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Freitag, 10. Dezember 1943

Paris, 6. Arrondissement,

Rue de l’ Eperon

Am Abend

Gilbert Lacroix hatte sein Restaurant Maisondu Plaisir innerhalb nur weniger Jahre zu einem festen Bestandteil der Pariser Gourmet-Szene entwickelt. Mit seinen Spècialitès du Sud-Quest, Gänseleberpastete, Hirschragout und Entenbrust hatte sich der Weinhändler mit dem Körperbau eines Schwergewichtsringers aus Bordeaux einen Stern im Guide Michelin ergattert, worauf er mächtig stolz war. Schnell hatte es sich in Paris und im gesamten Ile-de-France herumgesprochen, dass er für seine Gäste in der Rue de la Huchette das größte Sortiment an exzellenten Medoc-Weinen bereithielt. Das Leben in Paris hatte sich verändert, das musste auch Lacroix konstatieren. Gerne erinnerte er sich an die Zeiten vor der Besatzung, als sein Restaurant an fast allen Tagen der Woche ausgebucht war und die Pariser mindestens drei Wochen im Voraus einen Tisch reservieren mussten. Die Jahre hatten ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht und er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn alles so weitergelaufen wäre. Aber er wollte nicht klagen, denn obwohl sich die politische Lage in Frankreich dramatisch verändert hatte, kam er immer noch wesentlich besser zurecht, als viele seiner Konkurrenten. Dabei war der Michelin-Guide eingestellt worden und er musste auf fast alle alten Stammgäste verzichten. Lacroix konnte es ihnen nicht verdenken, die Menschen waren in diesen schweren Zeiten eben nicht mehr bereit oder in der Lage, ihr Geld in teure Restaurants zu tragen. Dem hatte er Rechnung tragen müssen und da er kaum Skrupel kannte, entwickelte er bald ein Geschäftsmodell, das den meisten seiner Konkurrenten niemals in den Sinn gekommen wäre. Warum, so fragte er sich, sollte er seine Tische nicht exklusiv den deutschen Besatzern anbieten? Höheren Rängen der Wehrmacht oder der SS? Sie wussten sowieso nicht, wo sie ihr Geld ausgeben sollten und schließlich gab es auch noch eine Reihe Franzosen, die selbst in diesen Zeiten noch gut betucht waren und gerne mit den Deutschen tafelten. So würden beide Seiten auf ihre Kosten kommen, seine Geschäfte gingen immer noch gut und die Deutschen konnten weiterhin leben wie Gott in Frankreich. Im Gegensatz zu vielen anderen Pariser Restaurants, die mittlerweile schon Katzen- oder Taubenfleisch verarbeiteten und auf den Speisekarten als Kaninchen- oder Geflügelragout anboten, konnte Lacroix immer noch viele seiner ausgewählten Spezialitäten einkaufen, wenn auch zu drastisch erhöhten Preisen. Dafür wiederum waren seine Gäste verantwortlich, da sie alles konfiszierten, was sie kriegen konnten. Über saftige Rechnungen, die er seinen Gästen vorlegte, holte er sich das Geld zurück.

Gilbert Lacroix bewunderte die Deutschen schon vor ihrem Einmarsch in Frankreich. Es hatte ihm eine große Portion Respekt abgenötigt, wie sie aus den Trümmern des Ersten Weltkrieges wieder aufgestiegen waren und nach der Demütigung von Versailles eine solche wirtschaftliche Energie entfalten konnten. Nur an der Seite der Deutschen, da war er sich sicher, würde auch Frankreich wieder eine bedeutende, eine angemessene Rolle im künftigen Europa spielen. Er jedenfalls hatte den Einmarsch begrüßt und auch viele seiner Freunde dachten wie er. Was war denn aus Liberté, Égalité, Fraternité geworden? Diese Grundfeste der Revolution haben letztendlich doch zur Zerrissenheit der Nation geführt. Warum hatten so viele Franzosen einen Groll auf Petain? Dessen wohlgemeinte Mission war doch, Frankreich zu erhalten. Nur durch seine Zusammenarbeit mit den Deutschen war der Untergang des Landes zumindest zeitweise verhindert worden. Vichy hatte sich lange gut gehalten. Das waren doch auch Franzosen! Klar, irgendwann wurde Petain zu schwach, zumal er sich von Laval, diesem Wahnsinnigen, der den Deutschen bis in den letzten Winkel ihres Arschloches kroch, zum Schluss aus der Hand fraß. Da hätte er ein bisschen mehr Gespür und Verhandlungsgeschick gebraucht, aber dafür war er wahrscheinlich zu alt gewesen.

