Читать книгу Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache - Ulrike Lüdtke - Страница 16
1.2.3 Ebenen des Faches
Оглавлениеpädagogische Weichenstellungen
Die Konzeptualisierung eines Faches findet basierend auf dem Ausgangspunkt der identifizierten Praxisphänomene (Ebene I) – hier der Menschen mit Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation in der gesamten Lebensspanne – auf vier weiteren Ebenen statt (Lüdtke 2014b):
der konkret realisierten fachlichen Praxis (Ebene II),
den hierfür angebotenen handlungsleitenden Praxiskonzepten (Ebene III),
der zugrunde liegenden Theorie (Ebene IV) und
der Metatheorie als Reflexionsbasis (Ebene V) (Abb. 4).
Diese Ebenen stehen aufgrund der beschriebenen induktiven und deduktiven Konzeptualisierungsprozesse in einem engen inneren Zusammenhang, auch wenn dieser häufig nicht offensichtlich oder aus der Binnenperspektive einer bestimmten Ebene nicht deutlich ist. So ist es beispielsweise anwendenden Fachkräften spezifischer Praxiskonzepte häufig nicht bewusst, welche theoretischen Vorannahmen sie damit implizit übernehmen.
Wie bei der Entscheidung für die Fokussierung eines bestimmten Wirklichkeitsausschnittes und seiner Phänomene fallen auch auf den vorgenannten vier Ebenen fachlicher Konzeptualisierung normative Vorentscheidungen, die eine Gesamtpositionierung des Faches im Feld bestimmen (Abb. 1). Im Konzeptualisierungsrahmen der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation finden sich folgende pädagogische Weichenstellungen (Abb. 4).
Fachpraxis (II)
Die konkreteste Konzeptualisierungsebene bildet die reale Fachpraxis (II). Dies zeigt sich bei vielfältigen sprachpädagogischen und sprachdidaktischen Prozessen in unterschiedlichsten Institutionen des Bildungs- und Gesundheitsbereiches. Die Fachpraxis umfasst die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation in der gesamten Lebensspanne in Dyaden (Paar-Konstellationen), Gruppen oder Teams. Hierbei finden vielfältige sprachpädagogische und sprachdidaktische Medien und Materialien Anwendung, u.a. Talker, Lernsoftware, Spiele, Arbeitsblätter, Puppen, Handgesten.
Praxiskonzepte (III)
Auf der nächsthöheren Ebene werden den sprachpädagogisch und sprachtherapeutisch tätigen Fachkräften handlungsleitende Praxiskonzepte (III) für ihre tägliche Arbeit angeboten. Meist entworfen von praxiserfahrenen Fachleuten oder praxisorientierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, stellen sie für spezifische sprachpädagogische und sprachdidaktische Aufgaben Modelle zur Umsetzung in die Praxis bereit. Die Vielfalt der Angebote reicht von Konzepten der Diagnostik, Therapie und Beratung für Personen mit bestimmten Sprach-, Sprech-, Rede-, Stimm- oder Schluckstörungen in jedweder Altersspanne bis hin zu Bildungs- oder Förderkonzepten für verschiedene Settings, z.B. im Klassenzimmer oder am Bett in der Akutphase, sowie für unterschiedliche Kontexte, z.B. für inklusiven Unterricht oder die neurologische Rehabilitation.
Theorie (IV)
Eine Abstraktionsebene höher, auf der Ebene der Theorie bzw. der Theoriebildung (IV), wird bei einer Positionierung als Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation die Entscheidung getroffen, dass die Pädagogik bzw. fokussiert die Sprachpädagogik diejenige der möglichen Wissenschaften ist, an der sich die fachliche Konzeptualisierung primär ausrichtet. Relevante Nachbardisziplinen wie z. B. Linguistik, Medizin oder Psychologie werden der Sprachpädagogik als Bezugswissenschaften nachgeordnet (Kap. 2). Derartige normative Vorentscheidungen, welche meist im Rahmen von längeren Konsensprozessen entstehen, an denen die Wissenschaft, verbandliche Einflüsse, Zeitgeistströmungen und viele(s) andere mitwirken, bilden auch die Grundlage, auf der wiederum Praxiskonzepte entwickelt, verglichen und / oder hinsichtlich ihrer Wirksamkeit wissenschaftlich erforscht werden.
Metatheorie (V)
Meist durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in enger Rückkopplung mit der Praxis und den Fachkräften geführt, finden auf der Metatheorie-Ebene nationale und internationale Diskurse über derartige normative Vorentscheidungen, Positionierungen und Konzeptualisierungen unseres Faches statt. Erkenntnistheoretische und methodologische Fragen werden reflektiert, um die wissenschaftliche Qualität ebenso wie die theoretische – und damit letztlich auch praktische – Weiterentwicklung unseres Faches zu gewährleisten. Hier ist auch der Ort, den Wandel von normativen Orientierungen – z.B. eine Hinwendung zu oder eine Abkehr von einem pädagogischen Konzeptualisierungsrahmen – zu analysieren und historisch einzuordnen.
Reflexion im fachlichen Wandel
Im Rahmen der wissenschaftstheoretischen Betrachtung dieses ersten Kapitels sollten nicht nur die grundsätzlichen normativen Vorentscheidungen für eine pädagogische Konzeptualisierung unseres Faches offengelegt werden. Ebenso wichtig ist es, zu reflektieren, wie sich dies auf die unterschiedlichsten Konkretisierungs- bzw. Abstraktionsebenen auswirkt und die Gründe hierfür zu analysieren. Dazu muss die Reflexion sowohl in einen historischen als auch in einen möglichen prospektiven Rahmen eingeordnet werden (Abb. 5), denn auch für die fachliche Standortbestimmung gilt: „Das einzig Beständige ist der Wandel.“ (Heraklit von Ephesus, ca. 540–480 v. Chr.).
Abb. 4: Konzeptualisierungsebenen der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation