Читать книгу Einführung in die theologische Hermeneutik - Ulrich Körtner - Страница 14
b) Glauben – Verstehen – Deuten
ОглавлениеGlauben und Verstehen
Gottes Offenbarung oder sein Wort wird durch Menschenworte vermittelt, nämlich durch das Wort und Zeugnis des Glaubens. Verhält es sich so, dann ist der Glaube selbst – wie von Rudolf Bultmann zu lernen bleibt – als eine Weise des Verstehens zu interpretieren. Glaube bedeutet nichts anderes, als das Wort des Glaubens in einer ganz bestimmen Weise zu verstehen. Und zwar ist ein Verstehen menschlicher Rede von Gott in Christus gemeint, durch welches der Adressat solcher Rede sich selbst und seine Wirklichkeit neu verstehen lernt. Der Glaube als ausgezeichnete Weise des Selbstverständnisses begreift sich aber passivisch als ein von Gott Erkannt-und Verstandenwerden. Auf ein letztes Offenbarwerden des eigenen Selbst richtet sich die eschatologische Hoffnung des Paulus in I Kor 13,12: „Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“
Søren Kierkegaard (1813 – 1855) hat den Glauben als Verstehen im Kontrast zur Sünde folgendermaßen bestimmt: Sünde ist Verzweiflung, sei es der Versuch, verzweifelt man selbst sein zu wollen, sei es der Versuch, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, oder schließlich die völlige Resignation in Geistlosigkeit und Abgestumpftheit (84). Der Glaube als das Gegenteil der Verzweiflung ist folgender Zustand des Selbst: „indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat“ (84: 10). Wiewohl der Glaubende im Glauben sich selbst neu versteht bzw. das gläubige Selbst sich selbst in Gott gründet, bleibt der Glaube doch ein Widerfahrnis, das sich bei aller Tätigkeit des Subjekts gerade nicht als eigenmächtige Tat, sondern nur als Gabe verstehen läßt.
Deuten
Neuere Entwürfe theologischer Hermeneutik bevorzugen anstelle der Kategorie des Verstehens den Begriff des Deutens. Dieser erfreut sich seit einiger Zeit auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften zunehmender Beliebtheit. Historisch verweist er auf die ursprüngliche Nähe der Hermeneutik zur Mantik. Gegenstand mantischer Deutung sind Träume und Zeichen der Götter. Zur Ambivalenz der Deutung gehören die Mehrdeutigkeit ihrer Gegenstände und der konstruktive bzw. hypothetische Charakter der Deutung. Dieser Umstand spielt beispielweise in der alttestamentlichen Josefserzählung eine Rolle. Die Geschichte, in der Josef zwei Mitgefangenen, dem Mundschenk und dem Bäcker des Pharao, ihre Träume deutet (Gen 40), trägt durchaus ironische Züge. Beide haben einen ähnlichen Traum, doch im einen Fall bedeutet er die Rehabilitierung des Mundschenks, im anderen Fall die Hinrichtung des Bäckers. Man kann aus dieser Erzählung durchaus einen gegenüber Traumdeutungen kritischen Unterton heraushören. Deuten heißt offensichtlich mehr mutmaßen als exakt bestimmen. Es haftet ihm etwas Subjektives und Willkürliches an.
Allerdings ist es gerade diese Offenheit, die den Deutungsbegriff hermeneutisch und kulturwissenschaftlich attraktiv macht, weil er zur Kritik an der Vorstellung von der Einsinnigkeit sprachlicher und nichtsprachlicher Phänomene paßt. „Deutungen sind Prädikationsvorgänge, d. h. Konstruktionen des menschlichen Geistes, in denen ,etwas als etwas verstanden wird‘“ (88: 10). Im Anschluß an Kant heißt Deuten, daß im Bewußtsein Bedeutungszusammenhänge hergestellt werden. Sinn und Bedeutung von Phänomenen sind demnach nicht für sich gegeben, sondern stets nur für ein deutendes Subjekt, das die Dinge deutet und ihnen Bedeutsamkeit zuschreibt. Mit Hilfe des Deutungsbegriffs soll also das Verstehen als Konstruktionsleistung verständlich gemacht werden.