Lacroixs Gedanken begannen sich zunehmend um die Zukunft Frankreichs zu drehen, besonders, nachdem auch Vichy Geschichte geworden war. Irgendwann einmal, da war er sich sicher, würden die Deutschen wieder abziehen ... und ein großes Vakuum hinterlassen. Dieses zu füllen würde Frankreich vor eine enorme Herausforderung, vielleicht sogar vor eine Zerreißprobe stellen. Es würde weit vorausschauende und durchsetzungsstarke Persönlichkeiten erfordern, um dieses stolze Land wieder nach vorne zu bringen. Selbstverständlich zählte auch er sich zu diesem Personenkreis.

Als Chantal das Maison du Plaisir betrat, kam Lacroix mit seinem anbiedernden Augenaufschlag auf sie zu und begrüßte sie mit zwei Wangenküssen.

»Bonsoir, Chantal. Schön dich zu sehen.«

Widerwillig ließ sie es geschehen und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. Obwohl sie diesen devoten Wirt bis in die Haarspitzen verachtete, musste sie das Spiel mitspielen. Es war Teil ihres Jobs. Dieses skrupellose Arschloch tat alles, um den Deutschen zu gefallen. Schon als sie das Restaurant vor einigen Wochen zum ersten Mal aufgesucht hatte, erfasste sie das blanke Entsetzen. Die bierselige Atmosphäre eines Schützenfestes mit deutschen Schlagern und Volksmusik hatte sie in einem Pariser Gourmet-Restaurant nicht erwartet. Fast wäre sie auf dem Absatz wieder umgekehrt. Lacroix tat alles, um seinen Gästen einen angenehmen Abend zu bereiten. Er war ein schlauer Hund und hatte ein Gespür für gute Geschäfte. Es reichte ihm nicht, seinen immer zahlreicher werdenden deutschen Gästen das Leben in Paris mit auserlesenen Weinen, Speisen und - auch hier war ihm nichts peinlich genug - deutscher Blasmusik zu versüßen. Geschäftstüchtig, wie er war, hatte er schnell herausgefunden, was die hart arbeitenden deutschen Männer im Ausland noch mehr zu schätzen wissen, als gutes Essen: attraktive Frauen. Da waren sie nicht anders als Italiener, Amerikaner oder selbst Franzosen. Es war eine Win-win-Situation. Die Deutschen konnten für ein paar Stunden einen anregenden Abend genießen und viele hübsche Französinnen ließen sich in dieser enthaltsamen Zeit nicht zweimal bitten, einen Abend auf Kosten des Hauses. oder besser gesagt, der Deutschen zu verbringen. Ein kleiner Fehler hatte sich allerdings in Lacroixs Kalkulation eingeschlichen, dessen Auswirkungen weniger ihn, sondern vor allem die Deutschen traf. Denn auch die Pariser Widerstandsorganisation Liberation Nord war auf diese Amüsements aufmerksam geworden und rekrutierte attraktive Résistance-Aktivistinnen, um sie in diesen edlen Kreis von Besatzern und Kollaborateuren einzuschleusen. Wie konnte man besser an Informationen herankommen, als bei erotisch aufgeladenen Smalltalks mit viel Alkohol?

Chantal konnte sich noch genau an den Sonntagnachmittag vor fast drei Monaten erinnern, als Florence sie zum Kaffee eingeladen hatte. Sie hatten sich eine Zeit lang über belanglose Dinge unterhalten, doch schon bald ging es um die Aktivitäten der Widerstandsgruppe. Irgendwann hatte Florence sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, Informationen direkt von den Deutschen abzuschöpfen. Auf Chantals entsetzten Blick hin erklärte sie ihr, was sie damit meinte. Chantal musste schlucken, sie fröstelte plötzlich. Eine Edelhure? Bei den Boches! Niemals, war ihr spontaner Gedanke. Alles würde sie tun, es gab eine Reihe gefährlicher Jobs im Widerstand, aber niemals mit einem Deutschen ins Bett gehen. Florence hatte ihr aschfahles, versteinertes Gesicht registriert und war an sie herangerückt.

»Es ist nicht so, wie du denkst, Chantal«, versuchte sie sie zu beruhigen, »ich weiß, was dir gerade durch den Kopf geht.« Florence legte ihr den Arm um die Schulter.

