Читать книгу Am Ende Der Dämmerung - Ulrich Paul Wenzel - Страница 4
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ОглавлениеFreitag, 10. Dezember 1943
Paris, 9. Arrondissement,
Rue Lamartine
Am frühen Abend
Das Lächeln!
Sekundenlang verharrte ihr Blick auf dem Bild. Es war zu einem Ritual geworden, dem sie sich trotz der anhaltenden Schmerzen und der nicht enden wollenden Nächte ohne Schlaf nicht entziehen konnte. Sie war es ihm schuldig gewesen.
Doch diesmal war es anders! Sie spürte eine Veränderung. Eine Kraft, die dieses Lächeln in ihr freisetzte. Dasselbe Lächeln, das ihr monatelang Tränen in die Augen getrieben, sämtliche Funktionen ihres Körpers gelähmt hatte. Die Zeit hatte tiefe Wunden in ihrer Seele hinterlassen und ihr Leben auf den Kopf gestellt. Ihren anhaltenden, substanzlosen Gedanken war jegliche Struktur abhandengekommen. Ihr Dasein schien sich zu einer leblosen Hülle verwandelt zu haben, gleichsam eines morschen Baumstammes, der nur noch von der modernden Rinde zusammengehalten wird.
Hatte sie das Tal durchschritten? Ging es jetzt endlich wieder aufwärts in ihrem Leben?
Sie spürte plötzlich, dass die erdrückende Hilflosigkeit, die sie umklammert hatte, wie die mächtigen Arme eines Kraken, einer Entschlossenheit gewichen war, die sie sich nicht mehr zugetraut hatte. Ihr Leben, dem sie kaum mehr eine Bedeutung zugemessen hatte, dass nur noch einen nicht enden wollenden Schrecken für sie bereitgehalten zu haben schien, war plötzlich wieder auf Anfang gesetzt worden.
Über ein Jahr lang hatte sie gelitten, war in fast jeder Nacht schweißgebadet aufgewacht. Verschwommene Bilder von Daniels geschändetem Körper hatten erbarmungslos an ihr gerüttelt und ihr den Schlaf entrissen. Bilder, die sich in ihrem Kopf fest verankert hatten und ständig präsent waren.
Chantal nahm das Bild vom Regal, presste ihre Lippen auf die Glasfläche und die schloss die Augen.
Daniels Leben wurde in der Rue des Saussaies ausgetreten. In einem der vielen Kellerräume, in denen die Gestapo ihr grausames Handwerk betrieb. Es waren unvorstellbare Foltermethoden, das wusste Chantal von den Berichten der wenigen Leidensgenossen, die in die Fänge der Boches geraten waren und das unglaubliche Glück hatten, diese Prozedur zu überleben. Daniel war nicht unter den Glücklichen. Nach allem was sie wusste, musste sein Tod eine Erlösung für ihn gewesen sein.
Chantal stoppte ihre schmerzenden Gedanken. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck stellte sie das Bild zurück an seinen Platz und spürte im selben Moment den Zorn, der aus ihren Leiden erwachsen war. Der Energien in ihr freisetzte, die sie jetzt in ihrem Kampf gegen die Boches nutzen musste.
Es war im Sommer vor fünf Jahren in einem kleinen Cafe in Cayeux-Sur-Mer. Bis heute erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Daniel. Er hatte mit Freunden plaudernd am Nebentisch gesessen und sie nach der Zuckerdose gefragt. Sein sinnlicher, melancholischer Blick, die leuchtenden, braunen Augen, die lockigen, fast schwarzen Haare – sie hatte das Kribbeln in ihrem Bauch kaum noch ertragen können.
Das Pfeifen des Teekessels riss Chantal aus ihren Gedanken. Sie goss das kochende Wasser in die mit einem gefüllten Teesieb bereitgestellte Tasse. Schnell breitete sich das wohltuende Aroma aus Pfefferminze, Koriander und Fenchel in der kleinen Küche aus, die sie liebevoll mit Daniels alten englischen Möbeln eingerichtet hatte und in der sie sich öfter aufhielt als in den beiden anderen Räumen ihrer Wohnung.
