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Samstag, 30. Juli 1938

Berlin-Zehlendorf,

Am Großen Wannsee

»Was haltet ihr eigentlich von der Kapelle?«, fragte Olaf.

»Also ich weiß nicht, die spielen immer nur diese Schlager«, entgegnete Charlotte. »Ein bisschen Swing könnte auch nicht schaden, oder?«

»Sie fürchten wahrscheinlich die zivilen Aufpasser«, meinte Rosa. »Seitdem die Nazis Jazz und Swing auf den Index gesetzt haben, sollen die ja immer mal wieder auf Tanzveranstaltungen auftauchen.«

Charlotte fiel sofort ihr Elternhaus ein. Auch ihr Vater, der Vorzeige-Nazi, redete ständig von entarteter Musik, wenn er Jazz meinte und von Negermusik, wenn er sich ganz präzise ausdrücken wollte. Ihr war es so peinlich.

»Ich finde es übrigens schön, dass wir beide zusammen an diesem Wochenende dienstfrei haben«, sagte Rosa, während sie Charlotte ihre Hand auf den Unterarm legte. »Das passiert ja wirklich selten.«

»Ich hatte ursprünglich gar nicht frei«, entgegnete Charlotte, »nur wegen der Umbaumaßnahmen haben sie den Plan geändert.«

»Ach ja, die Umbaumaßnahmen. Da machen sie ein richtiges Geheimnis drum. Ich habe gehört, dass die SS Räume und Betten bei uns okkupierte hat.«

»Ja, das Gerücht kenne ich auch. Angeblich als Lazarettabteilungen für Angehörige der Leibstandarte in der Kadettenanstalt.«

»Zum Glück haben wir mit denen nichts am Hut, aber wer weiß, was noch kommt. Man muss immer an das Schlimmste denken.«

Charlotte schob sich das letzte Stück ihrer Schmalzstulle in den Mund und nahm einen Schluck von ihrem Getränk.

»Komm Lotte, lass uns mal eine Runde drehen«, sagte Olaf, erhob sich und umrundete den Tisch. »Du erlaubst doch, Liebling?«

»Na, ich weiß nicht...« Rosa schmunzelte, während Olaf Charlotte sanft hochzog und mit ihr zur Tanzfläche ging. Aus dem Augenwinkel beobachtete Charlotte, wie Heinz ihr vom Nebentisch aus hinterher sah. Auch Olaf konnte gut tanzen. Nicht nur deswegen beneidete sie Rosa um ihren Freund. Charmant, humorvoll und gutaussehend. Als Elektro-Ingenieur bei der AEG im Wedding verdiente er darüber hinaus gutes Geld. Bald wollen sie heiraten und zwei Kinder kriegen und irgendwo ins Umland ziehen, wie Rosa ihr anvertraut hatte. So ähnlich stellte auch sie sich ihre Zukunft vor, nur dass sie unter keinen Umständen aufs Land ziehen würde. Sie brauchte einfach das städtische Leben, schon Steglitz war ihr viel zu ruhig. Aber irgendwann, daran glaubte sie fest, würde sie auch wieder Glück haben und jemand finden, mit dem sie in Berlin ihr Leben teilen könnte. Sie musste einfach nur Geduld haben.

»Vielen Dank für den Tanz, Olaf«, sagte Charlotte, als er sie wieder zum Tisch zurückführte. »Es hat mir viel Spaß gemacht.«

»Ganz meinerseits, Lotte.«

Sie sprachen noch eine Weile, dann wollte Rosa noch einmal tanzen.

»Man, das wird ja richtig anstrengend«, lachte Olaf. »Ich gehe nie wieder mit zwei Frauen auf ein Sommerfest.«

Dann folgte er seiner Freundin, die schon auf dem Weg zur Tanzfläche war. Charlotte blickte den beiden hinterher. Ein tolles Paar! Sie wollte sich gerade wieder ihrem Getränk zuwenden, als sie erstarrte. Am Rand der Tanzfläche standen die SA-Männer mit Biergläsern in der Hand und pöbelten die tanzenden Paare an. Sie hatten also doch Einlass bekommen. Charlottes Stimmung verschlechterte prompt. Gedanken an das, was gerade in Deutschland vorging, drängten sofort wieder in ihren Kopf. Selbst Sommerfeste wurden von diesen braunen Bastarden nicht mehr verschont. »Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang zum See, Charlotte?« Heinzs Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie schluckte, holte tief Luft. Spaziergang zum See? Sie hatte keine Ausrede parat. Warum auch? Verlegen lächelnd erhob sie sich. Eigentlich eine gute Idee, nicht nur, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie schlenderten nebeneinander zum Wasser hinunter. Es war stockdunkel geworden und der Himmel war mit Sternen übersät wie ein sommersprossiges Gesicht im Juli. Kaum hörbar schoben sich die schmalen Wellenstreifen schmatzend ans Ufer. Ein beleuchteter, weißer Haveldampfer verschwand soeben hinter Schwanenwerder.

