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acht

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Die gute Nachricht: Berishas Beinbruchgeschichte war falsch. Die Schlechte: Das Rendezvous mit Mali musste verschoben werden, denn die Logik der Aufklärung erforderte zwingend rasches Handeln bei neuen Erkenntnissen. Es gab Dinge, die konnte man einfach nicht auf den anderen Morgen verschieben – und das war Michel klar. Aber er war stinksauer. Innerlich bebte er vor Zorn und haderte mit seinem Schicksal. Die Vorfreude auf die Begegnung mit der rothaarigen Mali war auf ihrem Siedepunkt angelangt, als die Nachricht kam. Gerade hatte er sich die Begegnung mit ihr ausgemalt. Das gemeinsame Essen hatte er großzügig über­sprungen und war gleich in ihrer Wohnung gelandet, genauer gesagt in ihren Armen. Küssen, küssen, küssen und dann, ach, end­lich ihre Bluse öffnen, und im nächsten Moment schien es ihm, als ob er tatsächlich ihre Nacktheit spürte.

Dann klingelte das Telefon und die Botschaft kam, die schlagartig alles veränderte. Er musste sich in die Wirklichkeit zurückzwingen. Er warf das Handy wütend auf seinen Schreibtisch. Es knallte gegen eine Blechdose mit Bleistiften, die scheppernd zu Bo­den ging. Lena stand schnell auf, hob die Dose vom Boden auf und sammelte die Stifte ein. Sie stellte sie auf den Tisch zurück und fragte ihn ganz besorgt, ob es ihm gut ginge. Er wehrte un­wirsch ab.

Nein, nein, es ist alles gut. Ich ärgere mich über diese ganze Lü­gerei. Hält er uns für so blöd!

Die Spurensuche hatte Spuren seines Bluts nicht nur auf der Treppe festgestellt – also da, wo Berisha behauptet hatte, gestürzt zu sein – sondern schon auf dem Trottoir und im Eingangsbereich. Es sieht ganz so aus, als ob er mit einem Auto vor das Haus gefahren worden wäre, sich dann ein Stück hochgeschleppt, bevor er um Hilfe geschrien hatte.

Er schickte Lena aus dem Büro und rief schweren Herzens Mali an, um ihr die Verschiebung ihres Treffens anzukündigen. Um es kurz zu machen: Sie nahm es leicht, schließlich hätten sie sich über vierzig Jahre lang nicht gesehen, da käme es auf einen Tag auch nicht an. Morgen Abend sei sie leider schon verabredet. Aber am Tag darauf, da könne er sie gerne bis Mitternacht anrufen, denn am nächsten Tag hätte sie frei …

Was für eine Perspektive!

Etwas besänftigt setzte er sich ans Steuer und fuhr mit Lena ins Spital. Sie beobachtete ihn von der Seite und wunderte sich über die schnellen Stimmungswechsel ihres Chefs.

Im Spital ging vor Berishas Zimmer ein Beamter auf und ab – und telefonierte.

Michel schnaubte.

Das kann nur Stoffel sein.

Zu Lena gewandt.

Wenn immer ich den sehe, ist er am Telefonieren.

He, Stoffel.

Er drohte mit dem Finger.

Keine privaten Telefonate während der Dienstzeit.

Stoffel drehte sich erschrocken um und beendete hastig sein Gespräch.

Ja, Entschuldigung. Aber sagen Sie das mal meiner Frau.

Michel lachte.

Das werde ich bei Gelegenheit. Grüßen Sie sie von mir.

Stoffel wunderte sich, denn normalerweise reagierte Michel sehr viel gereizter auf seine Telefoniererei.

Und? Gab es irgendwelche Vorkommnisse?

Stoffel schüttelte den Kopf.

Hat er irgendwelche Besuche bekommen?

Nur von einer jungen Frau. Seiner Freundin. Sie ist sehr nett. Sie hat mir einen Kaffee geholt.

Sie können jetzt ins Restaurant und was essen, Stoffel.

Stoffel strahlte.

Ist das ein Befehl, Chef?

Michel nickte grinsend und öffnete die Tür.

Berisha hatte gerade sein Abendessen beendet und schaute erschrocken zur Tür.

Michel griff nach einem Stuhl, setzte sich schweigend ans Bett und bedeutete Lena, dasselbe zu tun. Berisha schaute angstvoll von Michel zu Lena. Michel gab ihr das Zeichen, dass sie sprechen sollte.

Herr Berisha, wir sind gespannt, was Sie uns heute für eine Geschichte erzählen.

Welche Geschichte? Ich verstehe nicht …

Na, die Geschichte ihres Beinbruchs, denn die erste hat sich als unwahr entpuppt.

Er wurde kreidebleich und keuchte beim Sprechen.

Ich kann Ihnen aber keine andere erzählen, denn so ist es eben passiert.

Jetzt mischte sich Michel ein.

Interessant. Wie erklären Sie sich denn die Tatsache, dass Ihr Blut bereits auf dem Trottoir und im Eingangsbereich gefunden wurde?