Chantal führte die heiße Teetasse behutsam an ihre Lippen, nippte am Tassenrand und nahm einen vorsichtigen Schluck. Der Tee brannte ihr auf der Zunge. Aus der Wohnung des Ehepaars Devaux direkt über ihr im dritten Stock, hörte sie wieder die Opernmelodien, die ihr oft über die langen und einsamen Abende hinweghalfen. Sie genoss die Musik geradezu als hochwillkommene Abwechslung zu den schauderhaften Militärmärschen, mit denen der Pariser Rundfunk die Bevölkerung Tag für Tag malträtierte. Wie oft hatte sie sich ein Grammofon oder einen dieser elektrischen Plattenspieler gewünscht, um die Musik abspielen zu können, die sie gerne hörte. Django Reinhardt, zum Beispiel. Aber Daniels Grammofon hatten sie konfisziert und sie selbst hatte kein Geld dafür.
Chantal erinnerte sich an den frostigen Dezembermorgen, an dem sie mit zwei riesigen Koffern, erschöpft aber unendlich glücklich, in Amiens eingetroffen war. Ein Tag, den sie niemals vergessen würde. Daniel hatte mit einem Tannenzweig mit einer roten Schleife auf dem Bahnsteig gestanden und sie minutenlang in seinen Armen gehalten. Sie wäre vor Glück fast zerflossen.
Daniel arbeitete als Anwalt in einer, wie er sagte, mäßig erfolgreichen Kanzlei und besaß eine kleine, gemütliche Wohnung im Zentrum von Amiens. Eigentlich war es nur ein großes Arbeitszimmer gewesen, das von einem mächtigen, achtzig Jahre alten englischen Schreibtisch samt einer ebenso antiken Schreibmaschine dominiert wurde. Vor den mit Büchern überladenen Regalen stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften. In den Erker hatte er ein in die Jahre gekommenes, giftgrün bezogenes Sofa gepresst, auf dem sie sich an den kalten Winterabenden mit Tee und Keksen aneinander kuschelten und der Musik lauschten. Nebenan gab es ein winziges Schlafzimmer, in dem gerade einmal ein französisches Bett, ein Stuhl und ein kleiner Kleiderschrank Platz fanden und direkt gegenüber, auf der anderen Seite des schmalen Flurs befand sich die Küche. Nur langsam hatte Chantal sich daran gewöhnen können, dass sie kein eigenes Bad hatten. Dafür hatte Daniel eine kleine Zinkbadewanne gekauft, die in der Küche stand und am Wochenende suchten sie eine öffentliche Badeanstalt auf.
Es war ein wunderschöner Neuanfang in Frankreich, nach den Schrecken der Monate zuvor. Daniels Freunde hatten sie aufgenommen, als wäre sie immer schon eine von ihnen gewesen. Sie kochten gemeinsam, veranstalteten Lesestunden und gingen oft tanzen. Das einzige Manko war, dass sie zunächst keine Arbeit gefunden hatte und auf Daniel angewiesen war.
Chantal ummantelte die heiße Tasse mit beiden Händen und betrachtete nachdenklich das vom spärlichen Licht in ein schmutziges Braun getauchte Quergebäudes im Hof. Der bröckelnde Putz bedeckte nur noch die Hälfte der Fassade. Was ist aus Frankreich geworden, fragte sie sich immer wieder beim Blick aus diesem Fenster. Aus Paris, der Stadt der Kunst, der Mode, der Düfte und der Liebe? Diese Fassade schien irgendwie als Antwort zu taugen. Schon lange wusste sie, dass es die Stadt, in die sie sich einst ebenso verliebt hatte, wie in Daniel, nicht mehr gab.
Wehmütig erinnerte Chantal sich an ihren ersten Besuch in Paris. Direkt nach ihrer Ankunft in Frankreich hatte sie Daniel bekniet, mit ihr nach Paris zu reisen. Immer wieder, aber er hatte sie ständig auf den Sommer vertröstet. Im Winter wäre auch Paris nur eine Stadt wie viele andere, sie solle sich etwas gedulden. Erst im Sommer würde Paris sein ganzes Flair entfalten und so sein, wie die Welt sie liebte. Sie hatte es kaum erwarten können.
Chantal trank von dem Tee. Paris war tatsächlich ein einziger Traum gewesen. Die Stadt hatte viel mehr an schönen Dingen zu bieten, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Gleich nach dem ersten Frühstück mit
Cafe au Lait und Croissants waren sie an den Seinequais entlang geschlendert, hatten in der sanften Nachmittagssonne auf der Ruede
Bourdonnais Moules a la Creme mit einem Glas Weißwein genossen und waren am Abend zum Montmatre hinaufgestiegen.
