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Samstag, 11. Dezember 1943

Paris, 9. Arrondissement,

Rue Buffault

Am Morgen

»Guten Morgen, hier spricht Christine Magaux. Entschuldigen Sie Madame, haben Sie den Roman ‚Voyage au bout de lanuit‘ von Louis-Ferdinand

Cèline vorrätig? Ich möchte das Buch verschenken. Es ist dringend, wissen Sie, ich bin heute Nachmittag zum Geburtstag eines Bekannten eingeladen.« »Einen Augenblick. Lassen Sie mich mal nachschauen.«

Chantal hörte, wie am anderen Ende der Leitung der Telefonhörer abgelegt wurde. »Sie haben Glück, Madame«, meldete sich Florence kurz darauf zurück, »ich habe das Buch hier. Wollen Sie vorbeikommen? Wann passt es Ihnen...vielleicht gegen 11 Uhr?«

»Ja, das passt mir sehr gut.«

»Ach Madame, interessieren sie sich für Molière?«

»Natürlich, ich liebe Molière.«

»Dann habe ich noch etwas für Sie. Ist ein Sammelband. Ganz neu hereingekommen. Lassen Sie sich überraschen.«

»Besten Dank Madame, ich werde um 11 Uhr bei Ihnen sein. Au revoir.« Chantal schob das Telefon beiseite und trank von ihrem Cafe au Lait. Sie musste schmunzeln. Es war schon eine geniale Idee von Florence, Werke faschistisch gesinnter Intellektueller wie Cèline oder Brasillach als Code für ihre konspirativen Treffen zu verwenden, die selten in ihrer Wohnung stattfanden, sondern auf dem nahegelegenen Friedhof Père Lachaise.

Aber sie hatte natürlich recht mit der Annahme, dass die Deutschen, die die Pariser Telefonleitungen rund um die Uhr abhörten, bei diesen Autoren kaum einen Verdacht schöpfen würden. Franzosen, die solche Bücher lasen, mussten einfach auf der »richtigen« Seite stehen.

Chantals Blick wanderte durch das beschlagene Fenster auf die Straße. Paris erwachte. Trotz der morgendlichen Kälte wurde es draußen zunehmend lebhafter. Die Menschen begannen schon sehr früh, Geschäfte und Märkte nach Lebensmitteln abzuklappern, denn im Laufe des Tages wurde die Chance, etwas Bezahlbares für das Wochenende zu bekommen, immer schlechter.

Chantal brach ein Stück Croissant ab und tauchte es in den Kaffee. Fast jeden Samstag frühstückte sie in der kleinen Bar von Roger Boyer, in der es schon am frühen Morgen zuging, wie auf dem großen Basar in Istanbul. Wortgewaltig und gestenreich diskutierten Rogers Gäste die wichtigsten innenpolitischen Entwicklungen der Woche. Die meisten Gesichter kannte sie schon, sehr oft auch die Charaktere dahinter. Mit Beklemmung registrierte sie die sich von Woche zu Woche immer mehr aufladende Atmosphäre. Diskussionen endeten zuletzt auch schon in handfesten Prügeleien. Trotzdem war sich der überwiegende Teil der Gäste, die aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten stammten, darüber einig, dass der Tiefpunkt erreicht war und es irgendwann wieder aufwärtsgehen müsste. Obwohl Rogers Bar gleich an der nächsten Ecke lag, hatte Chantal sie erst vor einigen Wochen für sich entdeckt, als sie die Bar wegen eines wichtigen Telefongespräches betrat. Roger hatte sofort Gefallen an ihr gefunden und ihr einen Pernod spendiert. Seitdem hatte sich ihr Verhältnis zu Roger so intensiv entwickelt, als würden sie sich schon jahrelang kennen. Immer wenn sie auf dem Weg zur Wohnung an der Bar vorbeikam, winkte sie Roger zu und meistens bedeutete er ihr mit wilden Armbewegungen, kurz hereinzukommen. Der kleine Mann entsprach genau dem Klischee des französischen Mannes, wie sie es sich in Deutschland vorstellten. Ein riesiger Schnauzbart, listig funkelnde Augen und nie ohne seine Baskenmütze. Roger wohnte direkt über der Bar, die er schon in der dritten Generation bewirtschaftete und die eine Institution im Kiez war. Hier wurden alle Neuigkeiten und Informationen aus dem 9. Arrondissement zusammengetragen, die für die Bewohner oft überlebenswichtig waren. Wo es Kohlen zu kaufen gab oder wer nachts heimlich ein Schwein geschlachtet und Fleisch zu verkaufen hatte, aber auch über Razzien der letzten Tage und Nächte, in denen die Boches immer häufiger Menschen aus ihren Wohnungen verschleppten.