»Ja, es geht um Informationen, die wir den Boches entlocken wollen und attraktiven Frauen fressen sie nun mal aus der Hand. Aber du alleine entscheidest, wie weit du gehst. Wenn du etwas erfahren willst, brauchst du dafür nicht mit irgendeinem Fettsack ins Bett gehen. Meistens reichen schon ein paar Andeutungen und Herren geben alles angesichts eines erotischen Abenteuers preis.« Florence begann zu schmunzeln. »Ich bin leider zu alt für diesen Job und sehe auch nicht gut genug aus. Das ist nur etwas für Frauen wie dich.«

Chantal fühlte sich geschmeichelt. Florence gab ihr ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken. Am Ende willigte sie ein.

Lacroix führte Chantal zu einem Platz an der Bar. »Wie immer einen Pernod, meine Liebe?«

»Bitte erst einmal nur ein Glas Perrier, Gilbert.«

Nachdem Lacroix verschwunden war, ließ Chantal den Blick durch den großen, gut gefüllten Raum schweifen. Wie schon bei ihrem ersten Besuch vor einigen Wochen, war sie von den stilvollen Möbeln aus dem letzten Jahrhundert fasziniert. Ebenso von den raffinierten Arrangements auf den mit weißen Tischtüchern gedeckten Tischen, den verspielten, glitzernden Kronleuchtern. An den dunkelgrünen Wänden hatte Lacroix Aquarelle von Raoul Dufy platziert, der hier selbst ein paar Mal zu Gast gewesen sein soll. Und dazu deutsche Volksmusik! Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Sie konnte es einfach nicht verstehen. Es war schließlich ein Pariser Gourmet-Restaurant.

Chantal schlug die Beine übereinander, holte ihren Schminkspiegel aus der Handtasche und prüfte ihr Make-up. Über den Spiegelrand hinweg taxierte sie die Anwesenden. Frauen im Smalltalk mit gestriegelten Herren. Allesamt attraktiv, das musste sie zugeben. Gesellschaftsdamen, wie sie selbst und doch unterschied sich ihre Mission von denen ihrer »Kolleginnen« sehr deutlich. Oder gab es vielleicht außer ihr noch andere Résistance-Aktivistinnen in diesem Kreis? Florence hatte angedeutet, dass sie nicht die Einzige wäre. Sie musste schmunzeln. Die Stimmung war ebenso aufgeladen wie an den Abenden zuvor und dies, obwohl es auch den Besatzern in Frankreich zunehmend schlechter ging. Man soff sich das Leben schön. War das Endzeitstimmung?

»Verzeihen Sie Mademoiselle, darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Eine sonore Männerstimme, akzeptables Französisch mit deutschem Akzent. Sie klappte den Schminkspiegel zu, wandte sich zur Seite und blickte in ein blasses, glattrasiertes Gesicht, in dem zwei hellblaue Augen unsicher blinzelten.

»Aber gerne.« Ihre routinierte Antwort war mehr ein Reflex, denn ein Wunsch. Deswegen bin ich hier, sagte sie sich und setzte ein Lächeln auf. Der Deutsche stellte sein Rotweinglas auf den Tresen, rutschte auf den Barhocker und musterte sie. Die kleinen Falten an den äußeren Augenpartien und der Nasenwurzel deuteten an, dass er doch nicht mehr ganz so jung war, wie sie im ersten Moment angenommen hatte. Sein scharf gezogener Seitenscheitel, der sein dunkelblondes Haar teilte, wie die Seiten eines Buches, hatte etwas Bedrohliches.

»Vielen Dank, Mademoiselle«, begann er und nestelte mit einer Hand an seiner dunkelblauen Seidenkrawatte herum. »Sie sind mir sofort aufgefallen, als Sie das Restaurant betraten.«

»Ach, wirklich? Vielen Dank für das Kompliment.«

In Zivil, wie die meisten hier. Ein höheres Tier, überlegte sie. Die unteren Ränge der Deutschen, so erfuhr sie vor ein paar Wochen, mussten auch in der Freizeit Uniformen tragen.

»Darf ich mich vorstellen, Mademoiselle? Mein Name ist Stading, Werner Stading.«

»Angenehm. Chantal Verhoeven.«

Stading hob die Augenbrauen. »Sie sind Holländerin?«

»Wie man's nimmt. Ich bin in den Niederlanden geboren und aufgewachsen. Mein Vater stammt aus Amersfoort, wenn Ihnen das etwas sagt.«

»Amersfoort?« Stadings Augen begannen urplötzlich zu leuchten. »Aber natürlich! Ich kann es kaum glauben. Nicht einmal hundert Kilometer von meiner Heimat entfernt! Ich komme nämlich aus Kleve. Müssten Sie auch kennen. Direkt an der Grenze. Mit dem Fahrrad eine halbe Stunde. Wir können uns übrigens gerne auch auf Holländisch unterhalten.«

Chantal erschrak. Daran hatten sie nicht gedacht! Ihre holländische Legende hatten sie gewählt, weil ihr Französisch sehr gut, aber nicht akzentfrei war und ihre deutsche Herkunft größere Probleme aufwerfen könnte. Jetzt schien gerade diese Legende zum Problem zu werden, denn sie sprach kein Wort Holländisch!

