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3.1 Vortragsformate und Sprechkunst

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Abhandlungen über die Sinne generell, über Stimme, Ton und Gehör im Speziellen, gehen weit zurück; in seiner Geschichte der Stimme beginnt Karl-Heinz Göttert (1998) bei seinen Ausführungen über die Funktion der Stimme in der europäischen Kulturgeschichte bei der Antike und skizziert ihre Position im Theater, im Gericht, in der Liturgie und politischen Propaganda über 2000 Jahre.1 Sowohl im Alltag als auch in diversen Berufssparten lassen sich Moden von Stimme und Sprechweise und unterschiedliche Gattungen und Formen der VortragskunstVortragskunst unterscheiden, wie das Deklamieren, Rezitieren, Zitieren, Vorlesen bis hin zum Singen oder dem Sprechgesang.

VortragsformateVortragsformate (wie Dichterlesung, Virtuosenvortrag, Dramenvorlesung, episches Vorlesen, humoristische Abende, schulische Rezitation, Rundfunklesung, Sprechchor und Poetry-Slam) sind komplexe Typen mündlicher Darbietung, die aufgrund ihrer relativ konstanten und wiederholbaren Elemente einen Erwartungsrahmen für Akteure und Zuhörer bilden, auch wenn sie geschichtlichen Veränderungen unterliegen. (Meyer-Kalkus, 2019, S. 8)

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts galt die antike RhetorikRhetorikantike als Vorbild, auch im Hinblick auf den Gebrauch der Stimme, die für die rhetorischen Ziele eingesetzt wurde und das Publikum bewegen sollte. Die folgenden zwei Jahrhunderte kann man schließlich nach Meyer-Kalkus (2019, S. 22–24) in fünf Etappen stilbildender Schulen der VortragskunstVortragskunst unterteilen, die an den unterschiedlichen Vortragsformaten festzumachen sind: (1) Die Zeit der SprechkunstbewegungSprechkunst-bewegung und eine mediengeschichtliche Veränderung dank der „Buch-Revolution“ ab 1800; (2) zeitgleich die Deklamationsveranstaltungen als parallele Programme zum Theater; (3) um 1900 die privaten DichterlesungenDichterlesung mit Abkehr vom Theatralischen; (4) seit den 1920er Jahren die VortragskunstVortragskunst vor dem Mikrofon in den Medien, v.a. dem Rundfunk; (5) ab den 1980er Jahren (seit der Verbreitung mobiler Geräte) neue Formate wie Hörbücher, Live-Veranstaltungen etc. Einige markante Vertreter und Einschnitte seien im Folgenden erwähnt.

Die Diskussionen um die Ästhetik der SprechkulturSprechkultur in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert betrafen sowohl das TheaterTheater als auch die RednerbühneRednerbühne. Was sich im ausklingenden 18. Jahrhundert hauptsächlich zu ändern begann, war, dass nun das laute DeklamierenDeklamieren, bei dem die Stimme jeder Natürlichkeit entbehrte, in Frage gestellt wurde. Diese Form des Sprechens war oft nur GeschreiGeschrei gewesen, von gekünstelter GestikGestik begleitet. Man wandte sich jetzt einem Sprechstil zu, der sich im Theater als Ausdruck des Dichters verstand. Es ging um Sprechkunst, die mehr Natürlichkeit und Lebensnähe verkörpern sollte, und die sich von der Rhetorik als purem Mittel zur Überredung abzuwenden suchte. Es entstanden rege Diskussionen über die Techniken des Vortrags im Theater, über die Unterscheidung des RezitierensRezitieren vom DeklamierenDeklamieren, über den Gebrauch der Stimme beim Sprechen und Singen.2

Der Österreicher und an bedeutenden deutschen Bühnen tätige Schauspieler Joseph Kainz (1858–1910) war wohl eine der Schlüsselfiguren für das TheaterTheater, dem eine absolut gekünstelte VortragsstimmeVortragsstimme zu eigen war, so dass Meyer-Kalkus (2001, S. 251–263) ihn als „Sprechsänger“ bezeichnet. Generationen von Schauspielern folgten seinem Vorbild des emphatisch-hysterischen Sprechstils, der extreme Tonhöhenbewegungen und gedehnte Akzentsetzungen aufwies, sodass sein Stil gern als „singend“ beschrieben wurde bzw. wird. Weiter ist Hermann Kolb zu nennen, der vormalige Rundfunkintendant während des NationalsozialismusNationalsozialismus und großer Bewunderer von Joseph Kainz. Er formulierte für das HörspielHörspiel Richtlinien und Grundsätze, die auf einen SprechausdruckSprechausdruck zielten, der die Einbildungskräfte stärken und die Öffnung von einem „inneren Vorstellungsraum“ schaffen sollte (Meyer-Kalkus, 2001, S. 370).3

