Читать книгу Am Ende Der Dämmerung - Ulrich Paul Wenzel - Страница 14
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ОглавлениеSonntag, 12. Dezember 1943
Paris, 20. Arrondissement,
Avenue Gambetta
Mittags
Florence war erst spät zurückgekehrt. Sie hatten daraufhin kurzfristig beschlossen, den Kartoffelauflauf am nächsten Tag zuzubereiten. Nach dem späten Frühstück hatten sie sich ans Kochen gemacht. Nicht zum ersten Mal bestaunte Chantal Florences Kochkünste. Obwohl es kaum Zutaten zu kaufen gab, hatte sie einen schmackhaften Auflauf auf den Tisch gezaubert. Während des Essens diskutierten sie über die aktuelle politische Situation in Frankreich, die sich gerade im Umbruch zu befinden schien. Der Plan einer Invasion der Alliierten war seit einer Woche das alles beherrschende Gesprächsthema hinter den Fenstern tausender französischer Wohnungen. Selbst im öffentlichen Leben waren die Veränderungen zu spüren. Die deutschen Besatzer waren nicht mehr annähernd so zuvorkommend und höflich, wie in den ersten beiden Jahren nach dem Einmarsch. Wahrscheinlich realisierten auch sie, dass sich auf alliierter Seite bald wieder etwas tun würde.
»Dein Auflauf hat wunderbar geschmeckt, Florence«, lobte Chantal, während sie sich vorsichtig mit der Serviette den Mund abtupfte. »Ich platze gleich. Nächste Woche werde ich nichts mehr essen können.«
»Oh danke, meine Liebe. Das freut mich.«
»Ich bin wirklich gespannt, was Maurice und die anderen zu den Dokumenten sagen«, sagte Chantal während sie das Geschirr abräumte, um es in die Küche zu tragen.
»Ich denke, sie werden ebenso angetan sein wie ich gestern Abend. Wenn wir diese Dokumente den Alliierten übergeben könnten, wäre das aus meiner Sicht ein Riesending. Vor allem würde es auch zeigen, wie wichtig die Beiträge der Résistance in dieser Zeit sind. Die Sabotageakte, wie der vor zwei Tagen auf den Militärzug bei Rouen, vor allem aber auch die Kleinarbeit im Untergrund, das funktionierende Netzwerk, die Kurierfahrten, von denen auch du ja schon einige hinter dir hast, die Herstellung von Handzetteln, ich brauch das nicht alles aufzählen. Darauf bin ich richtig stolz, weißt du das.«
Chantal nickte zustimmend, dann ging sie mit dem Geschirr in die Küche. Florence stand auf und folgte ihr mit den Gläsern.
»Vor allem bin ich auch stolz auf dich, Schätzchen.«
Chantal ließ wortlos Wasser in das Spülbecken.
»Du sagst gar nichts, meine Liebe.« Florence und trat hinter ihre junge Freundin. »Worüber denkst du nach?«
Sie begann mit beiden Händen Nacken sanft zu massieren. Chantal schloss die Augen und ließ den Kopf kreisen.
»Du hast goldene Hände, Florence, ich könnte dahinschmelzen. Das kannst du genauso gut wie Kochen.«
»Worüber denkst du nach?« wiederholte Florence ihre Frage. »Komm, sag es mir.«
Chantal zögerte, bevor sie antwortete. »Über mich und meine Rolle.«
»Was meinst du damit?«
»Eigentlich ist es doch absurd, Florence. Ich arbeite hier in Frankreich gegen meine Landsleute, gegen die unerträglichen politischen Verhältnisse, derentwegen ich Deutschland verlassen habe.«
»Du glaubst, du hättest das schon in Deutschland machen sollen?«
»Nein, in Deutschland gab es zu meiner Zeit keine Chance auf einen organisierten Widerstand, von ein paar kleinen Ansätzen abgesehen. Das Volk war berauscht von den außenpolitischen Erfolgen Hitlers und dem wirtschaftlichen Aufschwung. Kaum jemand fragte sich, wohin das führen würde, außer Sozialdemokraten oder Kommunisten, aber die zerfleischten sich obendrein noch gegenseitig oder wurden von den braunen Bastarden aus dem Spiel genommen, indem man sie in Konzentrationslager steckte.« »Was bewegt dich dann, Chantal?«
Florence nahm sich ein Handtuch um das Geschirr abzutrocknen. Chantal drehte sich um, einen nassen Teller in der Hand.
