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Samstag, 30. Juli 1938

Berlin-Zehlendorf,

Am Großen Wannsee

»Mein lieber Mann, hier ist ja ganz schön was los«, stellte der junge Mann mit den blonden, scharf gescheitelten Haaren und einem kräftigen Körperbau fest, während er von seinem Platz aus in die Runde schaute. »Sieh mal nebenan.« Er nickte unauffällig zum Nebentisch. »Das Mädel mit der Berliner Weiße. Scheint solo hier zu sein. Wäre genau meine Kragenweite.«

»Deine Kragenweite?«, fragte sein Gegenüber grinsend. »Du bist doch verheiratet, Heinz, und hast deine Braut zu Hause. Ich...«

»Das lass man meine Sorge sein, mein lieber Bernd«, fiel Heinz ihm in beleidigtem Tonfall ins Wort.

»Versaue mir jetzt bitte nicht die Stimmung. Außerdem ist ein kleiner Seitensprung nichts Verwerfliches.«

Heinz war sichtlich verärgert. Immer wieder schmieren sie mir aufs Brot, dass ich verheiratet bin. Es wird Zeit, dass ich mal ein paar deutliche Worte spreche. Schließlich ist das ganz alleine mein Problem, verdammt noch mal. Natürlich war es ein Fehler gewesen, Renate zu heiraten. Sie ist eine herzensgute Frau, nett anzusehen, wenn auch nicht attraktiv im herkömmlichen Sinn. Er glaubte allerdings, sie mal geliebt zu haben, was allerdings schon eine Ewigkeit zurücklag. Momentan war ihrer Beziehung jedenfalls die Luft entwichen und wenn er es ehrlich ausdrücken wollte, war der Reifen total platt. Da ging nichts mehr. Renate hatte alles versucht, um ihre Ehe zu retten, ihre Lösung war aber immer nur ein gemeinsames Kind. Das würde sie zusammenschweißen, ihrer Beziehung frischen Wind bescheren! Wie hatte er es gehasst, wenn sie schon beim Frühstück davon anfing. Der ganze Vormittag war hin. Seine Gegenargumente, die berufliche Anspannung und dass er noch etwas erreichen wolle, zählten bei ihr scheinbar gar nicht. Natürlich musste er zugeben, dass es ihm in erster Linie darum ging, seine Freiheit zu bewahren. Sonntagsspaziergänge mit dem Kinderwagen konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

Als er Renate vor neun Jahren auf dem Schulhof des Victoria-Gymnasiums in Potsdam angesprochen hatte, war sie Feuer und Flamme gewesen. Sie war zwei Klassen unter ihm und himmelte ihn an, wie seinen Namensfetter Heinz Rühmann. Klar, er hatte einen großen Schlag bei den Mädels, sie war auch nicht seine erste Freundin. Schon bald trafen sie sich ein erstes Mal und dann regelmäßig. Als er im folgenden Sommer zu Hause in der elterlichen Wohnung in der Kaiser-Wilhelm-Straße blieb, während seine Eltern in ihrer Sommerresidenz in Heringsdorf auf Usedom verweilten, nutzte er die Gelegenheit, um sie flachzulegen. Seitdem wich sie ihm nicht mehr von der Seite.

»Ach Herr Ober«, rief Heinz, als der Kellner vorbeikam, »wir hatten noch zwei Schnäpse bestellt.«

»Ich weiß, aber ich habe nur zwei Hände zum Tragen. Wenn ich vier hätte, würde ich im Zirkus auftreten.«

»Ist schon klar. Wollte es nur noch mal in Erinnerung rufen.« Heinz wandte sich grinsend wieder seinem Freund zu. »Der ist ein bisschen lahm, was? Ich glaube, da können wir lange warten. Ich werde mich mal um die hübsche Dame am Nebentisch kümmern.«

Grinsend erhob er sich von seinem Platz.

»Na dann viel Spaß«, entgegnete Bernhard und trank einen kräftigen Schluck von seinem Bier.

»Darf ich um einen Tanz bitten, gnädiges Fräulein?«

Charlotte fuhr zusammen. Einer der beiden jungen Männer vom Nachbartisch stand neben ihr. Mittelblonde, scharf gescheitelte Haare, schlank und hoch aufgewachsen. Seine graublauen Augen funkelten im Schein der bunten Glühlampen. Eine interessante Erscheinung, das hatte sie schon feststellen können. Lächelnd nickte sie, erhob sich und folgte ihm zur Tanzfläche.

»Wie gefällt es Ihnen hier?«, fragte er während sie sich zu dem Stück »Wenn Matrosen mal an Land geh’n« drehten.

»Sehr gut. Wirklich ein schönes Fest.«

»Und Sie sind eine sehr schöne Frau. Ich beobachte Sie nämlich schon den ganzen Abend.«

»Oh, vielen Dank.« Charlotte spürte sogleich die Röte in ihrem Gesicht aufsteigen.

