Читать книгу ALBATROS - Urs Aebersold - Страница 13
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Leonard war in die Lektüre einer Mail vertieft, die ihm Georg Kallmann, der Juniorpartner der Spedition Kallmann & Sohn, geschickt hatte, in der er ihn um weitere Argumente zum Umbau der Firma bat. Mit dem Aufbau einer mobilen Flotte von Kleintransportern konnte sich der Alte inzwischen anfreunden, doch mit der Liquidierung seines früheren Kerngeschäfts tat er sich nach wie vor schwer. Alter Sturbock, dachte Leonard, als ihn ein Anruf erreichte, den er liebend gerne abgewiesen hätte. Er kam aus der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, und eine unpersönliche Stimme informierte ihn, daß seine Mutter gestern abend eingeliefert worden sei und seither mehrmals nach ihm verlangt habe.
Seine Mutter! Seit sie ihn zur Adoption freigegeben hatte, als er noch keine zwei Jahre alt war, hatte er versucht, sie zu vergessen, doch entgegen der Abmachung, daß sie darauf verzichten würde, sich in sein neues Leben einzumischen, hatte sie nachgeforscht, wer ihn adoptiert hatte, und in der Zeit, als er in die Pubertät kam, immer wieder versucht, ihn zu kontaktieren. Weder das Jugendamt noch seine Adoptiv-Eltern fanden einen Weg, sich dagegen zu wehren, und überließen es schließlich Leonard, wie er sich dazu stellen wollte. Er war hin- und hergerissen, er fühlte sich bei seinen Zieh-Eltern gut aufgehoben, die ihm alles boten, was er für seine Schulausbildung brauchte, doch emotional kam nie richtig eine Vertrautheit zwischen ihnen auf. So entschloß er sich, seiner Neugier nachzugeben und seine leibliche Mutter zu besuchen, obwohl ihm klar war, daß Charlotte und Friedrich Lansing es als Verrat empfinden mußten, auch wenn sie seine Entscheidung tapfer akzeptierten.
Er umging die Auflage, diesen Besuch nur in Begleitung einer Person des Jugendamtes zu machen, und verabredete sich bei ihr zu Hause, sie lebte noch in der Wohnung, in der er mit ihr zusammen sein erstes Jahr verbracht hatte. Es war Sommer, sie öffnete die Wohnungstür mit einer Zigarette im Mundwinkel, gekleidet in eine enge Jeans und ein Top mit Spaghettiträgern.
"Du mußt Leonard sein… komm rein…"
Zu jener Zeit war sie Mitte dreißig, blond, blauäugig, und hatte noch ihre üppige, verführerische Figur, die jedoch bereits etwas von ihrer jugendlichen Form einbüßte. Im Hintergrund, mit einer Bierflasche in der Hand, lehnte ein unrasierter Mann in einem schmutzig-weißen T-Shirt und über den Knien abgeschnittenen Jeans am Türrahmen zum Flur. Sie drehte sich halb zu ihm um.
"Hey, Tom… laß uns mal allein…"
Der Mann ging wortlos in die Küche, seine Mutter ging Leonard ins Wohnzimmer voraus, wies auf eine abgewetzte Couch, nahm auf einem Sessel Platz, an dem eine Lehne fehlte, und drückte ihre Zigarette in einem überquellenden Aschenbecher aus. Forschend musterte sie ihn von oben bis unten, ohne ihm etwas anzubieten.
"Na, bist ja ein Prachtjunge geworden… du freust dich sicher, endlich deine richtige Mutter kennenzulernen…"
Leonard starrte seine Mutter an, gleichzeitig angezogen von ihrer halbnackten, prallen Sinnlichkeit und abgestoßen von dem ordinären, selbstgefälligen Schauspiel, das sie ihm bot. Daß sich dahinter nur Unsicherheit und Verzweiflung verbargen, konnte er nicht ahnen, und es hätte ihn in diesem Augenblick auch nicht interessiert.