»Oh, ich habe Holländisch fast verlernt«, entgegnete sie betont ruhig und hoffte, dass er ihre Verunsicherung und ihr rasendes Herz nicht registrierte. »Ich habe in Holland nur meine ersten Lebensjahre verbracht und alle Brücken in meine Heimat abgebrochen, als meine französische Mutter meinen Vater verließ und mit mir nach Bourges zog. Wir müssen leider beim Französisch bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Stading zu entgegnen, »das verstehe ich vollkommen. Entschuldigen Sie bitte, ich hätte gar nicht davon anfangen sollen.«

»Ach was, keine Ursache. Sie können ja nichts dafür. Mein Name und mein Akzent werfen manchmal Fragen auf, daran habe ich mich schon gewöhnt. Ihr Französisch ist übrigens ausgesprochen gut.«

»Oh, vielen Dank.« Stading wirkte geschmeichelt. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?«, fragte er nach einer Pause und einem knappen Blick auf ihr Glas Perrier. »Einen Wein oder vielleicht ein Glas Champagner?«

»Gerne. Gegen ein Glas Weißwein hätte ich nichts einzuwenden. Der Hauswein ist übrigens her-vorragend.«

Stading nickte, suchte den Blickkontakt zu einem der Kellner, der sofort erschien und die Bestellung aufnahm.

»Was führt Sie in dieses Restaurant, Mademoiselle? Ich meine, Sie sind hier ja nicht gerade von Freunden umgeben.« Ein angedeutetes Grinsen huschte auf sein Gesicht.

»Wissen Sie, ich kenne den Besitzer Monsieur Lacroix ganz gut und seit mein Mann gefallen ist, bringt es mich hier auf andere Gedanken.«

»Oh, das tut mir leid, Mademoiselle Verhoeven, ich meine das mit ihrem Mann. Es sind wirklich keine schönen Zeiten.« Sichtlich verlegen nippte Stading an seinem Rotweinglas.

Nachdem der Kellner den Wein gebracht hatte, erzählte Chantal von sich. Ihre Legende, die sie zusammen mit Florence und Bernard entworfen hatte, war ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. Der Deutsche hörte interessiert zu.

»Ein wirklich interessanter Lebensweg«, bemerkte er, nachdem Chantal geendet hatte, »da kann ich kaum mithalten.«

Er zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche seines Jacketts.

»Rauchen Sie?«

»Nein, danke.«

»Aber ich darf doch?«

Chantal nickte auffordernd. Stading fischte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie sich an. Dann legte er den Kopf in den Nacken, während er den ersten Rauch gegen die Decke blies.

»Ich weiß nicht, wie Sie zu der Besatzung stehen«, begann er zögernd, während er nachdenklich auf seine glimmende Zigarette blickte. as mich angeht, muss ich sagen, dass ich mich um diesen Einsatz in Frankreich nicht gedrängelt habe. Im Gegenteil, ich verabscheue das alles, was hier passiert.« Chantal fragte sich, warum er ihr das erzählte? War er der einzige Unschuldige unter den vielen Boches hier in Frankreich? Wollte er ihr schmeicheln?

»Ich bin aufgrund meiner Französischkenntnisse hier in Paris gelandet«, fuhr Stading fort, »und nicht in Warschau oder noch weiter im Osten. Insofern hatte ich enormes Glück gehabt.« Er musterte sie unsicher und trank einen Schluck von seinem Rotwein.

»Und trotzdem sehne ich den Tag herbei, an dem ich Paris wieder verlassen kann.«

Ihr fragender Blick veranlasste ihn, ein wenig auszuholen und von seinem Leben zu erzählen. Von seinem beschaulichen, aber wohl langweiligen Heimatort Kleve, den er auch mit 22 Jahren in Richtung Düsseldorf verlassen hatte, von seiner Frau, die er dort kennenlernte und die vor knapp zwei Jahren mit einem anderen Mann durchgebrannt war und von seinen Eltern, die ihn in eine Offizierskarriere gedrängt hatten, obwohl er viel lieber Tierarzt geworden wäre.