Überhaupt Montmatre, die hübschen Fassaden in den schmalen Gassen, die schillernden Menschen, die intensiven Farben wohin man schaute. Sie konnte gut nachvollziehen, warum sich so viele Maler und Künstler von dieser Atmosphäre hatten inspirieren lassen.
Die Nächte hatten sie in einem einfachen, aber sauberen Hotel in der Nähe von Sacre Coeur verbracht. Lange hatten sie über die knarrenden Betten gelacht, in denen sie sowieso kaum zum Schlafen kamen. Als sie am Sonntagnachmittag total übermüdet im Zug nach Amiens saßen, stand für sie fest, irgendwann in naher Zukunft mit Daniel nach Paris zu ziehen. Sie konnte von der Energie dieser Stadt nicht genug bekommen.
Chantal erhob sich vom Küchentisch und ging in das Wohnzimmer. Beim Anblick des dominanten, mit einer grünen Bordüre abgesetzten Kachelofen fiel ihr ein, dass sich ihr Kohlenvorrat im Keller dem Ende zuneigte. Wahrscheinlich werden Kohlen wieder kaum aufzutreiben sein, aber Roger würde ihr bestimmt helfen können. Er hatte für alle Probleme eine Lösung. Es waren schwierige Zeiten und wie alle Franzosen musste sie von Tag zu Tag denken, besonders, wenn es um Brennstoff und Lebensmittel ging.
Chantal legte ein paar Holzkohlen nach. Nicht einmal ein Jahr nach dem Paris-Wochenende kam der Schock, von dem sie sich immer noch nicht erholt hatte. Die Nachricht im Radio hatte ihr förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Die deutsche Wehrmacht war in Frankreich einmarschiert und hatte die französische Grenze mit einer erschreckenden Leichtigkeit überrollt. Sie erinnerte sich noch gut an das Schwindelgefühl, mit dem sie sich auf das Bett legen musste. Angst stieg in ihr auf, sie hätte Daniel in diesem Moment so dringend gebraucht, aber der war mit einem Kollegen unterwegs gewesen. Erst am späten Abend hatten sie darüber reden können und gleichzeitig aus dem Radio erfahren, dass die Deutschen schon vor Paris standen. Die folgende Nacht wurde zum Albtraum. Die erste von unzähligen Nächten, in denen sie kein Auge zubekam. Schnell wurde ihr klar, dass die Nazis das öffentliche Leben Frankreichs denselben ideologisch geprägten Regularien unterwerfen würden, wie sie es in Deutschland getan haben und das alle Menschen, die ihnen politisch oder weltanschaulich nicht gesinnt waren, ein beispielloses Martyrium erwartete. Besonders Menschen mit jüdischer Abstammung.
Kurz nach dem Einmarsch hatten sie Daniel gedrängt, Paris ein weiteres Mal zu besuchen. Sie wollte sich von dem Schrecken ein eigenes Bild machen. Es hatte ihr fast das Herz gebrochen. Auf den ersten Blick schien sich kaum etwas verändert zu haben. Das Leben pulsierte, in den Straßencafés und Restaurants gab es kaum freie Plätze. Auch die Geschäfte und Kaufhäuser waren so stark frequentiert wie zu Friedenszeiten. Doch schnell registrierte sie die riesigen, blutroten Banner mit den schwarzen Hakenkreuzen in weißen Kreisen. Wie Teufelszungen säumten sie die Geschäftsstraßen und verunstalteten die eindrucksvollen klassizistischen Fassaden des großen Pariser Stadtplaners Haussmann.
Das charmante Gesicht der Stadt war zu einer Fratze mutiert. Und noch etwas anderes hatte das Bild verändert. Verstört registrierte Chantal die vielen hochrangigen Wehrmachtsangehörigen in ihren graugrünen Uniformen, freundlich und zuvorkommend und oft schon mit einer Französin an ihrer Seite. Oder die einfachen Soldaten, die sich mit nackten Oberkörpern und Schiffchen auf den Köpfen bei Bier und Grillwürsten auf den Parkflächen der Stadt vergnügten. Ein surreales Bild, dass sie lange Zeit nicht aus ihrem Kopf bekam.