Über Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften kehrt nun der Deutungsbegriff auch in die Theologie zurück. Das geschieht vornehmlich bei solchen Theologen, welche an das Erbe des Kulturprotestantismus anknüpfen und die Theologie als Kulturwissenschaft definieren oder zumindest im Kontext der Kulturwissenschaften verorten wollen. Mit der Einführung des Deutungsbegriff wird nicht nur die Abkehr vom Erbe der Dialektischen Theologie und ihrer fundamentaltheologischen Begründungsfigur der Selbstoffenbarung Gottes vollzogen, sondern auch an Versuchen einer metaphysischen Begründung von Religion Kritik geübt. Glauben und Verstehen erscheinen nun als Interpretations- und Konstruktionsleistung des menschlichen Subjekts. Religion läßt sich im Anschluß an Ernst Cassirer (1874 – 1945) als eine Form der Wirklichkeitsinterpretation neben anderen wie Sprache, Mythos, Kunst oder Wissenschaft interpretieren, d. h. als ein spezifisches Segment menschlicher Kultur.
Der Deutungsbegriff bei D. Korsch und U. Barth
Ein Schlüsselbegriff ist die Kategorie des Deutens z. B. für Dietrich Korschs Verständnis von Theologie als hermeneutischer Praxis (393: 125ff., 192ff.), das er im Anschluß an Cassirer als Symbolgebrauch versteht (126). Das christliche Glaubensbekenntnis ist nach Korsch „eine grundsätzliche, das Handeln orientierende, den Zehn Geboten parallel gehende Deutung des menschlichen Lebens überhaupt“ (393: 128), näherhin „eine Deutung des Deutens selbst“ (393: 127) und somit der „ausgezeichnete Fall religiösen Deutens überhaupt“ (393: 194). Auffällig ist die Verbindung der Hermeneutik mit der ethischen, nämlich am Handlungsbegriff orientierten Fundierung der Dogmatik. Korsch operiert an dieser Stelle mit dem Religionsbegriff, wobei Religion ebenfalls ethisch interpretiert wird. Sie nimmt nämlich „stets eine wichtige Orientierungsfunktion für das Handeln“ wahr (393: 193). Der Bezugspunkt von „Religion überhaupt“ wie auch der Ort des christlichen Gottesverhältnisses ist nach Korsch „das Ineinander von Selbstverhältnis und Weltverhältnis“ (393: 15). Das Gottesverhältnis aber, so formuliert Korsch thetisch, „ist die Dimension der Unbedingtheit in dem soeben analysierten Zusammenhang von Selbstverhältnis und Weltverhältnis“ (ebd.). Versetzt man sich „ – und sei es nur probeweise – “ in die Position der Unbedingtheit des Gottesverhältnisses bzw. nimmt man die Innenperspektive des (christlichen) Glaubens ein, dann „folgt daraus nichts weniger als die klassische Struktur der christlichen Dogmatik“ (393: 18), als da wäre die Einsicht in die Gegebenheit des Lebens (Schöpfung), in die „Anfälligkeit der Verhältnisse“ und das Wissen darum, daß das Leben in seiner Zerbrechlichkeit erhalten bleibt (Versöhnung), schließlich die „Gewißheit, daß Leben letztlich gelingt“ (Erlösung und Vollendung) (393: 18f.).
Programmatisch zitiert Korsch den Satz aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“, die Sprache sei das Dasein des Geistes (393: 19.271). Wie Hegels Religionsphilosophie läßt sich auch Korschs Dogmatik als subjektivitätstheoretische Variante natürlicher Theologie, als Naturalisierung des biblisch bezeugten Heils- und Offenbarungsgeschehens charakterisieren. Ausgangs-und ständiger Bezugspunkt ist das religiös gestimmte, sich selbst und seine Welt auslegende Subjekt. Von ihm wird Gott in der religiösen Sprache „eingeführt und vorgestellt als diejenige Instanz, in der die Sprachhandlung ,du sollst …‘ wurzelt“ (393: 36). Und wenn Korsch fragt: „wie können wir Gott so denken, daß wir an ihn glauben können?“ (393: 124), legt sich der Verdacht nahe, daß hier das Denken Gottes dem Glauben nicht nachfolgt, nicht von ihm angestoßen und herausgefordert wird, sondern daß umgekehrt der Gottesgedanke des Gott denkenden Subjekts zur Bedingung des Glaubens gemacht wird. Religion ist für Korsch ein Teil der Kultur, alle Kultur aber ist (menschliche) „Arbeit gegen den Tod“ (393: 271). Bezeichnenderweise mündet Korschs Argumentationsgang in den ethischen Appell: „Es muß [!] also ein Bewußtsein ausgebildet werden von dem Zusammenhang der Kultur mit den Mechanismen der Selbstdeutung, die die Wahl von Handlungen steuern. Solche Deutungsvollzüge erfüllen die Funktion der Religion“ (393: 273).