»Und wie sind Sie auf dieses Fest gekommen?«, fragte sie um etwas abzulenken. »Ich meine, sind Sie Mitglied in diesem Club?«

»Ja, aber ich muss gestehen, dass ich ein schlechter Ruderer bin. Also mehr oder weniger passives Mitglied. Um ehrlich zu sein, habe ich andere sportliche Interessen. Aber dieses Fest lass ich mir nicht entgehen.«

»Und was haben Sie für sportliche Interessen?«

»Ich spiele Hockey. Beim Berliner Hockey-Club am Hüttenweg.«

»Oh, ich habe auch eine Freundin, die Hockey spielt. In Lichterfelde.«

Sie musste anerkennen, dass er ein guter Tänzer war und sie recht schwungvoll führte. Sie hatte lange nicht mehr getanzt und merkte, dass es ihr trotz der Anstrengung guttat. Nach einigen Runden spürte sie den Schweiß am ganzen Körper.

»Ich glaube, ich brauche jetzt mal eine kleine Pause«, sagte sie japsend und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Er nickte verständnisvoll und brachte sie zu ihrem Platz zurück, wo Olaf und Rosa vor ihren Tellern saßen und erstaunt aufschauten.

»Vielen Dank für den Tanz«, sagte sie und deutete einen Knicks an. »War mir ein Vergnügen, mein Fräulein.« Mit einer knappen Verbeugung und einem Augenzwinkern wendete er sich ab und ging lächelnd zu seinem Tisch zurück.

»Und, Lotte?« Rosa konnte ihre Neugier kaum verbergen.

»Was meinst du?«

»Na komm schon, ist er was für dich?«

»Nun hör aber auf, Rosa. Nach einem Tanz. Ich bitte dich.«

»Aber warum denn? Der macht doch einen netten Eindruck. Hat er Interesse an dir?«

»Nun lass sie doch mal, Liebling«, mischte sich Olaf ein. »Du wirst es schon früh genug erfahren. Möchtest du vielleicht mal etwas probieren, Lotte?« Olaf deutete auf seinen Teller, auf dem er eine Boulette, zwei Gewürzgurken und zwei hart gekochte Eier um eine Portion Kartoffelsalat herum arrangiert hatte.

»Na gut, schneidest du mir bitte ein kleines Stückchen ab.«

»Du kannst auch von mir nehmen«, warf Rosa ein und hielt Charlotte ihr Besteck hin. »Ich schaffe das eh nicht.«

»Mal was anderes, Lotte, hast du das mit Georg gehört?«, fragte Olaf nach einer kurzen Pause, während er ein Stück seiner Boulette in den Senf tauchte.

»Nein, was ist mit Georg?«

»Hat Deutschland verlassen. Letztes Wochenende.«

»Was? Das wusste ich gar nicht.« Charlotte ließ ihre Gabel sinken und sah Olaf angstvoll an.

»Ja, die braunen Herrschaften haben sich das Geschäft seiner Eltern in der Grolmanstraße wieder einmal vorgenommen und mit Farbe beschmiert. Zwei Schupos, die von Georgs Mutter auf der Straße angesprochen wurden, sollen einfach weitergegangen sein. Und anschließend zwangen diese SA-Schergen seine Eltern, die Straße zu reinigen.«

Charlottes Blick sprang von Olaf zu Rosa und wieder zurück.

»Sie haben alles aufgegeben und sind spontan zu Freunden nach Dänemark ausgereist«, ergänzte Rosa. »Irgendwann findet der komplette Umzug statt.« Charlotte konnte es kaum fassen.

»Ich habe es geahnt«, zischte sie. »So sieht es mittlerweile aus in Deutschland und es wird immer schlimmer! Jeder Blick in die Zeitung macht mir Angst. Wenn ich die Schlagzeilen des Völkischen Beobachters oder des Stürmers an den Kiosken sehe, bekomme ich jedes Mal aus Neue eine Gänsehaut. Sie wollen uns alle in den Würgegriff nehmen. Mit den Juden fangen sie an, die haben jetzt richtig zu leiden...« Sie atmete tief aus und senkte den Blick.

»Aber das war ja abzusehen. Kann ich Georg nochmal irgendwo treffen?« »Ich glaube, Alfred hat noch Kontakt zu ihm«, sagte Rosa.

»Beim Umzug werden wir auf jeden Fall helfen.«

Charlotte nickte nachdenklich.

»Ist vielleicht nicht das richtige Thema für diesen Abend«, versuchte Olaf die plötzlich getrübte Stimmung wieder zu heben. »Komm Liebling, lass uns mal tanzen.« Olaf sah seine Freundin auffordernd an. Rosa nickte und erhob sich.

»Vielleicht kommst du ja auch noch einmal auf die Tanzfläche, Lotte«, wandte sie sich an Charlotte und nickte augenzwinkernd in Richtung des Nebentisches. Charlotte warf ihr einen drohenden Blick hinterher.


Am Ende Der Dämmerung

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