Sie machten sich auf den Weg zum Placede l‘Ètolle. Je näher sie kamen, desto lauter schallte ihnen deutsche Marschmusik entgegen und die Menschenmenge, die sich eingefunden hatte, wurde von Sekunde zu Sekunde dichter. Dann ging es nicht mehr weiter. Zwischen den Köpfen hindurch versuchte Chantal einen Blick in Richtung Triumphbogen zu werfen und zuckte im selben Moment zusammen. Eine deutsche Militärparade, die sich wie ein grauer Lavastrom ihren Weg bahnte, verfolgt von zumeist erschrockenen, aber auch euphorischen Blicken der Franzosen im Spalier. Übelkeit stieg in ihr auf, sie musste sich abwenden. Auf dem Weg zum Gare du Nord, von wo aus sie zurück nach Amiens fahren wollten, fiel ihnen ein Plakat auf, das einen von französischen Kindern umringten deutschen Soldaten zeigte. Entsetzt blieben sie stehen.
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Sie wollte losschreien, hatte ihre Scham und Wut kaum noch unterdrücken können, doch Daniel nahm sie in den Arm und beruhigte sie. Es war ein entsetzlicher Tag gewesen und sie hatte es zutiefst bereut, ein weiteres Mal nach Paris gekommen zu sein.
Chantal schaute auf die Uhr. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Ein prüfender Blick in den goldgerahmten Spiegel auf dem Flur gab ihr das Gefühl, gut auszusehen. Eigentlich spielte das kaum noch eine Rolle in einer Zeit, wo es nicht mehr um das Aussehen, sondern ausschließlich um das nackte Überleben ging. Aber vielleicht wollte sie gerade deshalb schön sein und genau genommen musste sie es heute Abend auch sein.
Es hatte sie große Mühen gekostet, ihre rotblonden, halblangen Haare, die sie mit Seitenscheitel trug, am Hinterkopf mit einem geschwungenen Knoten zu schließen. Als Betonung hatte sie die Markasit-Ohrclips und das dezente Silbercollier mit den Glasperlen gewählt. Ihr Blick wanderte nach unten. Das kaminrote Bauwollkostüm mit dem durchgeknöpften Oberteil und dem Schalkragen, das sie erst vor einer Woche erstanden hatte, saß perfekt. Es hatte sie viel Geld gekostet, aber jetzt war sie überzeugt, dass es das wert war. Mit einem knappen Lächeln schlüpfte sie in den grauen Baumwollmantel und wickelte sich den roten Schal um den Hals. Nachdem sie einen letzten Blick in ihre Handtasche geworfen hatte, nahm sie die Hausschlüssel und zog vorsichtig die Wohnungstür zu. Sie schloss zweimal ab und ging vorsichtig das Treppenhaus hinunter. Obwohl sie nicht zum ersten Mal mit den Schuhen unterwegs gewesen war, hatte sie sich immer noch nicht an die hohen Absätze gewöhnt.
Als sie aus der Haustür trat, wurde sie von einem eisigen Schneeschauer empfangen, der durch die enge Rue Lamartine peitschte. Sofort fürchtete sie um ihre aufwendige Frisur und versuchte ihren Kopf mit der Handtasche zu schützen, was ihr nur notdürftig gelang. Mit schon zur Routine gewordenen Blicken auf die gegenüberliegende Straßenseite sowie in beide Richtungen der Straße überzeugte sie sich, dass alles in Ordnung war. Wie die meisten Pariser hatte sie es sich angewöhnt, auf uninspiriert herumstehende Männer in langen Mänteln und auf parkende schwarze Citroens zu achten. Die Straße war an diesem Freitagabend noch stark frequentiert. Männer hasteten mit Aktentaschen in der Hand von der Arbeit nach Hause. Unter den tief in die Stirn gezogenen Hüten waren die angespannten Gesichter kaum zu erkennen waren. Frauen drängelten mit großen Einkaufstaschen auf der Suche nach Lebensmitteln durch die Menschenmassen auf den Bürgersteigen. Auch sie hatte am Nachmittag fast zwei Stunden in endlosen Schlangen vor Lebensmittelgeschäften zugebracht, um mit den Rationierungsmarken das Nötigste für das Wochenende zu besorgen. Am Ende war sie wie schon so oft entnervt auf einem der von den Boches kontrollierten Schwarzmärkte gelandet, da sie sonst noch nicht einmal eine Flasche Rotwein für das Wochenende im Hause gehabt hätte.
