 109). Dabei findet ein Perspektivenwechsel statt: Der Glaubende versteht sich und sein Leben vor Gott vermittels des Evangeliums auf solche Weise neu, daß er sich im Vorgang dieses Neuverstehens nicht als Subjekt, sondern als Objekt der Interpretation begreift. Die Interpretation der Wirklichkeit und der eigenen Existenz des Glaubenden erschließt sich ihm zugleich als Selbstinterpretation Gottes (vgl. 71: 121ff.).
Die Umkehr der Subjekt-Objekt-Struktur des Erkennens im Akt des Glaubens besagt, daß Theologie im Unterschied zu dem von ihr interpretierten Evangelium keine soteriologische Qualität besitzt. Als Soteriologie bezeichnet man die dogmatische Lehre von der Erlösung bzw. vom Heil (sotería [griech.] = Rettung, Heil). Es führt kein Weg vom Erkennen zum Glauben, wohl aber ein Weg vom Glauben zum Erkennen, welches der Vergewisserung des Erkennenden im Glauben dient. Theologische Erkenntnis dient nicht der Begründung des Glaubens, der gleichbedeutend mit Heilsgewißheit ist, sondern bestenfalls der Vergewisserung.
Explikation, Interpretation und Applikation
Um die Interpretationspraxis der Theologie genauer zu charakterisieren, erscheint es mir hilfreich, nochmals zwischen Interpretation und Auslegung zu unterscheiden. In seiner 1723 erschienenen Hermeneutik mit dem Titel „Institutiones Hermeneuticae Sacrae“ führte der pietistische Theologie Johann Jakob Rambach (1693 – 1735) neben der subtilitas intelligendi, d. h. der hermeneutischen Aufgabe, Mißverständnisse zu vermeiden, und der subtilitas explicandi, also dem erläuternden Erklären, die subtilitas applicandi, d. h. die Anwendung auf den Leser oder Hörer, ein. Den Begriff der Interpretation wende ich auf die subtilitas explicandi an, denjenigen der Auslegung auf die subtilitas applicandi. Sprachlich würde es sich vielleicht nahelegen, die subtilitas explicandi als Auslegung zu bezeichnen, doch meint man im Deutschen eher eine applikative Textinterpretation, wenn man z. B. von Bibelauslegung oder Auslegung eines Bibeltextes in der Predigt spricht. Dis subtilitas intelligendi aber hat ihren Ort sowohl in der Interpretation als auch in der Auslegung, sofern nämlich das Verstehen im umfassenden Sinne insgesamt das Ziel jedes hermeneutischen Prozesses ist, das Mißverstehen aber sowohl im explikativen wie im applikativen Bereich angesiedelt sein kann.
Hans-Georg Gadamer hat die Trennung zwischen Explikation bzw. Interpretation und Applikation kritisiert und die innere Einheit beider geltend gemacht. „Auslegung ist nicht ein zum Verstehen nachträglich und gelegentlich hinzukommender Akt, sondern Verstehen ist immer Auslegung, und Auslegung ist daher die explizite Form des Verstehens“ (26: 312). Die Anwendung sei ebenso ein integrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs wie Verstehen und Auslegen. Auch die historische Hermeneutik, z. B. die historisch-kritische Exegese, habe daher stets eine Leistung der Applikation zu vollbringen (26: 316).
Gegen diese Sichtweise wird in jüngster Zeit Einspruch erhoben. Sowohl Klaus Berger als auch Gerd Theißen treten wieder für eine Unterscheidung zwischen applikationsferner wissenschaftlicher Exegese und auf Applikation zielender engagierter Lektüre ein (258; 327). Klaus Neumann schließt sich der Kritik mit der Begründung an, alles andere wäre „die Bankrotterklärung der Religionswissenschaft, wie auch des interkulturellen, interreligiösen und interkonfessionellen Dialogs“ (92: 137). Auch wäre es dann „prinzipiell unmöglich ,das Fremde zu verstehen, mit dem wir nicht durch eine , Wirkungsgeschichte‘ verklammert sind“ (92: 137f.).