»Ich möchte aber nicht so lange bleiben, sonst machen sich meine Freunde Gedanken«, bemerkte Charlotte, »Sie wissen nicht, wo ich bin.«

»Nein, ich ja auch nicht«, entgegnete Heinz. »Mein Freund wird sich auch fragen, wo ich bin, wenn er vom Tanzen zurückkommt. Er hat gerade das erste Mädel aufgefordert.«

Heinz ging zum Ufer und bückte sich. »Das Wasser ist schön warm. Wenn wir Badezeug dabeihätten, könnten wir eine Runde Schwimmen.«

»Im Dunkeln hätte ich Angst. Zum Baden bin ich meistens am Schlachtensee.«

»Da würde ich gerne einmal mitkommen.«

Sie schlenderten den schmalen Weg am Ufer entlang. Kurz darauf erreichten sie eine Baumgruppe, unter der eine Bank stand.

»Sehen Sie mal, Charlotte, ein schattiges Plätzchen.« Heinz freute sich sichtlich über seinen Scherz und steuerte auf die Bank zu. »Wollen wir uns etwas setzen?«

»Eigentlich würde ich gerne noch ein bisschen laufen.« Charlotte spürte die Hitze in sich aufsteigen.

»Ach kommen Sie, die Bank steht doch nicht umsonst da.«

Heinz nahm Charlotte an die Hand und zog sie sanft hinter sich her. Nachdem er sich gesetzt hatte, klopfte er mit der Handfläche auf den freien Platz neben sich. »Na setzen Sie sich schon, Charlotte, ich beiße nicht.« Zaghaft setzte sie sich. Heinz hob einen Stein auf, schleuderte ihn ins Wasser und schaute ihm wortlos hinterher.

»Ist es nicht romantisch hier?«, fragte er einige Sekunden später und legte seine Hand auf ihre Schulter.

»Ja«, hörte sie sich mit belegter Stimme sagen. Ihr Herz begann zu rasen. Sie war nie schüchtern gewesen, hatte nicht das erste Mal den Arm eines Mannes auf ihren Schultern gespürt, aber irgendetwas blockierte sie. Im Hintergrund hörte sie die Kapelle einen Foxtrott spielen.

»Wir könnten eigentlich ‚Du‘ zueinander sagen, was meinst du, Charlotte?« Seine Finger begannen, ihre Halspartie zu kraulen. »Meinetwegen«, entgegnete sie heiser ohne ihn anzuschauen und presste ihre Hände auf die Oberschenkel. Es herrschte das blanke Chaos in ihrem Kopf. Einerseits fühlte sich zu diesem Mann hingezogen, andererseits mahnte eine innere Stimme sie zur Zurückhaltung. Und diese Stimme behielt immer noch die Oberhand.

»Was machst du beruflich, Heinz?« Charlotte hatte sich diese Frage schon seit geraumer Zeit gestellt, jetzt konnte sie damit noch etwas Distanz bewahren.

»Oh, ich arbeite in einem riesigen Projekt«, begann er mit stolzem Unterton. »So etwas hat die Welt noch nicht gesehen.«

»Wirklich? Und was ist es?«

»Wir bauen auf der Insel Rügen eine gigantische Wohnanlage für KDF-Urlauber. 10000 Zimmer, Schwimmbäder, Kino, Festhalle. Alles was ein entspannter Urlaub benötigt. Sogar Anlegestellen für Ausflugsdampfer sind vorgesehen. Die gesamte Anlage besteht aus acht Gebäudeblöcken, keine 150 Meter vom Strand entfernt, insgesamt viereinhalb Kilometer lang und für bis zu 8000 Familien. Eine Idee des Führers persönlich.«

Heinzs Augen leuchteten stolz, während Charlotte irritiert über seinen letzten Satz nachdachte.