Chantal unterdrückte zum wiederholten Mal ein Gähnen. Die Nacht war schrecklich gewesen. Sie hatte kaum ein Auge zubekommen. Immer wieder schoss ihr das Treffen mit Stading durch den Kopf. Zweimal war sie in der Nacht aufgestanden, um etwas zu trinken.

»Noch einen Wunsch, Chantal?«, fragte Roger, als er mit einem Tablett an ihr vorbeiging. Sie schaute auf ihre Uhr. In knapp zwei Stunden würde sie Florence am Grab von Moliere treffen.

»Ja, Roger, bring mir noch einen«, sagte sie und zeigte auf ihre Tasse. »Ich habe noch etwas Zeit.«

Für die Fahrt zum Friedhof im Osten der Stadt benötigte sie ungefähr eine dreiviertel Stunde. Friedhöfe, auch da stimmte sie Florence zu, eigneten sich bestens für konspirative Treffen, denn Friedhofsbesucher waren meistens mit ihren Gedanken bei den Toten oder mit sich selbst beschäftigt. Verdächtige Personen, wie Spitzel der deutschen Abwehr, würden hier sofort auffallen, wenn sie denn überhaupt auf die Idee kämen, auf Friedhöfen herumzulungern.

»Ich habe übrigens einen Zentner Kohlen für dich, Chantal«, sagte Roger, als er den Kaffee brachte.

»Das ist nicht dein Ernst, Roger. Ich wollte schon auf dich zukommen.« »Sag mir, wann du zu Hause bist und ein Freund hier aus dem Kiez bringt sie bei dir vorbei.«

»Oh Roger, du bist ein Schatz.« Chantal erhob sich und drückte Roger einen Kuss auf die Wange. »Vielleicht am nächsten Montag. Gegen Abend.« »Kein Problem. Melde dich einfach. Der Sack ist für dich reserviert.«

Paris, 20. Arrondissement,

Cimitière du PereLachaise

Zwei Stunden später

Paris‘ berühmtester Friedhof bot um diese Zeit, in der sich das von grauem Schnee bedeckte Laub auf den Wegen häufte und die kahlen schwarzen Äste der Bäume vor dem wolkenverhangenen Himmel wie menschliche Skelette wirkten, das trostlose Abbild der Stadt. Schon kurz nachdem Chantal die Kapelle passiert hatte und in die Chaussee Molière et La Fontaine eingebogen war, erkannte sie Florence, die stillschweigend direkt vor dem schwarzen Zaun der monumentalen Grabanlage stand und in sich gekehrt auf das Grab blickte. Auf den Schultern ihres beigefarbenen Mantels, zu dem sie einem schwarzen Wollschal trug und auf ihrem schwarzen Hut hatte sich Unmengen Schneeflocken versammelt.

»Bonjour, Florence«, raunte Chantal, als sie hinter Florence stand. Florence drehte sich zu ihr um und lächelte.

»Bonjour, mon amour.«

Sie küssten sich auf beide Wangen, dann blickten sie eine Weile schweigend auf das Grab. Ein Ritual.

»Ist es nicht kalt geworden?«, fragte Florence in gedämpften Ton und hüstelte.

»Ja, sehr kalt. Ich habe gerade einen Sack Kohlen bekommen.«

»Wirklich?«

»Ja, von Roger. Und er wird mir in die Wohnung geliefert.