Diese Kritik halte ich jedoch nicht für überzeugend. Zunächst einmal ist zwischen Verständnis und Einverständnis zu unterscheiden. Daß allem Verstehen, wie Gadamer behauptet, ein applikatives Element zugehört, bedeutet noch nicht, mit dem einverstanden zu sein, was man zu verstehen glaubt. Das Programm einer Hermeneutik des Einverständnisses, wie es der Neutestamentler Peter Stuhlmacher formuliert hat (268; vgl. 92: 137) und die philosophische Hermeneutik Gadamers müssen in diesem Punkt sorgfältig auseinander gehalten werden. Verstehen heißt nicht zustimmen. Wohl aber heißt Verstehen in jedem Fall Stellung beziehen. Auch wo Zustimmung oder Widerspruch nicht explizit gemacht werden, sind sie ein unaufgebbarer Bestandteil des Verstehensprozesses, gehört doch zum Verstehen notwendigerweise eine Form des Unterscheidens, ohne welches kein Erkennen möglich ist. In diesem Sinne kann es auch kein neutrales Verstehen des Fremden geben. Sofern Verstehen mit Vereinnahmung verwechselt wird, ist Neumanns Protest gegen eine applikative, d. h. aneignende Hermeneutik des Fremden verständlich. Doch ist die Redewendung vom Verstehen des Fremden in gewisser Weise paradox. Sofern ich etwas verstehe, ist es mir nicht mehr völlig fremd, und solange es mir völlig fremd ist, habe ich es auch in keiner Weise verstanden.
Aus diesem Grunde ist auch die Unterscheidung zwischen Verstehen und Erklären kein unüberbrückbarer Gegensatz, sondern relativ. Das Verstehen folgt also nicht auf das Erklären, z. B. auf die philologische Interpretation eines biblischen Textes, sondern jede Erklärung setzt bereits, weil sie Verständnis wecken will, mögliches Verstehen voraus (184: 18). Eine mathematische Regel erklären heißt sie anwenden, indem ich z. B. jemanden vormache, wie man nach ihr eine Rechenaufgabe löst. Auch einen naturwissenschaftlichen Sachverhalt kann man nur erklären, wenn man ihn verstanden hat. Die Rekonstruktion eines Sachverhalts setzt, wie schon Kant gezeigt hat, voraus, daß man ihn nachbilden kann. Das aber ist nur möglich, wenn man zu ihm einen Lebensbezug entwickelt hat.
Unterscheidung zwischen Auslegung und Interpretation
Unbeschadet der Einsicht, daß bereits jede Explikation einer sprachlichen Äußerung oder sonst eines Phänomens einen applikativen Grundzug hat, läßt sich sinnvoll zwischen Interpretation und Auslegung unterscheiden. Theologie ist sowohl Auslegung als auch Interpretation der Botschaft des christlichen Glaubens. Die Botschaft des Glaubens ( ᾴκοῂ τῆς ίπστεως; Gal 3,2.5) ist eine solche, die zum Glauben aufruft und ihrerseits Glauben begründet. Weil der Glaube selbst nur in der Einheit mit der Botschaft, auf die er sich applikativ bezieht, besteht, ist Theologie sowohl Auslegung als auch Interpretation der Glaubensbotschaft. Als Interpretation der Botschaft des Glaubens ist Theologie Wissenschaft, deren wissenschaftstheoretische Problematik freilich im Nebeneinander und Hin und Her von Auslegung und Interpretation besteht. Ihrem Charakter nach ist die Botschaft des Glaubens nicht Lehre oder eine Zusammenstellung von Behauptungen oder Aussagen, sondern Anrede, Zuspruch und Anspruch. Sie ist Rede über Jesus von Nazareth in Gestalt einer absolut metaphorischen Redeweise. In absoluter, d. h. begrifflich nicht auflösbarer Metaphorik deutet die christliche Botschaft das Geschick Jesu von Nazareth als für den jeweils Angeredeten schlechthin entscheidende Aussage über dessen Existenz. Sie hat die Form des Zuspruchs, der zugleich ein Urteil impliziert, dessen Annahme – der Glaube – schlechthin über Gelingen oder Scheitern der Existenz des Angeredeten entscheidet. Theologie ist Auslegung und Interpretation der als Zuspruch und Anspruch formulierten Rede von Jesu von Nazareth als einer alle Menschen betreffenden, über sie gefällten Entscheidung.