»Und was machst du bei diesem Projekt?«

»Bauleiter für den dritten Block. 500 Meter lang, sechs Stockwerke hoch. Ich bin dort für die Siemens-Bauunion beschäftigt. Realisiert wird das Ganze übrigens von der Deutschen Arbeitsfront.«

»Und über das Wochenende bist du nach Berlin gekommen?«

»Na ja«, Heinz räusperte sich, »ich wohne schon noch in Berlin und bin im Augenblick dreimal die Woche vor Ort. Den Rest erledige ich von Berlin aus. Demnächst beziehe ich allerdings ein Zimmer in Binz und werde dort von Montag bis Freitag wohnen. Bekomme einen kleinen Zuschuss und der Verdienst ist sowieso grandios. Also ich sage dir, für einen Bauingenieur gibt es kaum eine reizvollere Aufgabe.«

Charlotte nickte, ohne seine Euphorie zu teilen. Ein Nazi-Projekt, von dem er schwärmte! Wahrscheinlich gehörte es in die Reihe dieser größenwahnsinnigen Einfälle Hitlers, die im April in allen Zeitungen des Reiches angekündigt wurden. Der Umbau der Hauptstadt zur Metropole der Zukunft! Und dieser Mann neben ihr war dabei. Sein glühender Enthusiasmus irritierte sie zutiefst. Alles was er sagte ließ nur den einen Schluss zu, dass er diesem menschenverachtenden System äußerst aufgeschlossen gegenüberstand. Charlotte erhob sich und ging ein paar Schritte zum Ufer des Sees. Musik, vermischt mit ausgelassenem Gekicher, drang vom Clubgelände herüber, das Fest schien auf seinen Höhepunkt zuzusteuern. Sie fragte sich, ob Olaf und Rosa sich tatsächlich über ihren Verbleib Gedanken machten. Vielleicht sollte sie wieder zurückkehren. Plötzlich vernahm sie das Knacken von Ästen. Bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie seine rechte Hand auf ihrer Taille. Gleichzeitig begann er mit den Fingern der linken Hand ihren Nacken zu massieren. Ein warmer Schauer lief ihren Rücken hinunter. Sie wollte sich lösen, verharrte aus unerfindlichem Grund jedoch. Sie spürte seinen heißen Atem im Nacken. Seine Lippen. Sie wandte ihm den Kopf zu und erkannte schemenhaft die Konturen seines Gesichtes. Sein Mund näherte sich jetzt ihren Lippen. Sie roch die Bierfahne, gleichzeitig sein schweres Parfüm. Warum wehrte sie sich nicht? Er küsste sie. Zurückhalten zunächst, dann immer fordernder. Sie ließ es geschehen, blieb jedoch passiv. Lange hatte sie kein Mann mehr geküsste. Jetzt fühlte sie, wie sehr es ihr gefehlt hatte. Aber dieser Mann war der Falsche, das wusste sie seit ein paar Minuten. Kein Mann für die Zukunft, nicht einmal für eine kurze Affäre! Oder vielleicht doch? Seine Hände begann ihren Körper zu ertasten, jeden einzelnen Wirbel ihres Rückens, ihre Taille, die Schultern. Sie ließ es geschehen. Seine linke Hand schob sich behutsam in den Ausschnitt ihres blauen Sommerkleides. Im selben Moment spürte sie seine Erektion. Nein, schoss es ihr durch den Kopf, nicht das! Reflexartig ergriff sie sein Handgelenk, um das weitere Vordringen seiner Hand zu stoppen.

»Ich möchte das noch nicht. Ich hoffe, du verstehst das. Wir kennen uns doch erst ein paar Stunden.«

»Aber Charlotte, hab dich doch nicht so. Ich habe mich in dich verliebt. Was ist denn schon dabei?«

Heinz machte keine Anstalt, seine Hand zurückzuziehen. Im Gegenteil, sein Zeigefinger glitt über den Ansatz ihrer linken Brust. Vom anfänglichen Kribbeln in ihren Bauch war nichts mehr zu spüren. Ihre Gefühle waren urplötzlich abgestorben.

»Ich möchte es wirklich nicht«, entschied sie mit festem Ton und versuchte, seine Hand zu entfernen. Ohne auf sie einzugehen, drang er weiter in die Schale ihres BHs ein und legte die Hand über ihre Brust. Der warme, elektrisierende Schauer, der noch vor wenigen Minuten jede Ecke ihres Körpers erreicht hatte, war einem eiskalten Wasserstrahl gewichen, der das Blut in ihren Adern erstarren ließ.