»Na was für ein Glück, meine Liebe. Es wird bestimmt wieder ein harter Winter werden. Ich muss mich auch darum kümmern. Unser Treffen hier passt mir ganz gut. Ich musste unbedingt mal an die frische Luft.«

Florence zeigte ein flüchtiges Lächeln. »Ist sowieso nicht viel los im Laden.« Sie strich mit der Hand ein wenig Schnee von Chantals Mantelkragen.

»Du willst mir von deinem gestrigen Abend berichten. Am Telefon hörte es sich an, als wenn es sehr wichtig wäre.«

»Ja, ich denke schon.«

In knappen Sätzen berichtete Chantal von ihrem Zusammentreffen mit Stading. Florence hörte geduldig zu und nickte dann und wann. Nachdem Chantal geendet hatte, schloss Florence für einen kurzen Moment die Augen. Dann schaute sie Chantal forschend an.

»Was hast du für ein Gefühl dabei, Chantal? Wie denkst du über die Sache?« »Ich habe die ganze Nacht lang gegrübelt und wusste bis heute Morgen absolut nicht, was ich davon halten sollte. Es war ein ständiges Hin und Her in meinem Kopf. Einerseits kommen immer noch Zweifel zum Vorschein und ich habe Angst, dass er ein Agent der Deutschen Abwehr sein könnte, andererseits ist die Geschichte auch irgendwie plausibel und stimmig. Vielleicht war es auch einfach nur zu viel für den Moment und es lag daran, dass ich überhaupt nicht darauf vorbereitet war.« Sie machte eine Pause und sah, wie sich Schneeflocken auf den schwarzen Gitterstäben vor dem Grab aufhäuften.

»Im Augenblick tendiere ich dazu, dass alles stimmt, was er sagte«, fuhr sie fort. »Ich bin mir fast sicher.«

»Und warum bist du dir jetzt sicher?«

»Ich kann es nicht erklären, Florence. Intuition? Es gibt da ein paar Dinge, die diesen Eindruck bei mir immer mehr verfestigen.«

Florence sah sie fragenden an.

»Wie ich vorhin schon sagte, Florence, ist dieser Mann überhaupt nicht der typische Boche, so wie wir ihn uns vorstellen. Du weißt, was ich meine. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass er mir sogar positiv aufgefallen ist. Zugegeben, es ist ein rein subjektives Empfinden, aber ich glaube deutliche Signale empfangen zu haben, dass er genug vom Krieg hat und es ernst meint. Ich denke nicht, dass er mir etwas vorgespielt hat.«

»Er hat dich also beeindruckt?«

»Ja, seine Art und seine Sicht auf die Situation haben mich schon beeindruckt.«

»Findest du ihn attraktiv, Chantal?« Chantal spürte, wie sich ihre Gesichtsfarbe urplötzlich veränderte. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. »Nein, bestimmt nicht«, antwortete sie mit fester Stimme. »Warum fragst du, Florence?«

»Man muss in solch einer Situation auf viele Dinge achten, die einem kaum präsent sind. Persönliche Gefühle sind meistens schlechte Ratgeber und es ist nicht ganz einfach, aber enorm wichtig, Gefühle aus dem Spiel zu halten. Besonders, wenn es um sol-che brisanten Dinge geht. Glaube mir, ich habe das alles schon hinter mir.«

Chantal registrierte, wie Florence mit ihren Gedanken kämpfte. Ein älteres Ehepaar ging mit Blumen in der Hand an ihnen vorüber. Florence nickte freundlich und blickte ihnen hinterher. Als sie sich einige Meter entfernt hatten, wandte sie sich wieder Chantal zu.

»Du sagtest, ihr habt ein weiteres Treffen vereinbart, wo du Materialproben bekommen sollst?«

»Ja, heute um zwei Uhr. In der Orangerie.«

Florence sah Chantal überrascht an.