»Ich habe mich lange Zeit gefragt, ob es richtig ist, gegen die eigenen Landsleute zu arbeiten. Es sind ja nicht nur SS-Schergen und Gestapo-Beamte, sondern auch einfache Wehrmachtsangehörige. Viele von ihnen sind gezwungenermaßen hier oder an der Ostfront.«
Chantal schwiege einige Sekunden lang und fuhr dann fort. »Als wir beide uns kennenlernten, Florence, damals auf dem Sommerfest, du erinnerst dich, hätte ich es wahrscheinlich noch nicht gekonnt, obwohl der Einmarsch in Paris für mich ein ebenso großer Schock war, wie für euch Franzosen.« »Und jetzt, Chantal, kannst du jetzt gegen sie arbeiten?«
»Ja, jetzt kann ich es. Jetzt muss ich es! Du weißt es, Florence. Es war auch nicht erst der Tod von Daniel, der meinen inneren Widerstand gebrochen hat. Ich hatte schon für Daniel ein wenig gearbeitet und führe seinen Kampf jetzt umso entschlossener fort.« Chantal widmete sich wieder dem Abwasch. »Ich habe mich lange geschämt, eine Deutsche zu sein. Was hat unser Land an Kulturschaffenden und Wissenschaftlern hervorgebracht. Goethe, Einstein, Marx, Beethoven. Ein ehemals kultiviertes Land, das jetzt schon zehn Jahre lang von menschenverachtenden Gangstern regiert wird, die sich ganz Europa einverleiben wollen. Ich kann das nicht ertragen, Florence. Unmöglich! Seit dem Einmarsch habe ich damit begonnen, meine deutsche Identität abzustreifen und loszuwerden. Das war nicht einfach und wird wahrscheinlich auch kaum komplett möglich sein. Es hat bis jetzt gedauert, aber ich fühle mich derzeit kaum noch als Deutsche. Die Deutschen sind auch für mich nur noch die Boches.«
Florence legte Chantal ihre Hand auf die Schulter. »Du hast in vielen Dingen recht, aber denke auch an die unzähligen Kollaborateure und Profiteure hier in Frankreich, die das grausame Spiel der Boches mitspielen und deren grausame Herrschaft erst ermöglichen. Ohne die würde das alles gar nicht funktionieren. Und es sind nicht nur Petain und Laval. Mindestens jeder dritte Nachbar von uns kollaboriert mit den Boches. Oder sieh dir die Milice Francaise, die seit dem Sommer in der ehemaligen Vichy-Zone ihr Unwesen treibt und um ein Vielfaches brutaler agiert als die SS. Das sind Franzosen...nein, Chantal, auch wir haben einen großen Anteil an diesen Verhältnissen in unserem Land und ich fürchte, wenn die Deutschen abgezogen sind stehen uns noch schwierige Zeiten bevor. Dann wird nämlich abgerechnet.« Chantal nickte und trocknete sich die Hände ab. Zusammen gingen sie zurück in das Wohnzimmer.
»Ich habe deine Verhaltensänderungen bemerkt, Chantal«, sagte Florence, nachdem sie sich neben Chantal auf die Couch gesetzt hatte.
»Wirklich?«
Florence nickte. Sie rückte ganz nahe an Chantal heran, umfasste sanft ihren Kopf und zog ihn vorsichtig zu sich heran. Dann strich sie Chantal mit dem Daumen eine Träne von der Wange und küsste sie auf die Stirn.
