Читать книгу Einführung in die theologische Hermeneutik - Ulrich Körtner - Страница 18

b) Befreiungstheologische Hermeneutik

Оглавление

Grundzüge befreiungstheologischer Hermeneutik

Die Theologie der Befreiung und ihre unterschiedlichen Ausprägungen in Lateinamerika, Afrika und Asien stellt eine Form der politischen Theologie dar. Der Begriff der Befreiung ist sowohl politisch als auch theologisch zu verstehen (73). Die von Gott geschenkte Befreiung des Menschen von der Macht der Sünde soll in der Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, im Aufbau einer gerechten Gesellschaft und in der Überwindung von Armut sichtbare Gestalt annehmen. Dabei wird das Reich Gottes als Chiffre einer klassenlosen Gesellschaft gedeutet, für deren Utopie die Befreiungstheologie Anleihen beim Marxismus nimmt. Die Fragen nach dem Verhältnis von christlicher Eschatologie und politischer Utopie, nach der Vereinbarkeit von Christentum und Marxismus, konkret nach der Stellung der Befreiungstheologie zu politischen Befreiungsbewegungen, d. h. aber auch die Frage nach der Legitimität von revolutionärer Gewalt, sind Hauptstreitpunkte in der Auseinandersetzung um die Befreiungstheologie. Für die katholische Form der Befreiungstheologie kommen noch Fragen der Ekklesiologie, die Kritik an der kirchlichen Hierarchie und am römischen Zentralismus hinzu.

Die von der Befreiungstheologie entwickelte Hermeneutik ist vor allem Bibelhermeneutik (103). Ihre Anfänge reichen in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Ihren Sitz im Leben hat sie in der Bibelarbeit mit theologischen Laien und in den sogenannten Basisgemeinden (z. B. 69). Die Bibel wird im Kontext der Armen gelesen, d. h. aus dem Blickwinkel unterdrückter und marginalisierter sozialer Schichten und Völker (70). Befreiungstheologie versteht sich als „Theologie von unten“, als Theologie „des Volkes“, wobei das Volk hier nicht im nationalstaatlichen Sinne, sondern als die Menge der Entrechteten und Ausgebeuteten, als das „einfache Volk“, aber auch als das „Volk Gottes“ im ekklesiologischen Sinne gemeint ist (65).

Die Armen als das wahre Volk Gottes gewinnen eine geradezu heilsgeschichtliche Bedeutung. Als sozioökonomische und als religiöse Größe (vgl. Mt 5,3) ist ihr Schicksal der hermeneutische Schlüssel einer befreiungstheologischen Bibelinterpretation. Dementsprechend haben die prophetischen Traditionen des Alten und Neuen Testaments, vor allem die Sozialkritik der alttestamentlichen Propheten oder des Lukasevangeliums in der Befreiungstheologie großes Gewicht. Auch die neutestamentliche Johannesoffenbarung mit ihrer apokalyptischen Vision vom Ende aller Unrechtsverhältnisse und einem neuen Himmel und einer neuen Erde gehört zu den intensiv gelesenen Texten der Bibel.

Das Gewicht der Bibelauslegung liegt auf der Applikation. Man kann mit Fug und Recht von einer „engagierten Lektüre“ sprechen, wobei die Exegese eine stark ethische Ausrichtung hat. Orthopraxie steht vor Orthodoxie, was die berechtige Frage aufwirft, ob nicht im Ergebnis das Evangelium von der unverfügbaren und freien Gnade Gottes ethisiert, d. h. auf einen Impuls für die geforderte politische Praxis reduziert wird. Daß Gottes Handeln ein Befreiungsgeschehen ist, ist eine zentrale biblische Einsicht. Umstritten ist aber, ob dieses Befreiungshandeln von politischen Emanzipationsbewegungen noch zu unterscheiden ist oder letztlich mit ihnen zusammenfällt, so daß der Mensch, wenn nicht zur Selbsterlösung, so doch zur Miterlösung der Welt aufgerufen wäre.

Theologen der sogenannten Ersten Welt erkennen heute an, daß die Befreiungstheologie der Bibelwissenschaft eine Reihe positiver Impulse gibt (264: 126). Sie öffnet nicht nur die Augen für den sozialen Kontext jeder Bibelauslegung, sondern hat auch die sozialgeschichtliche Exegese befördert, welche die sozioökonomischen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen biblischer Texte untersucht. Außerdem hebt sie die politische Dimension sowohl des Glaubens Israels als auch der Botschaft Jesu und des Evangeliums von ihm hervor.

Kritik an der Befreiungstheologie

Kritik richtet sich allerdings gegen die Reduktion der biblischen Texte und ihrer Botschaft auf die Dimension des Politischen. Einseitig ist auch die Perspektive der Armen. Historisch stimmt es einfach nicht, daß die Autoren biblischer Texte samt und sonders Arme waren oder ihre Perspektive eingenommen haben (264: 127). Man denke nur an Könige wie David und Salomo, an die hinter der Weisheitsliteratur stehende Bildungsschicht oder an die alttestamentliche Priesterschaft. Weder von den Autoren noch von den ursprünglichen Adressaten her kann man die biblischen Schriften pauschal als Sprachrohr der Armen bezeichnen. Das gilt übrigens auch für das gern als „Evangelium der Armen“ apostrophierte Lukasevangelium, das laut Proömium für einen Menschen von vornehmem Stand geschrieben wurde (Lk 1,3).

Problematisch ist ferner die Rolle des Marxismus in der befreiungstheologischen Hermeneutik. Das betrifft nicht nur die biblische Hermeneutik, sondern auch die Gegenwartsdeutung. Im Sinne der 11. These von Marx zu Feuerbach, wonach die bisherige Philosophie die Welt zu erklären versucht habe, es aber darauf ankomme, sie zu verändern, wollen marxistische Theorien erklärtermaßen keine wertneutrale Wirklichkeitsdeutung liefern, sondern ein Instrument zur politischen Veränderung bestehender Verhältnisse sein. Bei allem ideologiekritischen Pathos, das marxistische Theorien auszeichnet, wird man aus heutiger Sicht doch sagen müssen, daß diese selbst hochgradig ideologisch sind. Unter der Vormacht einer ideologisch aufgeladenen Hermeneutik verlieren aber die biblischen Texte ihre kritische Kraft. Das ist nicht als eine pauschale Absage an die durchaus berechtigten Anliegen der Befreiungstheologie zu verstehen. Notwendig ist aber, daß diese ihr Prinzip einer Hermeneutik des Verdachts selbstkritisch auch auf sich selbst anwendet.

Einführung in die theologische Hermeneutik

Подняться наверх