Das Verstehen des Glaubens kommt einzig als menschliche Aktivität des Deutens und Aneignens (393: 272) in den Blick. Daß das Verstehen des Glaubens ein Verstandenwerden, das Erkennen ein Erkanntwerden, das Deuten ein Ausgelegtwerden ist (vgl. I Kor 8,3; 13,12), bleibt hier ganz unbegriffen. Damit bleibt aber auch das Wirken des Heiligen Geistes unterbestimmt. Nach Luthers Auslegung des dritten Credo-Artikels bekennt der Glaubende, „daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Euangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiliget und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berüft, sammlet, erleuchtet, heiliget und bei Jesu Christo erhält im rechten einigen Glauben“ (BSLK 511f.). Daraus wird bei Korsch die „auf dem Grunde des Lebens ruhende [!] Verbundenheit mit Gott“ (393: 175). Die Grundpassivität des Glaubens wird zur Aktivität des sich selbst und die Welt deutenden Subjekts uminterpretiert, die biblische Dramatik von Gericht und Gnade, Heil und Unheil, Tod und Leben, Gesetz und Evangelium, Offenbarung und Verborgenheit Gottes, von Glaube und Anfechtung zu einem wohltemperierten religiösen Grundvertrauen heruntergekühlt.
Ähnlich liegen die Dinge bei Ulrich Barth. Auch er interpretiert Religion auf subjektivitätsphilosophischer Grundlage als spezifische Form der „Selbstdeutung“ (60: 19). „Religion – ihrem allgemeinsten Wesen nach – ist Deutung der Welt im Horizont der Idee des Unbedingten“ (60: 71). Dabei soll nicht substantialistisch oder hypostasierend die Existenz eines absoluten Sinnes behauptet werden, sondern Transzendenz und die „Unbedingtheitsdimension von Sinn“ gehen dem Subjekt indirekt am Vollzug seiner eigenen Struktur im Weltbezug auf (60: 70). Kulturhermeneutisch wird Religion als „Deutungskultur“ beschrieben, wobei die Philosophie der Religion „ein unveräußerliches Moment der Metaphysik des Geistes“ (60: 72) bildet.
Wie bei Korsch steht auch bei Barth das deutungsfreudige Subjekt im Zentrum seiner theologischen Konzeption. Sie steht und fällt freilich mit der Plausibilität der Subjektivitätsphilosophie, auf die sie sich beruft. Zwischen dem Subjektbegriff und einer Theorie der Subjektivität als einer Form von metaphysischer Abschlußtheorie ist bekanntlich zu unterscheiden. Wenn die Sinnhaftigkeit von Dogmatik oder Systematischer Theologie in der Moderne mit der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie steht und fällt, ist ihre Lage freilich einigermaßen brenzlig. Denn eben diese Form einer metaphysischen Letztbegründungstheorie steht seit längerem im Kreuzfeuer philosophischer Kritik (72). Insofern bleibt die Allianz von Subjektivität und Glaube, die heute auch in anderen Konzeptionen einer systematischen oder auch praktischen Theologie gelebter Religion beschworen wird, merkwürdig rückwärtsgewandt. Sie ist eher ein Symptom der Krise heutiger Theologie als ein Lösungsweg.
Theologische Probleme des Deutungsbegriffs
Philosophische und theologische Hermeneutik haben im 20. Jahrhundert darauf insistiert, daß für Aussagen, welche auf hermeneutischem Wege gewonnen werden, ein mit Gründen gerechtfertigter Wahrheitsanspruch erhoben werden kann. Wird die religiöse Deutung der Wirklichkeit jedoch einseitig als Leistung des Subjektes beschrieben, muß sich das auf den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens desaströs auswirken. Besonders deutlich zeigt sich das an Wilhelm Gräbs schroffer Entgegensetzung von symbolischer oder religiöser Sinnstiftung und objektiver Wirklichkeitsbehauptung. Glaubenssätze über die Welt, die Geschichte und den Menschen sind für Gräb keine objektiven Wirklichkeitsaussagen, sondern „Deutungen, vermöge derer wir die Welt, die Natur und die Geschichte, die an sich keinen Sinn haben [!], in einen solchen für uns überführen können“ (466: 18). Zu Recht kritisiert Jörg Lauster: „Wenn […] religiöse Deutungen tatsächlich Sinnstiftungen da leisten, wo es an sich keinen Sinn gibt, dann wäre eine symbolische Wirklichkeitsdeutung letztlich gleichzusetzen mit einer wirklichkeitskompensierenden Projektion und Fiktion“ (88: 15).