Wie gequetscht kam seine Antwort aus seiner Kehle.
"Du wolltest mich doch sehen…"
Fassungslos starrte seine Mutter ihn an. Ein einziger Satz von ihm, und schon war es vorbei mit ihrer Selbstherrlichkeit. Er spürte, wie die Wut in ihr hochstieg und nach verletzenden Worten suchte.
"Hey, Kleiner, werd' bloß nicht frech… ich war es, die dich unter Schmerzen geboren hat, nicht deine Ziehmutter, die unfruchtbar ist…"
Ein Stich wie von einem scharfen Dolch durchfuhr seine Brust.
"Und warum hast mich dann weggegeben?"
Sie wand sich auf ihrem Sessel, ihre Anmaßung war wie weggeblasen.
"Mach' bloß keinen Wind, Kleiner, das kannst du sowieso nicht verstehen…"
"Dann versuch's mir zu erklären…"
Unsicher sah die Mutter Leonard an, der seine Augen unverwandt auf sie gerichtet hielt.
"Ich wurde krank, und ich war ja noch so jung…"
"Das waren andere Mütter auch…"
"Denen haben ihre Eltern geholfen…"
Die Hitze, der Geruch nach abgestandenem Essen, die schäbige Wohnung und diese Frau, die vor ihm auf dem Sessel kauerte, angeblich seine leibliche Mutter, raubten ihm beinahe die Sinne. Am liebsten wäre er aufgestanden und davongerannt, doch eine Frage brannte noch in seiner Seele.
"Was ist mit meinem Vater? Ist es der Typ da draußen, der sich in der Küche betrinkt?"
Seine Mutter lachte laut auf, lehnte sich zurück und sah an ihm vorbei.
"Ich habe deinen Vater geliebt… aber er hat mich verlassen, noch vor deiner Geburt…"
"Dann sag' mir, wer es ist …"
Leonard beobachtete, wie es in ihr arbeitete, dann wandte sie ihm ihr haßverzerrtes Gesicht zu.
"Glaubst du, ich verrate dir seinen Namen? Er weiß nicht einmal, daß er einen Sohn hat…"
"Dann erfährt er es von mir…"
"Schlag' dir das aus dem Kopf, Kleiner…"
Wie in Zeitlupe stand Leonard auf.
"Ist das dein letztes Wort?"
Sie sah ihn an, Verzweiflung und Resignation im Blick, aber auch unversöhnlichen Trotz, und antwortete nicht. Wie in Trance durchschritt Leonard das Wohnzimmer, als sie ihn noch einmal ansprach.
"Hier, für dich…"
Er drehte sich um, sie hielt ihm einen länglichen Briefumschlag entgegen.
"Was ist das?"
"Wirst schon sehen…"
Zögernd bewegte er sich zurück zu ihr und nahm den Umschlag entgegen. Er war feucht, als hätte sie ihn die ganze Zeit unter ihrem Top versteckt, und fühlte sich an, als wäre eine Karte oder ein Foto darin. Ohne ihn aufzumachen, steckte er ihn verächtlich unter sein Hemd, dann trat er in das grelle Sonnenlicht hinaus.
Er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen. Danach sah er sie nie mehr, und sie suchte auch nie wieder den Kontakt mit ihm. Er verschloß diese traumatische, einzige Begegnung mit ihr tief in seinem Herzen und erfuhr später über Umwege von ihrem gleichbleibenden, unsteten Leben, den unzähligen Liebhabern, den Jobs, die sie immer wieder hinschmiß, bis sie schließlich von der Sozialhilfe lebte. Er hatte keine Ahnung, was sie plötzlich von ihm wollte, doch ihm war klar, daß er sie nicht abwimmeln konnte, und er rückte sein Headset zurecht.
"Hören Sie? Sagen Sie ihr, daß ich komme… ich schaffe es aber nicht vor halb acht…"