Chantal bog in die Rue Cadet ein und steuerte auf die nahe gelegene Metro-Station zu. Wie an jeden Morgen, wenn sie zu ihrer Arbeitsstelle fuhr. Fünf Stationen bis Aubervilliers und anschließend bis zum Pere Lachaise. Dort, am Nordende des berühmten Pariser Friedhofs befand sich in der der Avenue Gambetta der kleine Buchladen von Madame Laurent.
Florence Laurent war eine resolute, aber herzliche Frau, der man ihr Alter von 52 Jahren nicht ansah. Ihre sonore Stimme, die dunkle Hornbrille und kurze, graue Haare sorgten für ein herbes Erscheinungsbild, zu dem der weiche Glanz ihrer blauen Augen nicht passen wollte. Florence hatte ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren und seitdem spielten Männer in ihrem Leben nur noch eine untergeordnete Rolle. Auch wenn sie es so niemals ausdrücken würde, so hatte der Einmarsch der Deutschen vor drei Jahren ihrem Leben eine neue Perspektive gegeben. Fortan hatte sie sich dem Widerstand gegen das verhasste Besatzungsregime verschrieben.
Chantal erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung mit Florence. Es war im Sommer 1941, ein Jahr nach dem Einmarsch. Obwohl in Paris alle Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag abgesagt worden waren - schließlich gab es in diesen Zeiten nur für die Boches etwas zu feiern - wollten es sich Daniel und seine Freunde trotzdem nicht nehmen lassen, den heiligen 14. Juli mit einem ordentlichen Fest zu begehen.
Es war ein heißer Sommertag gewesen. Sie trafen sich auf dem Bauernhof von Pauline und Roger in Pacy-sur-Eure. Eine Band spielte Swing von Benny Goodman, Glenn Miller und Django Reinhardt. Dazu interpretierte ein Duo Chansons von Jean Sablon. Endlich mal wieder richtige Musik! Sie tanzten, labten sich an den mitgebrachten Speisen und diskutierten bis in den frühen Morgen hinein über die angespannte politische Situation. Niemand dachte an den dunkelgrauen Alltag, dem sie sich schon am nächsten Morgen wieder ausliefern mussten. Florence saß an einem Tisch unter einer Kastanie und redete unaufhörlich auf ihre jüngeren Zuhörer ein. Sie sprach von Flugblättern, die unter das Volk gebracht werden müssten, von Netzwerken, die es galt auszubauen, von passivem Widerstand überhaupt und sogar über das Auskundschaften von Objekten, die für Sabotageakte geeignete waren.
Chantal verstand sofort, dass sie über den Widerstand gegen die Deutschen redete. Als Florence kurz darauf Chantals Geschichte erfuhr, war sie sehr angetan und betrachtete es als ihre persönliche Aufgabe, sich um sie zu kümmern. Sie war fortan ihre Arbeitgeberin, beste Freundin und Ersatzmutter zu gleichen Anteilen.
Daniel hatte ihr sein Engagement bei der Liberation Nord lange Zeit verschwiegen. Bei der Suche nach einem Buch war sie auf einen Stapel Flugblätter gestoßen, den Daniel gut getarnt in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte. Im ersten Moment war sie schockiert. Widerstand gegen die Nazis war nicht die Auseinandersetzung eines bockigen Kindes mit seiner Mutter. Man brauchte nur einen Blick auf Deutschland zu werfen, um sich ein Bild von diesem Gegner zu machen. Noch am selben Abend hatte sie Daniel darauf angesprochen. In der anschließenden Diskussion auf der Couch, die bis in die frühen Morgenstunden andauerte, hatte sie dann von seinen Beweggründen für das Engagement in der Rèsistance erfahren: Daniel war Halbjude aus der Linie seiner Mutter. Sie hatte ihn spontan umarmt, die Tränen aus seinem Gesicht gestrichen und ihm anschließend mit Worten, die keine Widerrede duldeten, zu verstehen gegeben, dass auch sie seinen Kampf unterstützen werde.
Als Chantal den Bahnsteig der Metro-Station erreichte, erinnerte sie sich daran, dass sie heute nicht zur Arbeit fahren würde und daher den Zug in die entgegengesetzte Richtung nehmen musste.
Ihr Ziel war Saint Germain, direkt am südlichen Seineufer.