»Lass mich sofort los«, rief sie barsch und versuchte, sich mit allen Kräften aus seiner Umklammerung zu lösen, doch es gelang ihr nicht. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fühlte Übelkeit und war kurz davor, sich zu übergeben. Als Heinz ihr Kleid mit einem Ruck aufriss, sodass die beiden ersten Knöpfe am Ausschnitt abgetrennt wurden, erschrak sie heftig. Reflexartig versuchte sie, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken. Mit einer heftigen Körperbewegung gelang es hier, sich aus seiner Umklammerung zu lösen und wollte losrennen, stolperte jedoch über eine Baumwurzel und fiel zu Boden. Heinz warf sich sofort über sie. Sie spürte einen starken Schmerz an der Schulter, wollte schreien, aber er presste ihr seine Hand auf den Mund, sodass nur ein Gurgeln herauskam.

»Warum machst du solche Umstände, Charlotte?«, fragte er mit vor Hohn triefender Stimme, während er ihr mit Gewalt den BH herunterriss. Sie erstarrte vor Angst, war plötzlich wie gelähmt. Seine schweißnasse Hand hatte er auf ihren Mund gepresst. Hilflos, mit aufgerissenen Augen, musste sie mit ansehen, wie sich sein Kopf auf ihren Körper herabsenkte. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrer rechten Brustwarze. Ein Blitz durchzuckte ihren Körper, sämtliche Muskeln spannten sich an. Ihr gelang es, den linken Arm zu befreien und ihre Fingernägel in seine Ohrmuschel zu krallen. Als sie mit aller Gewalt an seiner Ohrmuschel zog, schrie er vor Schmerzen auf und ließ von ihr ab. Im selben Moment konnte sie auch die rechte Hand befreien und auf seine Kehle drücken. Röchelnd rollte er von ihr herunter. Sie schwang sich hastig auf die Beine, dann trat sie ihm mit aller Wucht in die Genitalien. Er schrie ein weiteres Mal auf.

»Du widerliches Schwein!«, brüllte sie ihn an und spuckte auf ihn herab. Dann lief sie, von Panik getrieben, zurück zu den Tischen.

»Lotte, was ist passiert, wo warst du?« Rosa sprang entsetzt auf, als sie ihre Freundin erblickte. »Dein Kleid ist ja vollkommen zerrissen und schmutzig.« »Ich will hier weg«, rief Charlotte unter Tränen, während sie mit beiden Händen versuchte, ihre Kleiderfetzen zusammenzuhalten. »Ich will hier weg! So schnell wie möglich.«

Rosa hatte ihre Freundin in beide Arme genommen, um sie zu beruhigen. Auch Olaf war aufgesprungen. Viele Gäste blickten entsetzt zu ihnen hinüber, auch der einzelne junge Mann am Nebentisch.

Beruhige dich doch, Lotte.« Rosa streichelte ihr über das Haar. »Was ist passiert? Sag es mir.« »Er hat versucht, mich zu...« Charlotte wurde von einem Weinkrampf erschüttert.

»...zu vergewaltigen?« Rosa streichelte ihren Nacken. Charlotte nickte stumm.

»Wer war es?«, fragte Olaf in ruhigem Ton, als sie wieder zur Ruhe gekommen war. »Der Blonde vom Nachbartisch?«

Charlotte nickte schluchzend.

»Ich schnappe mir den Kerl. Wo ist er?«

»Am Ufer«, stammelte Charlotte. Olaf drehte sich um und rannte zum See hinunter, verfolgt von den neugierigen Blicken vieler Gäste. Heinz hockte direkt am Ufer, um seine eingerissene Ohrmuschel mit Wasser zu kühlen. Blut lief ihm am Hals hinunter und verschwand in seinem Hemdkragen. Als er Olaf hinter sich bemerkte, versuchte er, sich aus der Hocke zu erheben und sich umzudrehen. Noch in seiner Bewegung trat Olaf an ihn heran und schlug ihm die linke Faust ins Gesicht. Mit aufgerissenen Augen und einem Gurgeln auf den Lippen sackte Heinz in den schlammigen Boden. Olaf warf ihm einen verächtlichen Blick zu, wendete sich wortlos ab und ging zurück. »Was hast du gemacht, Olaf?«, fragte Rosa mit besorgter Miene.

»Ich habe diesem Mistkerl eins in die Fresse gehauen. Er liegt gerade im Wannsee und kühlt seine Birne.«

Olaf wandte sich Charlotte zu, die geistesabwesend vor einer Limonade saß. »Wie geht es dir, Lotte? Ich schlage vor, wir bestellen eine Droschke und fahren nach Hause.«

Charlotte nickte geistesabwesend.

Am Ende Der Dämmerung

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