»Weißt du, Chantal«, begann sie, nachdem sie einige Sekunden in Ruhe verharrt hatten, »in unserem Widerstand geht es nicht nur um einen Beitrag zur Befreiung Frankreichs. In erster Linie schon, aber es geht vor allem auch um ein Zeichen an Europa und die Welt. Die Botschaft, dass sich ein ganzes Volk niemals solchen Verbrechern unterwirft. Ich bin übrigens ganz zuversichtlich, dass der Krieg bald zu Ende ist.«
Es klingelte zweimal kurz an der Wohnungstür.
»Das ist sie«, sagte Florence und erhob sich und ging in den Flur. Die junge Kurierin von Maurice Durand trat ein und begrüßte die beiden Frauen knapp ohne ihren Namen zu sagen. Sie berichtete kurz, dass Durand zusammen mit zwei Experten des Special Operations Excecutive aus England Stadings Material geprüft hatte und sie ebenso wie Florence zu der Einschätzung gekommen waren, dass die Dokumente des Deutschen für die geplanten Landungsoperationen von enormer Bedeutung sein würden. Die Kurierin erläuterte darauf hin kurz den Plan des SOE, nach dem Stading zusammen mit einer Begleitung England nach ausgeflogen werden soll und dass sie dabei sind, alle notwendigen Vorbereitungen zu treffen.
»Eines ist jetzt wichtig«, betonte die Kurierin und schaute die beiden Frauen abwechselnd an. »Die Dèfence de la France benötigt Passfotos von beiden Personen. Maurice sagte, wir sollten vorsichtshalber einen Termin mit dem Fotografen machen. Um sieben in der Wohnung im 2. Arrondissement. Darüber hinaus will Maurice definitiv wissen, ob es bei der Begleitperson bleibt.«
»Der Dèfencede la France ist die Abteilung, die die notwendigen Papiere herstellt«, erklärte sie Chantal und wandte sich wieder an die Kurierin. »Sag bitte Maurice, dass wir auch das finale Treffen in der konspirativen Wohnung ansetzen sollten.«
Die Kurierin nickte, verabschiedete sich und verließ die Wohnung. Florence bat Chantal, nochmals neben ihr Platz zunehmen.
»Ich habe mit Maurice über dich gesprochen, Chantal«, begann sie und legte eine Hand auf Chantals Oberschenkel.
»Über mich? Worüber denn?«
»Über das, was die Kurierin soeben angeschnitten hatte. Normalerweise sollte der Deutsche von einer erfahrenen Person aus der Gruppe begleitet werden. So haben wir das immer gemacht. Da Stading jedoch dir gegenüber mehrmals geäußert hat, dass ausschließlich du seine Begleitperson sein sollst«, Florence räusperte sich, »würden wir, die Liberation Nord, dem natürlich entsprechen. Aber auch nur, wenn du dir das wirklich zutraust.« Florence musterte Chantal.
»Das Ziel liegt nicht allzu weit von Paris entfernt«, fuhr sie fort. »In drei Tagen wärst du wieder zurück. Ich bin mir absolut sicher, dass du in der Lage bist, diese Aufgabe zu bewältigen. Es liegt, wie gesagt, an dir.« Chantal nickte. Sie konnte ihre Aufregung kaum verbergen.
»Wenn du dazu bereit bist, wirst du allerdings eine große Verantwortung haben, Chantal. Der Deutsche wird aus Gründen der Konspiration keinerlei Informationen über das Ziel und den weiteren Ablauf bekommen und ausschließlich auf dich angewiesen sein. Wir müssen bis zum Ende noch mit dem Restrisiko leben, dass er ein Spitzel sein könnte. Es sind zu viele Aktivisten aus unseren Reihen in letzter Zeit festgenommen oder sogar umgedreht worden. Und...du musst dich jetzt entscheiden, ob du es nicht machen willst.«
Florence machte eine Pause.