Lena ergänzte.

Mit Luminol kann man alle Blutspuren sichtbar machen, auch wenn jemand versucht hat, das Blut wegzuputzen. Wir haben also Ihre Blutspur gefunden, die vom Trottoir bis zu der Stelle führt, die Sie als Sturzstelle angegeben haben. Können Sie uns dafür eine Erklärung geben?

Berisha hatte die Augen geschlossen und die Fäuste geballt.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine junge Frau mit dichtem blondem Haar in einem dunklen Regenmantel trat ins Zimmer. Als sie Michel und Lena erblickte, blieb sie erst stehen, gab sich dann aber einen Ruck und trat ins Zimmer.

Guten Tag. Ich bin die Freundin von Bekim. Anita Müller. Sie sind von der Polizei, nehme ich an. Er hat mir von Ihnen erzählt.

Sie kam näher und gab Michel und Lena die Hand.

Dann ging sie auf die andere Seite des Bettes und ergriff Bekims Hand.

Hast du Ihnen jetzt die Wahrheit erzählt? Ich habe ihm nämlich gesagt, dass er Ihnen unbedingt die Wahrheit erzählen muss und dass Sie ihm dann helfen werden.

Michel räusperte sich und war unsicher, wie er sich verhalten sollte. Lena sprang ein.

Ja, ich glaube, Herr Berisha war gerade daran, uns die Wahrheit zu erzählen. Nicht wahr, Herr Berisha?

Er nickte und schluchzte kurz auf. Er blickte gegen die Decke und begann dann stockend zu erzählen.

Also, das ist meine Freundin. Sie heißt Anita. Meine Familie lehnt sie ab, weil sie nicht aus unserem, äh …

Anita sprach es für ihn aus.

Ich bin nicht aus seinem Land, ich habe nicht seine Religion und auch nicht seine Kultur. Deswegen will seine Familie nicht, dass wir zusammen sind.

Bekim nickte heftig.

Seit Wochen droht mir meine Familie mit allen möglichen Konse­quenzen, wenn ich mich nicht von Anita trenne.

Michel wischte sich mit einem Tuch über die Stirn.

Aha. Mit was für Konsequenzen denn?

Berisha zuckte mit den Schultern.

Die ganze Zeit Streit, Hausarrest, Konto sperren lassen, mich nach Kosovo bringen und so weiter.

Aber Sie sind doch erwachsen?

Berisha lachte kurz auf.

Das hat bei uns keine Bedeutung.

Michel zeigte auf das Bein.

Und was hat das alles damit zu tun?

Berisha presste die Lippen zusammen und blickte flehend zu Anita.

Er kann es nicht erzählen, weil er sich schämt. Also, am Freitagabend haben ihn seine Cousins von zu Hause abgeholt und gesagt, sie wollten mit ihm ausgehen und was trinken. Das haben sie auch gemacht. Später sind sie aber statt nach Hause in einen Wald gefahren, haben ihn mit einer Pistole bedroht und ihm gesagt, dass sie ihn umbringen würden, wenn er sich nicht von mir trennen würde. Er musste aus dem Auto aussteigen und sich niederknien. Sie haben an seinem Kopf vorbeigeschossen.

Sie stockte und wischte sich die Augen.

Dann haben sie so lange auf sein Bein geschlagen, bis es gebrochen war, ihn vor dem Haus ausgeladen und ihn allein gelassen. Seine eigenen Cousins.

Lena hatte mitgeschrieben und wurde dabei immer fassungsloser.

Michel nahm das Notizbuch und blätterte um bis zu der Na­mensliste. Er zeigte sie Anita.

Sind das die Namen der Cousins?

Sie las die Namen und schüttelte langsam den Kopf.

Nein, das sind nicht die richtigen Namen.

Berisha bäumte sich auf.

Ich will sie nicht anzeigen. Nein, um Gottes Willen. Das ist doch meine Sache. Ich muss die nicht anzeigen.

Sie irren sich! Was Ihnen widerfahren ist, kann man nicht mehr als leichte Körperverletzung abtun. Das ist eine vorsätzliche und schwere Körperverletzung und damit ist es ein Offizialdelikt. Das heißt, wir erheben Anklage und wenn Sie die Aussage verweigern, machen Sie sich strafbar.

Berisha schloss wieder die Augen. Michel wandte sich zu Anita.

Reden Sie ihm gut zu. Wir lassen Ihnen eine Stunde Zeit.

Er stand auf.

Kommen Sie, Lena.

Sie verließen das Zimmer.

Gehen wir ins Restaurant? Stoffel wird ja wohl fertig sein.

Stoffel löffelte gerade sein Eis fertig, sprang aber sofort auf, als er Michel erblickte.

Ist schon gut. Wann werden Sie denn abgelöst, Stoffel?

Der guckte auf die Uhr.

In einer Stunde.

Gut. Wir gehen in einer Stunde wieder hoch.

Die Wohlanständigen

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