Dem Schauspieler stellte sich die Figur des Redners gegenüber, dem Deklamieren das Rezitieren, wobei eine Reihe an Dichtern und Schriftstellern unbedingt zu nennen sind, denn sie haben einen entscheidenden Beitrag für den aufkommenden neuen Sprech- und RezitationsstilRezitationsstil geleistet, der bis in die NachkriegszeitNachkriegszeit den Rede- und Vortragstypus prägte: Ludwig Tieck, Wilhelm Jordan und Emil Palleske. Letzterer sei es laut Göttert (1998, S. 394) gewesen, der bei

der Frage der Anwendung der SprechkunstSprechkunst im Leben […] ausdrücklich auf Politik, Wissenschaft und Kirche“ verwiesen habe, also den Blick auf weitere Vortragssituationen lenkte, weg von der Bühne. Für Palleske war „übermäßige Lautheit […] ein Greuel, weil dann die Schönheit leide, die nur bei mittlerer Stimmmlage und mäßiger Anstrengung zustandekomme. (ebd.)

Die regen Diskussionen um SprechstilSprechstil, Rezitationsformen und Vortragskunst begünstigten in Deutschland die Entwicklung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin. Um 1900 wurden an verschiedenen deutschen Universitäten die ersten Lektorate für SprecherziehungSprecherziehung eingerichtet, aus denen sich die späteren Institute herausbildeten. In diesen Lektoraten wurde „Vortragskunst, StimmbildungStimmbildung, Redekunst usw. auf wissenschaftlicher Grundlage kontinuierlich praktisch gelehrt“ (Pabst-Weinschenk, 2004, S. 254). Die Entwicklung der Disziplin zur eigenen Wissenschaft folgte dem Dreischritt in der Fachbezeichnung SprecherziehungSprecherziehung, SprechkundeSprechkunde und SprechwissenschaftSprechwissenschaft; Papst-Weinschenk spricht von „Lebensaltern“ (2004, S. 254). Das Standardwerk des Begründers Erich Drach, Sprecherziehung. Die Pflege des gesprochenen Wortes in der Schule (1922) gilt bis heute als Pflichtlektüre des Studiums der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung.

Der NationalsozialismusNationalsozialismus setzte dem Fach Sprecherziehung in der Hinsicht zu, dass er die SprechkunstSprechkunst bzw. Wortkunst in seine Dienste stellte. „Aber man kann auch deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Fachvertretern, Distanzierungsversuche und Widersprüche erkennen“ (Pabst-Weinschenk, 2004, S. 256). Ewald Geißler postulierte etwa in den 1930er Jahren die WortkunstWortkunst als Rassepflicht, stellte sie in die Pflicht der Verherrlichung Hitlers und des Nationalsozialismus. „Geißlers ‚kreuzzug‘ gegen den ‚sprachverfall‘ entwickelt im laufe der jahre immer fanatischere züge, bis schließlich aus der sprachpflege eine rassenpflicht wird“4 (Roß, 1994, S. 37).

Nach dem Krieg waren es die Fachvertreter Fritz Schweinsberg, Christian Winkler und Maximilian Weller, die die Sprecherziehung wieder belebten und an die Errungenschaften vor der dunklen Zeit des NationalsozialismusNationalsozialismus erinnerten.5 Dem manierierten SprechduktusSprechduktus während des Dritten Reichs folgte also Zurückhaltung und Rückbesinnung. Im Gegensatz zum jahrelang vertrauten emotional-pathetischen, stimmlich eher überhöhten Sprech-HabitusSprech-Habitus der NS-Zeit zeichnete sich nun eine neue Ästhetik der Stimme und SprechweiseÄsthetikder Stimme und Sprechweise durch ruhigen Ton und sparsame Akzente aus. Epping-Jäger (2015a, S. 86) spricht von einem „Pathos der Nüchternheit“ und davon, dass die Rede- und Stimmordnungen „nicht nur im Raum öffentlicher, sondern auch in dem semi-öffentlicher Kommunikation tief greifend irritiert waren.“

Der marktschreierische Stil der alten VortragsformateVortragsformate wich einem natürlicherem, gepflegtem SprechausdruckSprechausdruck, der von Krech (1991, S. 218) auch als „sachlich unterkühlte sprecherische Wiedergabe“ beschrieben wird, wenn auch Spuren des salbungsvollen SprechduktusSprechduktus noch einige Zeit nach dem Krieg zu erkennen waren. So wurde die Vortragskunst im Rahmen der Sprecherziehung neu bewertet und eine Reihe an deutschen Sprechwissenschaftlern befasste sich in den ersten Nachkriegs-Jahrzehnten des Faches mit StilgeschichteStilgeschichte und der Kunst des Sprechens bzw. Vortragens. Heute ist die SprechkunstSprechkunst, oder Ästhetische KommunikationKommunikationästhetische, Studien- und Prüfungsfach eines Studiums in Sprechwissenschaft und SprecherziehungSprecherziehung.6

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