»Aber hier in Paris geht es Ihnen doch gut«, bemerkte Chantal. »Theater, Kinos, Restaurants. Im Gegensatz zur Pariser Bevölkerung, die sich kaum noch etwas leisten kann, mangelt es Ihnen doch an nichts, oder?«

Stading hustete und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Das ist richtig und ich will auch gar nicht leugnen, dass man hier als Deutscher sehr gut über die Runden kommen kann, aber es ist für mich eine befremdliche Situation, vielleicht gerade deswegen. Diese irreale Konstellation, da brauchen wir uns nichts vorzumachen, schadet letztendlich allen, den Franzosen ebenso wie den Deutschen.«

»Da kann Ihnen nur zustimmen«, sagte Chantal, überrascht über die Offenheit ihres Gegenübers. Nachdenklich fuhr sie mit dem Zeigefinger den Rand ihres Weinglases ab. Sie war irritiert. Dieser Mann schien kein Fall für sie zu sein. Sie hatte sich auf die typische Besatzerattitüde eingestellt, der sie in den letzten Wochen ständig ausgesetzt war. Den zur Schau gestellten Chauvinismus, die Selbstherrlichkeit, mit der die Boches die Besetzung Frankreichs zu rechtfertigen suchten. Arrogant und herablassend. Sie musste unwillkürlich an ihren Vater denken. An die Feier zu seinem fünfzigsten Geburtstag. Der Abend hatte nachhaltige Spuren bei ihr hinterlassen und dafür gesorgt, dass das schon zuvor äußerst angespanntes Verhältnis zu ihren Eltern an diesem Tag vollkommen zerbrach. Noch heute hörte sie ihren Vater über die Juden poltern. In seinen Augen waren es alles Verschwörer, eine das deutsche Volk bedrohende Rasse, die es galt, vom deutschen Boden zu eliminieren. Das war sein Credo, dafür hatte er sich dieser Bewegung verschrieben. Der Eintritt in die NSDAP, noch vor der Machtübernahme, wie er niemals vergaß zu betonen, war sein erster Schritt, der sie nachdenklich machte. Es war der Startschuss zu einer stetig aufwärts führenden Karriere im braunen Reich des verhinderten Kunstmalers aus Niederösterreich. Am Ende hatte ihr Vater eine angesehene Position in der Dienststelle Ribbentrop inne. Als er auf der Feier seinen Dienstherren abschätzig als arroganten, nicht besonders intelligenten Sekthändler bezeichnete und gleichzeitig mit stolzgeschwellter Brust Fotos herumreichte, die ihn Seite an Seite mit dem neuen Reichsaußenminister zeigten, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und musste den Raum verlassen. Dabei teilte sie ihres Vaters Einschätzung über diesen Karrierepolitiker voll und ganz, Entsetzen löste bei ihr die anbiedernde Haltung ihres Vaters den Nationalsozialisten gegenüber aus. Sie hatte ihn nicht mehr wiedererkannt. Das liebevolle Familienoberhaupt, das mit ihr im Garten spielte, an den Sommerwochenenden mit der Familie zum Baden an die Krumme Lanke oder in den Zoologischen Garten fuhr, immer verbunden mit einer großen Portion Eis und einem Glas Limonade. Was war mit dem angesehenen Rechtsanwalt, der bald seine gutgehende Kanzlei einer Nazi-Karriere opferte, passiert? Sie konnte es sich lange nicht erklären.

Nachdem er seinen neuen Dienst angetreten hatte, war er nur noch für diese sogenannte Bewegung da und Abend für Abend nach dem Essen in sein Arbeitszimmer verschwunden, wo er sich bald auch an den Wochenenden verschanzte. Gleichzeitig hatte sie die Veränderungen ihrer Mutter registriert. Mit einer erstaunlichen Hingabe war sie in die Rolle geschlüpft, die die Nazis den Frauen zugedacht hatten: ihrem Mann zu jeder Zeit die Beine zu spreizen, um dem deutschen Volk möglichst viel blonden und blauäugigen Nachwuchs für die großen Aufgaben der Zukunft bereitzustellen und ihn von den lästigen Pflichten im Haushalt zu entlasten. Getreu dem Vorbild und den Predigten der Reichfrauenführerin Scholz-Klink. Bildung und eine eigene berufliche Karriere waren in dieser nationalsozialistischen Lebensgemeinschaft für Frauen nicht vorgesehen. »Entschuldigen Sie, Mademoiselle Verhoeven, Sie wirken etwas ... nachdenklich«, hörte sie Stadings Stimme und zuckte zusammen.

»Oh, verzeihen Sie, ich war tatsächlich etwas weggetreten. Habe beim Einkauf heute Nachmittag etwas vergessen.«

»Dann sollten Sie hier am Buffet zuschlagen, damit es über das Wochenende reicht.« Stading grunzte durch die Nase. Chantal sah sich genötigt, mit zulächeln.