»Nochmals, du hättest mein volles Verständnis, wenn du es ablehnst. In diesem Fall müsste der Deutsche eine andere Begleitperson akzeptieren oder die Sache platzt.«
Florence sah Chantal tief in die Augen.
»Ich nehme den Auftrag an«, hörte Chantal sich sagen und erschrak über ihre geschäftsmäßige Wortwahl. »Genau deswegen bin ich doch hier.«
»Du musst dir aber absolut sicher sein«, entgegnete Florence. Sie behielt Chantal weiterhin fest im Blick. »Wenn du auch nur die geringsten Zweifel hast, dann must du es ablehnen. Nicht nur deinetwegen!«
Chantal hielt ihrem Blick stand. »Du weist genau, dass ich es will und auch tun muss, Florence. Nicht nur für Daniel!« Sie unterbrach sich kurz und senkte den Kopf. »Auch für mich und wenn das jetzt alles sehr pathetisch klingt, letztendlich auch für Frankreich!«
Florence nahm Chantal in die Arme. Wortlos verharrten die beiden Frauen, dann löste sich Florence.
»Ich wusste, dass ich auf dich zählen konnte und es freut mich sehr.« Florence gab Chantal einen sanften Kuss auf die Wange.
Paris, 16. Arrondissement,
Quai Louis-Blériot
Am Abend
SS-Standartenführer Schrader setzte den Saphir des Grammofons vorsichtig auf der Schallplatte auf. Sekunden später ertönte die Stimme von Zahra Leander. ‚Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen‘. Er nahm die Flasche Frapin aus dem Regal und füllte den Cognacschwenker in seiner Hand. Mit geschlossenen Augen inhalierte er den aromatischen Duft des Alkohols. Dann ging er, das Glas mit dem kostbaren Getränk vorsichtig in seiner linken Hand kreisend, zum großen Fenster mit Blick auf den Quai und die Seine. Der wolkige Himmel über Paris hatte sich komplett schwarz eingefärbt, es hatte aufgehört zu schneien. Schrader nahm einen Schluck und ließ die sanft brennende Flüssigkeit auf der Zunge wirken. Nachdenklich verfolgte er die Lichter eines Lastkahns, der sich die Seine hinauf quälte und im nächsten Moment unter der Pont Mirabeau verschwand. Der Verkehr auf dem Quai hatte jetzt am Abend etwas nachgelassen und war kaum noch zu hören. Überhaupt war es viel ruhiger in der Stadt, als noch vor einem Jahr. Angenehm ruhig. Oder eher beängstigend? Die Nachrichten aus dem Osten jedenfalls wurden von Tag zu Tag unangenehmer. Er konnte die Berichte von der Ostfront schon gar nicht mehr hören. Eine riesige Scheiße, die sich dort abspielt, dachte er und spürte wieder diese mit Zorn vermischte Hilflosigkeit in sich aufsteigen. Die Russen scheinen nach dem Fall von Charkow das Heft vollends in die Hand genommen zu haben. Haben wir dem denn nichts mehr entgegenzusetzen? Das kann doch nicht sein. Seit Wochen schon werden doch Truppenteile aus Frankreich an die Ostfront verlegt. Da stimmt doch was nicht.
Schrader blickte gedankenvoll auf das Glas, als könne er hier Antworten auf seine unzähligen Fragen finden. Im Osten wehte schon lange ein anderer Wind, im wahrsten Sinne des Wortes, das wusste er aus verschiedenen Berichten, die im Hauptquartier ihre Runde machten. Natürlich hinter vorgehaltener Hand. Seit Stalingrad scheint es dort nur noch ums nackte Überleben zu gehen! Endkampf nennen sie das! Diese armen Schweine. Verrecken gerade in Schneebergen und Schlamm oder verlieren bei der grausamen Kälte ihre Gliedmaßen. Er atmete tief ein. Es ist ein Scheißjob, dort an der Ostfront. Die reinste Hölle! Und es sieht so aus, als wenn es nicht besser werden würde.