Zwar versteht auch Lauster unter Religion „eine ganz bestimmte Form, mit der Menschen ihr Leben deuten und interpretieren“ (88: 9), wobei in der religiösen Erfahrung „Erlebnisse unter Rückgriff auf eine übernatürliche, göttliche und transzendente Dimension der Wirklichkeit gedeutet“ werden, so daß sich religiöse Erfahrungen „von ihren Interpretationsmustern her als Transzendenzserfahrungen“ beschreiben lassen (88: 24). Zwischen kulturtheologischer Orientierung am Religionsbegriff und einer Offenbarungstheologie wie auch allgemein erkenntnistheoretisch möchte Lauster jedoch einen Mittelweg einschlagen. Aussagen über Phänomene versteht er zwar als „eine bewusste Konstruktion“, die aber „durch einen Gegenstand unserer Wahrnehmung hervorgebracht wird. Deutungen sind damit konstruierte Reaktionen, sie sind Antwort darauf, wie wir Wirklichkeit erleben“ (88: 14). Analog deutet er jede Transzendenzerfahrung als eine bestimmte Art der Selbsterfahrung, in der sich aktive Deutungsleistung und passives Bestimmtsein verbinden. „Das Subjekt erfährt sich von der Wirklichkeit so angegangen, dass es in seiner Interpretation dieser Wirklichkeit nicht anders kann, als jene Deutungsmuster des Göttlichen, des Heiligen, des Übersinnlichen und des Übernatürlichen anzuwenden. Der Begriff der Transzendenz fungiert dabei als Oberbegriff, der es erlaubt, diese Vielfalt der verschiedenen Erscheinungsformen der religiösen Erfahrung zusammenzufassen“ (88: 25).
Auch wenn Lauster das passivische Moment des Glaubens zutreffend als ein Ergriffen- und „Überwältigtwerden“ (ebd.) beschreibt, bleibt das extra nos des Glaubens doch unterbestimmt. Das hängt schon damit zusammen, daß von Lausters vagem Transzendenzbegriff kein schlüssiger Weg zum Gedanken des sich selbst offenbarenden Gottes führt, der für das biblische Gottes- und Glaubensverständnis schlechthin konstitutiv ist. Theologische Hermeneutik beginnt erst dort, wo der Gedanke gewagt wird, daß alles Deuten des Glaubens im Gedeutetwerden durch Gott gründet (71: 57). Wie bei Korsch, Barth oder Gräb muß auch bei Lauster der Versuch, Theologie als Kulturwissenschaft der christlichen Religion oder als einen Sonderfall von Religionswissenschaft zu definieren, mißlingen. Er scheitert u. a., wie Dalferth mit Recht einwendet, am „Zerfließen des Religionsbegriffs“ (71: 16).
Statt sich an einem vagen Begriff von Religion und Transzendenz zu orientieren, tut theologische Hermeneutik besser daran, vom Begriff des Evangeliums bzw. von der „Kommunikation des Evangeliums“ auszugehen (71: 90ff), die immer auch als dessen bzw. als Gottes „Selbstkommunikation“ zu verstehen ist (71: 110 ff.).
Der Überstieg auf Gott als Subjekt semiotischer und interpretatorischer Prozesse ist aus Sicht eines evangelischen Glaubensverständnisses unaufgebbar. Die Synthese von Semiotik und theologischer Hermeneutik wird dadurch allerdings zunächst erschwert. Auch wenn der sprachliche Ausdruck „Gottes Selbstinterpretation“ auf kein vorinterpretatives Offenbarungsereignis verweisen soll, sondern Offenbarung nach Dalferth stets in und mit der christlichen Kommunikation des Evangeliums stattfindet (71: 116), reimen sich doch die Selbstmächtigkeit des Wortes Gottes und die Rede von der „Sache“ des Evangeliums zugegebenermaßen nicht ohne weiteres mit einer semiotischen Theorie der Interpretation zusammen. Bei Dalferth werden die gedanklichen Spannungen, zeichentheoretisch betrachtet, durch den Wechsel von der semiotischen Begrifflichkeit in die religiösmetaphorische Sprache markiert, die vom schöpferischen Wirken Gottes, seiner lebensverändernde Kraft, seinem Urteil und seiner Gegenwart spricht. Dieser Wechsel der Sprachspiele verweist auf die Differenz zwischen Außen- bzw. Fremdperspektive und Binnenperspektive der Theologie als Glaubenswissenschaft (71: 124), die nach Dalferth in jeder theologischen Disziplin zu kombinieren sind (71: 128). Sein Hinweis auf das „unvermischt und ungetrennt“ der chalcedonensischen Zweinaturenlehre (71: 135) ist noch keine Lösung der offenen Theorieprobleme. Der kulturprotestantische Weg ist jedoch keine überzeugende Alternative.