»In welcher Funktion sind Sie hier in Paris?«, fragte sie, um das Gespräch wieder in Fahrt zu bringen, »oder dürfen Sie das nicht verraten?«

Stading räusperte sich. »Doch, doch. Wenn ich Ihnen sage, was ich hier mache, ist das ja noch kein Geheimnis. Ich sitze beim Oberbefehlshaber West im Planungsstab für den Atlantikwall.«

Chantal schluckte. Sie hatte von den mächtigen Befestigungsanlagen gehört, die die Deutschen von Norwegen bis zur Biskaya errichten, um eine Landung der Alliierten zu verhindern. Diese Irren!

»Aber es läuft nicht so, wie es laufen sollte«, fuhr er fort und Chantal registrierte seinen verächtlichen Blick. »Von Rundstedt kriegt das nicht mehr alleine hin. Das wird so nichts.«

Chantal sah ihn fragend an.

»Ja, das sind Dinge, die Sie nicht verstehen können«, fuhr er fort, als er ihren Gesichtsausdruck registrierte. »Einfach ausgedrückt: Wir liegen nicht im Soll! Im Amt ist durchgesickert, dass Rommel die Sache in die Hände nehmen wird. Man munkelt, dass unser Wüstenfuchs schon in der Bretagne ist, aber das ist alles offiziell noch nicht bestätigt.« Er hielt inne, dann lachte er kurz auf. »Was erzähle ich da eigentlich? Ich weiß gar nicht, ob Sie so etwas überhaupt interessiert?«

»Oh doch, ich finde das total spannend.«

An einem der nahen Tische hatte sich eine Gruppe von Deutschen aufgebaut und ließ sich von einem Kellner fotografieren. Sie grinsten wie Spanferkel in die Kamera. Die Stimmung lief dem Höhepunkt entgegen und der Alkohol begann hier und da seine fatale Wirkung zu zeigen. Abgestoßen von der Wirtshausatmosphäre wandte Chantal sich wieder Stading zu, der näher an sie herangerückte war.

»Wissen Sie was ich glaube?«, begann Stading und hielt inne. Chantal sah ihn fragend an.

»Alles, was wir da oben an der Küste machen, ist für die Katz«, fuhr er fort. »Die Alliierten stehen auf dem Sprung. Es dauert nicht mehr lange, dann sind die in Frankreich gelandet. Ich gebe uns noch ein paar wenige Monate, um ehrlich zu sein. Dann ist Schluss mit Besatzung.«

Chantal schluckte. Sie konnte ihr Erstaunen kaum verbergen. Aus dem Mund eines Deutschen waren diese Sätze ungeheuerlich. Anzeichen einer inneren Kapitulation! Defätismus! Nebenan wurde es immer lauter. Lacroix hatte die Musik gewechselt. Lale Andersens Stimme erfüllte den Saal.

»Das könnte übrigens Ärger geben«, bemerkte Stading und nickte in den Raum. »Lilli Marleen ist in Deutschland verboten, aber das scheint hier auch keine Rolle mehr zu spielen ... wo war ich stehengeblieben? Ach so, wir haben natürlich keinen Schimmer, wo die Alliierten landen werden. Klar, irgendwo zwischen Dünkirchen und Brest. Das sind aber an die tausend Kilometer Küstenlinie.« Er lachte trocken auf. »Der absolute Wahnsinn! Alle gehen davon aus, dass sie bei Calais kommen werden, aber ich bin mir da nicht so sicher.« Stadings Augen flackerten. Er blickte noch einmal prüfend zur Seite, aber die Deutschen waren mit sich selbst beschäftigt und kaum noch in der Lage, um sich herum etwas wahrzunehmen.

»Das wird nichts, sage ich Ihnen. Wir können hier einpacken! Je eher, desto besser!«

Chantal sah den Deutschen fasziniert an und überlegte, wie sie mit dieser Offenbarung umgehen sollte. Das war zu viel auf einmal. Oder war es auch der Alkohol? Sie brauchte eine Pause.

»Was Sie gerade erzählen ist kaum zu glauben«, sagte sie. »Aus Ihrem Mund, meine ich. Wir sollten etwas essen, bevor Sie fortfahren.«

»Aber selbstverständlich, eine gute Idee. Ich habe auch einen riesigen Hunger.«

Als Chantal zum Buffet kam, auf dem Quiche, Canardà l’Orange Rôti de boeuf, Crepes, Mousse au chocolate und andere Köstlichkeiten aufgebaut waren, spürte sie eine Beklemmung in sich. Während der Großteil der französischen Bevölkerung Fleisch und andere Zutaten nur noch auf Schwarzmärkten und zu astronomischen Preisen erstehen konnte, ließen es sich die Herrenmenschen hier gutgehen. Sie konnte die aufkeimende Wut kaum noch unterdrücken. Wie schon bei ihrem ersten Besuch in diesem Gourmet-Tempel, hätte sie die sorgsam arrangierten Schalen und Pfannen am liebsten von den Tischen gefegt. Ihr Appetit war wie weggeblasen, als sie sich einen leeren Teller vom Stapel nahm.