Schrader nippte an seinem Cognac. Noch kommt man hier im Westen einigermaßen über die Runden, aber wie lange noch? Auch hier wird sich bald der Wind drehen. Die ersten Anzeichen sind ja schon deutlich erkennbar. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Es war noch nicht lange her, da lebte er sprichwörtlich wie Gott in Frankreich. Das ist vorbei, endgültig! Die Versorgungslage wird auch hier immer katastrophaler. Langsam geht alles den Bach runter. Dazu der zunehmende Widerstand in der französischen Bevölkerung. Unglaublich, was für einen Zulauf die Résistance gerade erfährt. Und die Wehrmacht wirkt zusehend hilfloser im Angesicht der alliierten Bombenangriffe.
Schrader schloss für einen kurzen Moment die Augen und sog noch einmal den Alkohol durch die Nase ein. Selbst der Cognac schmeckte nicht mehr so wie früher. Ein ganz schlechtes Zeichen! Aber er hatte es kommen sehen und ständig verdrängt. Ging ja immer gut. Doch jetzt rächt sich die Strategie dieser Möchtegern-Feldherren Jodl und Keitel. Diese Hampelmänner! Die Westfront war ein riesiger Fehler! Okay, er schnaufte verächtlich durch die Nase, ohne diese Westfront wäre er nicht hier in Paris. Aber egal, die entscheidende Frage ist doch, wie es weitergeht. Wie lange wird das Leben hier noch ertragbar sein? Wenn sich nicht bald etwas Entscheidendes tut, wenn es nicht gelingt, der unweigerlichen Landung der Alliierten in Frankreich etwas Angemessenes entgegenzusetzen, dann ist alles ganz schnell vorbei. Die Amerikaner und Engländer sollen schon mit den ersten Vorbereitungen für ihren Einsatz begonnen haben, das war jedenfalls auf der letzten Sicherheitsbesprechung durchgesickert. Innerhalb der nächsten sechs Monate musste man mit ihnen rechnen. Und aus dem Desaster von Dieppe im Sommer vor einem Jahr, dieser schlampig geplanten Landung, werden sie ihre Lehren gezogen haben. Die nächste Landung wird eine andere Nummer werden, das ist schon mal sicher!
Leider tragen Rommels Einschätzungen über den Atlantikwall nicht gerade zu einer Beruhigung bei. Ganze sechs Panzerdivisionen haben sie...er wollte nicht mehr darüber nachdenken, doch diese beschissenen Gedanken ließen sich einfach nicht mehr vertreiben. Wir brauchen endlich einmal gute Nachrichten! Scheiße noch mal, der Führer muss doch eine Antwort finden! Unsere Wunderwaffe, zum Beispiel. Was machen die beiden Feldwebel-Arschgeigen überhaupt bei den Lagebesprechungen in der Führerbaracke? Die hätte der Führer schon längst feuern sollen.
Schraders Backenknochen mahlten. Seine Wut war knapp am Siedepunkt. Am liebsten hätte er den Cognacschwenker an die Wand gefeuert. Er öffnete das Fenster und sog die kalte Luft ein. Die Luft tat gut.
Im Sommer erst hatte er diese wundervolle Sieben-Zimmer-Wohnung des jüdischen Kunsthändlers bezogen. War ein Schnäppchen gewesen, der Mann hätte damit in Ausschwitz sowieso nichts mehr anfangen können. Trotzdem hatte es noch eine Menge Geld gekostet, sie ein bisschen herzurichten.
