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1.2.2 Vielfalt der Praxisphänomene

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Ausschnitt der Wirklichkeit

Um in diesen spezifischen Wirklichkeitsausschnitt einzuführen, soll nun die Vielfalt der Praxisphänomene unseres Faches in Fallbeispielen von Menschen mit Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation in der gesamten Lebensspanne veranschaulicht werden. Diese Praxisphänomene bilden die Ausgangsbasis (Ebene I) unseres Faches (Abb. 4). Selbstverständlich beeinflusst die hier verwendete Methode der ausschnitthaften und exemplarischen schriftlichen Rekonstruktion den Erkenntnisgegenstand. Er würde ganz anders wahrgenommen, wenn beispielsweise methodisch stattdessen autobiographisches Material oder Videographien von Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen präsentiert werden würden (Kap. 3). Für das Lesen der Beispiele ist deshalb wichtig, sich bewusst zu sein, dass nicht die Lebenswirklichkeit der einzelnen Personen direkt zugänglich ist, sondern nur indirekt, gefiltert durch die Erkenntnisperspektiven der schildernden Autoren sowie der unterschiedlichen Leserinnen und Leser.

Fallbeispiel 1: Felix

Der zwei Monate alte Felix wird von seiner Mutter mit einer Flaschennahrung gefüttert. Felix wurde nur eine Woche lang nach der Geburt gestillt, da sich dabei große Komplikationen für Mutter und Kind zeigten. Bei Felix liegt das genetische Merkmal einer Trisomie 21 (Down-Syndrom) vor. Das Füttern mit der Flasche erweist sich für die Mutter als etwas weniger belastend. Allerdings bereitet dem Säugling auch diese Situation große Schwierigkeiten. Er verschluckt sich häufig und hustet dabei. So fließt immer wieder ein Teil der Nahrung aus dem Mund. Zudem ist das Saugen schwach und er setzt immer wieder vom Sauger ab. Ebenfalls ist seine Atmung unregelmäßig. Das Füttern ist stets ein langwieriger Vorgang, der Mutter und Kind eine hohe Anstrengung abverlangt.

Fallbeispiel 2: Anna

Auf dem Flur der Kindertagesstätte ist Anna mit anderen Kindern in ein kurzes Rollenspiel vertieft. Es ist noch nicht viel Zeit vergangen, seitdem sie von ihrem Vater an der Gruppentür verabschiedet wurde. Beide sprachen dabei Russisch. Anna wollte ihren Vater eigentlich gar nicht weggehen lassen. Die Familie kam nach Deutschland, als Anna gerade drei Jahre alt war. Heute ist sie fünf. Die Spielkameradinnen haben sich auf dem Flur bewusst gesucht, denn hier unterhalten sie sich teilweise auf Deutsch und teilweise auch auf Russisch. Sie stammen alle aus Familien mit russisch-deutschem Migrationshintergrund. Anna spricht sehr undeutlich und gebraucht nur wenige Wörter, die sie meist in der Grundform ungeordnet aneinanderreiht. Die Schwierigkeiten kann man durchaus in beiden Sprachen erkennen. Nach dem Spiel mit den Freundinnen geht Anna alleine in den Gruppenraum und nimmt Kontakt mit der Erzieherin auf.

Fallbeispiel 3: Bastian

Im Deutschunterricht der zweiten Klasse geben sich jeweils zwei Arbeitspartner mit einem kurzen Lesetext gegenseitige Spielanweisungen. Bastian versucht die Wörter auf seinem Zettel zu entschlüsseln. Er vermag einige der vorkommenden Grapheme nicht korrekt auszusprechen. Er liest einmal bei <Tasche> die Wortgestalt [tass]. Sein gegenüber sitzender Mitschüler zeigt sich irritiert, da er keine ‚Tasse‘ für die spielerische Ausführung der Anweisung zur Verfügung hat. Bastian setzt mehrmals beim Lesen an, kann seine Aussprache allerdings nicht selbstständig korrigieren. Mithilfe eines phonematischen Handzeichens, welches das Merkmal der Lippenvorwölbung herausstellt und von der Lehrkraft in der Situation unterstützend gegeben wird, gelingt die Artikulation so weit, dass Bastians Partner nun das Wort richtig identifizieren kann.

Fallbeispiel 4: Claudia

In der Pause treffen sich Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Klassen auf dem Schulhof des Gymnasiums. In einer Schülergruppe beginnt eine eifrige Diskussion über die Planung des bevorstehenden Schulfestes. Unter den Jugendlichen befindet sich Claudia. Sie ist 16 Jahre alt und weist eine infantile Cerebralparese auf. Ihre Bewegungsstörungen erfordern die Fortbewegung mit einem Elektro-Rollstuhl. Überdies kann Claudia keine verständliche Verbalisierung leisten, da sie ihre Mundmotorik nicht kontrollieren kann. Dennoch ist sie lebhaft an der Diskussion beteiligt. Sie verfügt über einen am Rollstuhl befindlichen Sprachcomputer, den sie mit ihren Augenbewegungen steuert. Dabei ist Claudia in der Bedienung schon gut geübt. Einige Male kommt es allerdings zu längeren Pausen, als sie eine Aussage machen möchte. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler müssen viel Geduld aufbringen, die Gesprächsunterbrechung abzuwarten. Aber Claudia bringt oft ganz neue Einfälle in die Runde.