Nachdem Stading sich mit der Serviette den Mund abgetupft hatte, zündete er sich eine weitere Zigarette an. Er nahm einem Schluck Rotwein und musterte Chantal mit entrücktem Gesichtsausdruck.

»Was ist mit Ihnen, Monsieur Stading? Jetzt wirken Sie nachdenklich«. Stading rutschte von seinem Hocker und baute sich seitlich hinter ihr auf. »Ich brauche Ihre Hilfe«, raunte er ihr ins Ohr, während er sich vorsichtig nach allen Seiten hin umschaute. Chantal drehte den Kopf und sah ihn überrascht an.

»Ich habe wichtige Unterlagen und möchte diese den Alliierten übergeben. Brisantes Material!«

Sie zuckte zusammen, als wenn ein Blitz direkt neben ihr eingeschlagen wäre. Ein Überläufer? Darauf war sie nicht vorbereitet.

»Mein Beitrag, den Krieg etwas früher zu beenden«, fügte er hinzu, den Blick in den Raum gerichtet. »Es könnte mich allerdings wegen Hochverrats den Kopf kosten. Insofern muss ich meine meine Aussage von vorhin, mein Job wäre kein Geheimnis, etwas revidieren.«

Chantal spürte plötzlich den Druck, mit dem ihr Herz das Blut durch die Venen pumpte, das Pochen ihrer Schläfen, die unangenehme Feuchtigkeit, die aus allen Poren ihrer Haut austrat. Unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf und alle schnitten sich in einem Punkt. Sie war plötzlich mitten in einem ganz anderen Spiel!

»Und was kann ich für Sie tun?« Ihre belegte Stimme klang unsicher und brüchig.

»Wie schon gesagt, ich muss mit meinem Material einen Weg zu den Alliierten finden. So bald wie möglich!« Er machte eine Pause, räusperte sich. »Und glauben Sie mir, meine Dokumente über den Atlantikwall würden den Alliierten einige Türen öffnen.«

Chantal atmete flach. Reflexartig griff sie zum Weinglas und trank einen Schluck.

»Wie kommen Sie darauf, dass gerade ich Ihnen dabei helfen könnte?« Stading lächelte reserviert.

»Das sagt mir mein Instinkt. Auch wenn Sie, wie ich glaube, keinen direkten Zugang zu den Alliierten haben, werden Sie bestimmt in der Lage sein, eine Verbindung herzustellen.« Er klopfte die Asche seiner Zigarette über dem Aschenbecher ab. »Obwohl ich diesen Gedanken schon ein paar Tage mit mir herumtrage, ist das jetzt ganz spontan, wissen Sie.«

»Und was macht Sie so sicher, dass ich nicht einen der anwesenden Herren hier anspreche? Man würde Sie in den nächsten Minuten verhaften.«

Ein Lächeln huschte auf Stadings Gesicht und verschwand genauso schnell, wie es gekommen war.

»Natürlich habe ich auch dieses Szenario einkalkuliert, Mademoiselle Verhoeven. Allerdings muss ich gestehen, dass ich Ihnen das nicht zutraue. In diesem, aus meiner Sicht unwahrscheinlichen, Fall jedoch«, er machte eine dramaturgische Pause und blickte auf sein Weinglas, als suche er nach passenden Worten, »würde ich mich kurz und schmerzlos von Ihnen und von dieser Welt verabschieden.«

Chantal runzelte die Stirn.

Stadings rechte Hand verschwand in seiner Hosentasche und förderte kurz darauf eine kleine Messingdose mit einem Schraubdeckel hervor. Mit triumphierendem Augenaufschlag hielt er sie ihr zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand entgegen.

»Unser Notfallset. Enthält eine Kugel aus hauchdünnem Glas. Gefüllt mit Zyankali. Wirkt zuverlässig und schnell. Haben seit zwei Monaten alle Offiziere der Wehrmacht und der SS in der Tasche. Es gehört jetzt sozusagen zur Kampfausrüstung.« Er lachte heiser auf.