Klar, vielleicht war er ein wenig blauäugig gewesen, seine mittelfristige Lebensperspektive mit dieser Wohnung, mit Frankreich zu verbinden, schließlich war er mit seinen vierunddreißig Jahren noch jung und jetzt auch flexibel genug, um überall auf der Welt zu leben. Aber seit er hier in Paris angekommen war, fühlte er sich immer mehr von dieser wundervollen Stadt angezogen, die ihm obendrein eine bezaubernde Freundin beschert hat. Schrader schüttelte nachdenklich den Kopf. Zum Kotzen ist das alles! Vor ein paar Monaten noch wäre er gar nicht auf solche Gedanken gekommen, jetzt kosten sie ihn schon die eine oder andere schlaflose Nacht. Und vor allem, was kommt danach? Sein Posten als stellvertretender Kontrolleur des Sicherheitsdienstes für Paris würde weder bei den Alliierten noch bei der Bevölkerung einen besonderen Klang haben. Er lachte heiser auf. Scheiße noch mal, das wird ein riesiges Problem werden! Es nutzte auch wenig, dass er hier bestens integriert war. Sein Französisch war mittlerweile mehr als akzeptabel und er zählte eine Reihe von Franzosen zu seinem Freundeskreis. Darauf werden sie aber keine Rücksicht nehmen. Sein Blick wurde hart. In zwei Wochen ist Weihnachten und Mittwoch der letzte Tag um die Geschenke für Kathrin einzukaufen, damit sie noch rechtzeitig in Deutschland eintreffen.
Schrader trank von seinem Cognac. Im März wird seine Tochter fünf Jahre alt werden und seit über drei Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen. Das Bild, wie sie in dem blauen Kleidchen und den weißen Kniestrümpfen vor ihm stand, ist ihm bis jetzt präsent. Das scheue Lächeln, die Grübchen. Er musste schlucken. Es war genau eine Woche vor seiner Entscheidung, die Abteilungsleiterstelle in Paris anzunehmen und es war sein letzter Kontakt zu seiner Tochter. Er hatte Kathrin in Bayern besucht, wo sie bei ihrer Mutter lebte. Hartnäckig versuchte er die Tränen zu stoppen, die sich in seinen Augenwinkeln sammelten, doch es gelang ihm nicht. Nach den intensiven Tagen mit seiner Tochter am Chiemsee und in den Bergen war die Rückreise nach Berlin zur Qual geworden. Er hatte zum ersten Mal die unerträglichen Schmerzen gespürt, die ihm der Verlust seiner Familie bescherte und musste sich eingestehen, dass allein er selbst dafür verantwortlich war. Eine Rückkehr, das hatte Edith ihm unmissverständlich klargemacht, war ausgeschlossen. Natürlich hatte er geahnt, dass ihm seine Frauengeschichten irgendwann einmal das Genick brechen würden und trotzdem hatte er immer weiter mit dem Feuer gespielt, bis es lichterloh brannte. Ute, seine Sekretärin im Reichssicherheitshauptamt war die letzte seiner unzähligen Affären. Sie brachte das Fass zum Überlaufen. Lippenstift am Hemdkragen, für diese Dusseligkeit hätte er sich heute noch ohrfeigen können. Das anschließende Gespräch mit Edith empfand er wie eine Tracht Prügel, ihre Worte wie Keulenhiebe. Es hatte keine zwei Wochen gedauert, bis Edith die gemeinsame Wohnung verlassen hatte und in ihre Heimat nach Bayern gezogen war.
Es war der erste ernstzunehmende Rückschlag seines Lebens, das bis dahin so glatt gelaufen war. Es hatte nicht viel gefehlt und diese Affäre hätte ihn obendrein auch noch seine Karriere gekostet. Nur ungern erinnerte er sich an den Rüffel der Partei. Dort hatte man für Seitensprünge und Frauengeschichten außerhalb der Ehe überhaupt kein Verständnis, schon gar nicht zu Kriegszeiten, wo eine intakte Ehe oder Familie das höchste Gebot war. Die krachende Standpauke seines Chefs, der ihn auf Briefmarkenformat zusammenfaltete, war äußerst peinlich und unangenehm, Er brauchte Wochen, um sich von diesem Tiefschlag zu erholen. Dass er den Job in Paris trotzdem antreten durfte, hatte er ganz allein seinen außerordentlichen beruflichen Qualitäten zu verdanken, wie man ihm hinterher zu verstehen gab. Darauf war er stolz. Die anderen Kollegen waren ersetzbar, auf ihn konnten sie nicht verzichten. Kein Wunder, dass es dann ganz schnell nach oben ging. Nur ein halbes Jahr nach diesem Schlag ins Kontor nahm er die ausgeschriebene Stelle bei der Sicherheitspolizei in Paris an und schaffte es innerhalb von zwei Jahren zum stellvertretenden Kontrolleur des SD. Jetzt hatte er das obere Ende der Karriereleiter erreicht: Kommandeur der SiPo und des SD in Paris. Das ist schon was. Mehr ist nicht drin.
