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1.3.2 Tiefenphänomene – Wandel der Paradigmen

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Paradigma

Die nicht so leicht zugängliche Tiefenstruktur eines Faches wird durch paradigmatische Entscheidungen bestimmt. Hierzu gehören auch die erwähnten normativen Vorentscheidungen.


Ein Paradigma ist ein vorherrschendes wissenschaftliches Denkmuster in einer bestimmten Zeit – eine Art „Brille", durch die alle fachlichen Ebenen (Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen, Praxis, Praxiskonzepte, Theorie, Metatheorie) in einer bestimmten Art und Weise „gefärbt“ gesehen werden.

„Durch-die-Brille-Sehen“

Wie jede andere Wissenschaft, unterliegt auch die Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation jeweils einem zeitgemäßen Paradigma, das alle Ebenen des pädagogischen Handelns beeinflusst (Kap. 6): die Wahrnehmung der Menschen mit Beeinträchtigungen (I), die konkrete Praxis (II), die Praxiskonzepte (III), die Theorie (IV) und die Metatheorie (V). Aus den jeweiligen wissenschaftlichen Annahmen, Vorstellungen und Leitsätzen zu sprachlichkommunikativen Phänomenen und Fragestellungen ergeben sich entsprechend gefärbte Ansätze für die Sprachdidaktik. Mit dieser „Brille“ wird dann sprachpädagogische und sprachtherapeutische Arbeit in der Praxis umgesetzt (Abb. 6).


Abb. 6: „Realität“ des Faches Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation je nach Paradigma

Im Laufe der letzten hundert Jahre brachte das „Durch-die-Brille-Sehen“ verschiedene Sichtweisen hervor, die sich exemplarisch anhand von drei sehr einflussreichen paradigmatischen Ansätzen veranschaulichen lassen (Tab. 1):

 medizinisches Paradigma,

 behavioristisches Paradigma,

 konstruktivistisches Paradigma.

medizinisches Paradigma

Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte das medizinische Paradigma vor (Grohnfeldt 2014b; Lüdtke 2010a, 2010b). Auf der Ebene der Metatheorie (V) bestand die Vorstellung von der menschlichen Entwicklung nach intrinsischen, vorgegebenen Mustern, Regeln und Normen. Die vorherrschendende Auffassung war, dass sich das Sprechen rein auf der Grundlage eines intakten Zustandes der Sprechwerkzeuge vollzieht. Dementsprechend wurde auf der Theorieebene (IV) vorwiegend Forschung über die organische Funktionsfähigkeit des Sprechens betrieben. Mit stark medizinisch orientierten Vorstellungen entstanden Praxiskonzepte (III) mit dem Ziel der Herstellung der Funktionsfähigkeit von Zunge, Lippen, Kiefer, Gaumensegel und Kehlkopf. In der Praxis (II) wurden entsprechende Übungsbehandlungen zum Aufbau fehlender oder sich abweichend entwickelnder Funktionen des Mund-Nasen-Rachenraumes in der Verbindung mit Sprechabläufen verfolgt.


Beispielsweise dienten ausschließlich isolierte Sprechübungen vor einem Therapiespiegel dazu, dem Kind die Bewegungen von Lippen, Zunge und Kiefer im Vollzug des Sprechens zu visualisieren. Das Kind sollte damit ein korrektes Muster für den Sprechablauf übernehmen. Da jedoch dabei wenig das kommunikative und inhaltliche Interesse der kindlichen Auseinandersetzung fokussiert wurde, gelang dem Kind oftmals nicht die Anwendung des Musters in der Alltagssprache (Tab. 1).

behavioristisches Paradigma

In den 1960er Jahren bestimmte das behavioristische Paradigma sprachpädagogische und sprachtherapeutische Denkmuster (Lüdtke 2010a, 2010b). Die Vorstellung auf der Metatheorie (V) bestand darin, dass ein bestimmter Input einen bestimmten Output bei der sprachlichen Entwicklung bewirkt. Man stellte sich vor, dass der Mensch wie eine Maschine funktioniert, die einen einwirkenden Reiz automatisch mit einer Reaktion im Verhalten beantwortet (Mills 2000). So wurden auf der Ebene der Theoriebildung (IV) im Wesentlichen Verhaltensmodifikationen im Bereich der Sprache erforscht. Es wurde der Frage nachgegangen, wie beispielsweise ein Kind auf die sprachliche Ansprache der Eltern mit einer entsprechenden Sprachproduktion reagiert. Die theoretische Vorstellung des Reiz-Reaktions-Prinzips beeinflusste wiederum die Ebene der Praxiskonzepte (III), die sprachtherapeutische Konzeptionen nach diesem Prinzip hervorbrachte. Die Umsetzung auf der Praxisebene (II) folgte ebenso diesem Prinzip. Häufig wurden dabei Verstärker eingesetzt.


Das im Unterricht und in der Sprachtherapie eingesetzte Bild- und Spielmaterial, z.B. bei einem Brettspiel, besaß zuweilen ausschließlich einen illustrierenden Charakter. Bunte Farben und lustige Figuren sollten zur spielerischen Auseinandersetzung motivieren. Die tatsächliche Handlung des Kindes bestand aber oft nur als Nachsprechleistung fester Satzvorgaben. Das Bild wurde dabei nur als Verstärker benutzt (Tab. 1).

konstruktivistisches Paradigma

Heutige Denkmuster der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation orientieren sich häufig am konstruktivistischen Paradigma (Lüdtke 2010a, 2010b). Auf der Ebene der Metatheorie (V) existiert die Vorstellung, dass die Menschen vernetzt mit ihrer Umwelt sind und sich selbst im Austausch mit dem System regulieren. Menschen handeln nicht isoliert nach vorbestimmten Regeln und nicht nach einem einseitigen Input-Output-Modell, sondern strukturell gekoppelt. Die Individuen sind dementsprechend in einer intersubjektiven Konstruktion aufeinander bezogen (Reich 2008). Die Forschungen auf der Theorieebene (IV) beziehen sich dabei auf die Wechselwirkungen der menschlichen Sprache mit dem sozialen System. Konzeptionen auf der Ebene der Praxiskonzepte (III) stellen das Rekonstruieren im sprachlich-kommunikativen Austausch und im Dialog in den Vordergrund. Für die sprachpädagogische und sprachtherapeutische Arbeit in der Praxis (II) bedeutet dies, dass individuelle und relationale Sprachlernzugänge innerhalb intersubjektiver Kontexte, symmetrischer Beziehungsgestaltungen und dialogischer Kommunikationsformen arrangiert werden müssen.


Der Erwerb grammatischer Strukturen wird heute beispielsweise im unterrichtlichen und therapeutischen Setting in multimodalen Zusammenhängen gefördert. Nicht allein das sprachliche Produzieren des Kindes steht im Vordergrund. Im Wechsel von Hören, Verwenden und Reflektieren grammatischer Angebote innerhalb von intersubjektiv bedeutsamer Kommunikationssituationen, z.B. im dialogischen Bilderbuchlesen, werden dem Kind wichtige grammatische Erscheinungen offengelegt, die es im aktiven dialogischen Prozess mit bislang erworbenen Strukturen abgleicht, ergänzt oder neu strukturiert (Tab. 1).


Tab. 1: Einflussreiche fachliche Paradigmen im Vergleich


Literaturempfehlungen zu Paradigmenbildung

Kuhn, T. (i.O. 1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt / M., Suhrkamp

Braun, O. (2012): Geschichte. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 19–35

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache

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