»Es gibt übrigens nicht wenige meiner Kollegen, die dieser Kugel mehr vertrauen, als denen in ihren Dienstpistolen.«

Chantal spürte die Beklemmung, die seine Worte bei ihr auslösten. Er schien zu allem bereit zu sein. Sie fragte sich immer noch, warum er gerade ihr seine Fluchtgedanken anvertraut hatte. Wusste er etwas über sie? Über ihre Mission in diesem Restaurant? Oder ist er vielleicht sogar ein Spitzel? Auch davor hatte Florence sie gewarnt. Dann würde seine Geschichte nicht stimmen. Ihr Puls raste.

»Worüber denken Sie nach?«, unterbrach Stading ihre Gedanken. »Ich kann Ihnen versichern, dass wir ein gemeinsames Ziel haben.«

»Es kommt für mich etwas überraschend, wissen Sie. Ich muss gestehen, dass es mich augenblicklich sogar überfordert.«

Krampfhaft versuchte Chantal, die Situation für sich einzuordnen. Es waren nicht mehr nur ein paar nützliche Informationen, um die es hier ging, das war jetzt eine richtig große Nummer und wahrscheinlich eine zu große Nummer für sie. Wenn Stading tatsächlich imstande und bereit war, wichtiges Material über den Atlantikwall zu liefern, Material, dass den Alliierten weiterhelfen würde, dann musste sie alles dafür tun, um dies zu ermöglichen. Aber woher sollte sie wissen, ob sie ihm tatsächlich trauen konnte? Und wie sollte es dann weitergehen? Sie musste noch heute Florence kontaktieren.

»Wahrscheinlich war das jetzt tatsächlich ein bisschen viel für Sie«, sagte

Stading. »Sie sollten in Ruhe darüber nachdenken. Es kommt nicht auf einen Tag an. Trotzdem kann ich nicht mehr allzu lange warten.« Stading suchte ihren Blick. »Ich weiß nicht, warum ich glaube, dass Sie mir helfen können. Ist eine Eingebung. Meine Menschenkenntnisse haben mich bisher jedenfalls noch nie getäuscht.«

Neben Chantal waren zwei Deutsche an den Tresen getreten. Chantal hörte sie über die kommenden Weihnachtsfeiertage plaudern, die sie bei ihren Familien in Deutschland verbringen wollten. Wie sie diese Kreaturen verabscheute. Sich in Frankreich austoben und dann ein paar biedere Tage vor dem Weihnachtsbaum verbringen und den guten Vater und Ehemann geben.

»Ich werde darüber nachdenken, Monsieur Stading«, sagte Chantal und bemühte sich, distanziert und vage zu bleiben, »vielleicht lässt sich ja tatsächlich etwas machen. Ich kann Ihnen jedoch nichts versprechen.« Sie machte eine Pause. »Ihre Menschenkenntnis funktioniert jedenfalls. Sie können mir vertrauen.«

Ein Lächeln entfaltete sich auf Stadings Gesicht.

»Schön zu hören, Mademoiselle Verhoeven. Vielen Dank. Natürlich ist mir auch klar, dass Sie eine Nacht darüber schlafen müssen.«

»Darum geht es nicht. Ich muss vor allen Dingen herausfinden, ob und wie ich Ihnen helfen kann.«

Stading schloss für einen kurzen Moment die Augen.

»Vielleicht würde es ja den Prozess etwas beschleunigen, wenn ich Ihnen morgen bei einem zweiten Treffen ein paar Materialproben überlasse. Die würden beweisen, dass ich es ernst meine. Sie hätten dann etwas in der Hand und könnten es, durch wen auch immer, prüfen lassen. Natürlich werden sie sich jetzt fragen, warum gibt der Bursche mir nicht einfach das Material, damit ich es weiterleiten kann und gut ist?« Stading räusperte sich zweimal. »Das wäre natürlich die einfachste Möglichkeit, aber, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es geht auch um mich. Ich muss auch aus Frankreich verschwinden! Ansonsten habe ich ein Problem.«

Chantal nickte verständnisvoll. Sie blickte zur Seite. Die beiden Deutschen waren immer noch miteinander im Gespräch vertieft. Sie wandte sich wieder Stading zu.

»Ja, ich verstehe das alles. Ist übrigens eine gute Idee, dass mit der Materialprobe.«

»Okay, lassen wir das jetzt. Ich bestelle uns einfach noch etwas zu trinken«, sagte Stading. »Ein Glas Champagner?«

»Nein, ich...«

»Ach, kommen Sie Mademoiselle Verhoeven, das geht sowieso alles auf mich. Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.«

Ohne eine Reaktion Chantals abzuwarten, suchte er den Blickkontakt zu einem Kellner und bestellte zwei Gläser Champagner.


Am Ende Der Dämmerung

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