Fallbeispiel 5: Torsten

Torsten ist Sachbearbeiter in einer Versicherungsfirma. Er gehört mit seinen 24 Jahren zu den jüngeren Beschäftigten in seiner Abteilung. Seine Kolleginnen und Kollegen sind teilweise schon lange in der Firma tätig und im Metier erfahren. Torsten weiß, dass er sich bei Fragen von ihnen Rat einholen kann. Dennoch kostet es ihn große Überwindung, eine Kollegin eines anderen Sachgebietes um eine Auskunft zu bitten. Seine Anspannung steigert sich beim Betreten des Raumes, seine Atmung wird schneller, sein Puls steigt an. Torsten muss mehrmals ansetzen, um sein Anliegen mitzuteilen, da er seinen Redefluss nicht kontrollieren kann. Er stockt häufig vor Konsonanten am Anfang der Wörter. Torsten hat zwar in der Sprachtherapie Techniken gelernt, seine Sprechblockaden zu umgehen, doch diesmal gelingt es ihm nicht, das Stottern zu verflüssigen. Die Situation entspannt sich etwas, als die beiden den Sachzusammenhang gemeinsam recherchieren und in den Aktenunterlagen blättern.

Fallbeispiel 6: Uwe

Im Supermarkt wird Uwe, ein großer Mann mit 57 Jahren, von einer älteren Frau gebeten, aus dem obersten Regalfach eine gewünschte Ware herauszunehmen und das Haltbarkeitsdatum vorzulesen. Uwe folgt dem Wunsch der Dame und liest mit eigentümlichem Stimmklang das Datum vor. Uwe wendet nach einer tumorbedingten Kehlkopfentfernung (Laryngektomie) eine Speiseröhrenersatzstimme (Ösophagusersatzstimme) an, die er während der Klinikaufenthalte erlernen konnte. Das führt dazu, dass sich die Kundin bei Uwe höflich bedankt und keine weitere Bitte mehr vorbringt. Uwe hat aber auch schon andere Situationen erlebt, in denen die Gesprächspartner interessiert nach seiner Stimme und der besonderen Art zu sprechen nachfragten. Manchmal fühlt er sich dann fast wie ein „Experte und gibt gern Auskunft.

Fallbeispiel 7: Rosa

Rosa, eine ältere Dame im Alter von 83 Jahren, lebt seit vier Jahren im Pflegeheim. Rosa wird von ihrem Sohn besucht. Er erzählt seiner Mutter Neuigkeiten von ihrem früheren Wohnumfeld. Rosa lächelt ihren Sohn freundlich an, doch eine weitere Reaktion ist von ihr nicht zu erkennen. Manchmal wendet sie auch den Blick ab und man erfährt nicht genau, was in ihr vorgeht. Versteht sie die Mitteilungen ihres Sohnes? Erkennt sie ihn überhaupt? Manchmal spricht sie auch etwas, das sich aber nicht auf das Gespräch bezieht. Es sind laute Ausrufe und Sprachfloskeln, die aber für den Gesprächspartner keinen Sinn ergeben. Für den Sohn ist es schwer zu verarbeiten, sich nicht mehr in gewohnter Weise mit seiner Mutter unterhalten zu können und die Veränderung in ihrem Wesen nachzuvollziehen. Das Beratungsgespräch mit einer sprachtherapeutisch qualifizierten Fachkraft aus dem Pflegeheim hilft dem Sohn, mit der Situation besser umzugehen.


Literaturempfehlungen zu Autobiographien von Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen

Bischof-Staub, M. (2009): Schritt für Schritt – zurück ins Leben. Eine Erfolgsgeschichte nach schwerem Hirnschlag, Aphasie und Halbseitenlähmung, 2. rev. Aufl. Books on Demand, Norderstedt

Braam, S. (2011): „Ich habe Alzheimer“. Wie die Krankheit sich anfühlt. Beltz, Weinheim

Eckermann, D. (2010): Aufgeben? Niemals! Schlaganfall, Lähmung, Therapie und Rehabilitation. Biografie einer Schlaganfallpatientin. Schmitz, Egestorf

Jens, T. (2014): Demenz. Abschied von meinem Vater. Goldmann, München

Mellinger, S. (2012): Wenn fremde Anwesenheit verstummen lässt … Leben mit selektivem Mutismus. Books on Demand, Norderstedt

Schreiter, D. (2014). Schattenspringer: Wie es ist, anders zu sein. Panini, Stuttgart

Stelter, M. et al. (2014): Stottern – Oft wussten wir nicht weiter. Eltern stotternder Kinder berichten von ihren Erfahrungen. Stottern u. Selbsthilfe, Köln

Tropp Erblad, I. (2008): Katze fängt mit S an. Aphasie oder der Verlust der Wörter. Fischer, München

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache

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