Schrader lächelte in sich hinein. Ihn fröstelte. Er schloss das Fenster und leerte sein Glas mit einem letzten Zug. Die nächsten Wochen werden entscheidend sein. Wir müssen jetzt richtig gut funktionieren! Wenn alle ihre Pflichten so erledigen würden, wie er und seine Mitarbeiter, gäbe es überhaupt keine Probleme. Die Zahl der Juden und Roma nimmt in Paris stetig und mit atemberaubender Geschwindigkeit ab. Die Lager in Drancy und Compiègne sind jetzt schon randvoll. Da haben wir den größten Engpass! Natürlich geht das nicht mehr lange gut, aber in Berlin reagiert man auf seine unzähligen Eingaben ja nicht. Wie oft hatte er schon dieses Thema angesprochen. Zusammen mit anderen Kollegen machten sie den Vorschlag, das verdammte Judenpack auf direktem Weg in die Ostgebiete zu karren, aber da gibt es angeblich riesige logistische Probleme mit der Reichsbahn. Von zu wenigen Ressourcen quatschen die, aber wahrscheinlich fehlt denen nur ein ausgeklügelter Plan. Wenn sich nicht ganz schnell etwas ändert, wird das nichts mehr, Freunde!
Schrader zog sein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. Gerade als er den ersten Rauch inhalierte, öffnete sich die Flügeltür am Ende des Wohnraumes.
»Voilà Cherie, ich bin so weit.« Claire stand freudig strahlend im Türrahmen. Schrader fuhr zusammen, er hatte überhaupt nicht mehr an die Zeit gedacht. Anmutig lächelnd stolzierte Claire in ihrem eng geschnittenen blauen Kostüm auf ihn zu. Seine Gesichtszüge entspannten sich.
»Du siehst zauberhaft aus, Liebling. Ist es wirklich schon so weit?«
Er schob den Ärmel seiner Anzugjacke hoch und blickte auf die Uhr. »Ja, du hast recht, wir haben gerade noch neun Minuten. Pünktlich um viertel nach sieben steht der Wagen vor der Haustür bereit.«
Claire schmiegte sich an ihn und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange.
»Alles ist genau geregelt, nicht wahr, Cherie?«, flötete sie. »Das liebe ich an euch Deutschen so. Nichts wird dem Zufall überlassen.«
Schrader legte den Arm um Claires Taille.
»Da ergänzen wir uns doch gut, nicht wahr, mon amour? Ihr Französinnen habt eben andere Qualitäten.«
Gefühlvoll zog er seine Freundin eng zu sich heran, senkte den Kopf und küsste sie. Ihr blumiges Eau de Toilette ließ ihn auf ganz andere Gedanken. Er spürte die harten Nippel ihrer Brüste und verfluchte in diesem Moment, das er Karten für den Ballettabend im Théâtre des Champs-Élysées hatte besorgen lassen. Aber es war nun mal eines seiner Geschenke zu ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag.
»Es wird Zeit, Cherìe«, hauchte Claire, während sie ihm mit dem Daumen eine wenig Lippenstiftfarbe von der Oberlippe wischte.
Schrader nickte verständnisvoll und löste sich von ihr. Hand in Hand verließen sie den Raum.