»In der Orangerie? Wieso denn dort?«

»Dort wird eine Ausstellung gezeigt. Frage mich bitte nicht, worüber. Ich war auch verwundert, aber Stading hat wohl ein paar Eintrittskarten geschenkt bekommen und hat mich auf einen Rundgang zusammen mit einem Glas Champagner eingeladen.«

»Ich muss schon sagen, dass ich das sehr ungewöhnlich finde«, sagte Florence. »Ist das nicht ein schlechter Treffpunkt?«

»Ich hatte ihm gegenüber auch meine Zweifel geäußert, aber er meinte, gerade dort würde man kaum beachtet werden.« Chantal warf Florence einen fragenden Blick zu. »Wenn du irgendwelche Zweifel an der Geschichte hast, Florence, dann sage es mir. Ich werde mich nicht mit ihm treffen und das Thema hat sich erledigt. Wie ich dir schon sagte, er weiß absolut nichts über mich außer meinem Decknamen.«

»Ich frage mich die ganze Zeit, warum er sich dir gegenüber offenbart hat. Es war ja ein hohes Risiko für ihn. Und wie konnte er annehmen, dass gerade du ihm helfen könntest?«

»Genau das ließ mir auch keine Ruhe. Ich weiß es wirklich nicht.«

Florence nickte und schwieg. Ihr Blick wanderte den Weg entlang. »Du solltest dich ein weiteres Mal mit ihm treffen, meine Liebe. Nach dem, was du sagst, glaube auch ich, dass seine Geschichte stimmt. Wenn er tatsächlich wichtige Informationen für die Alliierten hat, wäre es geradezu fahrlässig, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen. Von diesem Probematerial – unsere Experten würden es natürlich genau prüfen – hängt unser weiteres Vorgehen ab.« Florence sah Chantal tief in die Augen. »Eins solltest du aber weiterhin bedenken, Chantal: Wir müssen zu jedem Zeitpunkt darauf gefasst sein, dass er ein Agent der deutschen Abwehr ist. Du kannst nicht in seinen Kopf schauen und die Deutschen haben ihr perfides Spiel immer mehr perfektioniert. Also, meine Liebe, allergrößte Vorsicht! Sollte das Material so brillant sein, dass ein Plan zur Evakuierung entwickelt werden muss, dann...aber was rede ich da, so weit ist es ja noch nicht.«

Chantal nickte. Die Schneeschauer wurden stärker. Sie zog ihren Schal hoch. »Eine Evakuierung würde übrigens über den britischen Geheimdienst laufen«, ergänzte Florence. »Da würde im Vorlauf viel Arbeit auf uns zukommen. Die wollen äußerst gut vorbereitet werden. Aber wie gesagt, darüber brauchen wir jetzt noch nicht zu reden.«

Florence wandte den Blick ab und verfolgte die Schneeflocken, die sich zu Hunderttausenden auf dem Grabmonument versammelten, während

Chantals Blick auf Florences Mütze verharrte.

»So, meine Liebe, ich werde noch im Laufe der nächsten zwei Stunden ein paar Leute kontaktieren und erste Stellungnahmen einholen«, beendete Florence das eingetretene Schweigen. »Was auch immer sich ergeben wird, Chantal, ich bin stolz auf dich. Du solltest heute Abend gegen sechs Uhr mit dem Material zu mir kommen. Kannst du das schaffen? Wir kochen dann gemeinsam.«

Chantal dachte kurz über den Zeitrahmen nach, dann nickte sie.

»Sollte irgendetwas dazwischenkommen und ich nichts von dir hören, dann treffen wir uns morgen Vormittag auf dem oberirdischen Bahnsteig der Metro-Station Bastille. Dort haben wir uns schon einmal getroffen, wenn du dich erinnerst.«

Chantal nickte. Florence strich ihr mit dem Daumen ein paar Schneeflocken von der Wange und lächelte sanft. »Komm, dann lass uns gehen, es wird immer ungemütlicher. Ich begleite dich zur Station.«

Arm in Arm schlenderten die beiden Frauen in Richtung Friedhofskapelle und von dort zum Ausgang Porte du Repos. An der Metro-Station Philippe-Auguste verabschiedeten sie sich knapp. Während Florence ihren Weg zu Fuß auf den Boulevard de Charonne in südliche Richtung fortsetzte, stieg Chantal die Stufen zu Metro hinunter.



Am Ende Der Dämmerung

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