Die primäre Aufgabe der Theologie besteht darin, immer wieder neu ihren Gegenstand, nämlich die Botschaft des Glaubens zu identifizieren und zu reformulieren, d. h. aber zu rekonstruieren. Diese Aufgabe stellt sich immer wieder neu, da es die Botschaft des Glaubens nicht als ein für alle Mal fixierten Text gibt, sondern nur in einer geschichtlichen Vielfalt von Interpretationen. Zwar ist sie eine auf ein vergangenes Ereignis bezogene, jedoch nicht eine ihrerseits historisch vergangene, sondern eine präsentische Größe.
Hat bereits jede Interpretation und Rekonstruktion ein applikatives Element, so besteht die applikative Aufgabe der Auslegung darin, nach dem zu fragen, was die Botschaft des Glaubens zu denken und weiterzudenken gibt. Während die Interpretation fragt, worin die Botschaft des Glaubens besteht und wie sie überhaupt zu verstehen ist, fragt die Auslegung nach dem, was die Botschaft des Glaubens ihrerseits zu verstehen gibt. Auslegung und Interpretation der Botschaft des Glaubens müssen insofern sachlich unterschieden werden, sie können und dürfen in der Interpretationspraxis der Theologie aber nicht getrennt werden. Sachgemäße Auslegung, d. h. aber Beschreibung und Entfaltung der christlichen Botschaft in einer zusammenhängenden Darstellung, setzt notwendigerweise die Interpretation konkreter Einzelzeugnisse dieser Botschaft in Geschichte und Gegenwart voraus. Theologie ist demnach eine auf Interpretation basierende Auslegung der ᾴκοῂ τῆς ίπστεως.
Die Interpretation wie die Auslegung greifen in allen Disziplinen der Theologie ineinander. Allgemein läßt sich sagen, daß Interpretation die historische, Auslegung dagegen die systematische Aufgabe innerhalb der Theologie ist. Interpretation geschieht also primär in der neutestamentlichen und der alttestamentlichen Exegese, in der Kirchengeschichte, der Dogmen-und Theologiegeschichte. Auslegung findet dagegen vor allem in der Systematischen Theologie, in Fundamentaltheologie, Dogmatik und Ethik statt. Beide, Interpretation und Auslegung spielen schließlich in der Praktischen Theologie und ihren Disziplinen ineinander. Hier tritt aber auch in erhöhtem Maße die Spannung zwischen beiden Funktionen der Theologie zutage. Vor allem unter dem Einfluß der modernen Humanwissenschaften ist die Praktische Theologie weithin zu einer interpretierenden Disziplin geworden, womit Schwierigkeiten verbunden sind, den Bogen zur Auslegung zu schlagen.
Auslegung geschieht in Gestalt einer zusammenhängenden Darstellung dessen, was die Botschaft des Glaubens ist und was sie zu verstehen gibt. Eine solche Darstellung ist freilich bereits ein Akt des von der Botschaft des Glaubens geforderten Verstehens bzw. setzt es bereits voraus. Mit anderen Worten ist Auslegung innerhalb der Theologie ein Akt des Glaubens. Während die Interpretation dem Verstehen eines einzelnen Textes oder eines sonstigen Zeugnisses der christlichen Botschaft dient, kann Auslegung nur erfolgen, wenn die durch Interpretation erhobenen Aussagen der christlichen Tradition einer Beurteilung am Maßstab der Botschaft des Glaubens unterzogen werden. Auslegung als zusammenhängende Darstellung setzt also ein Verständnis der Glaubensbotschaft voraus, mit anderen Worten Glauben. Und weiter ist die Zuordnung von religiösen Aussagen zu einer zusammenhängenden Darstellung, welche immer auch die Kritik religiöser Aussagen einschließt, wiederum nichts anderes als ein Akt des Glaubens, nämlich gläubigen Verstehens.