Читать книгу Die Wohlanständigen - Urs Schaub - Страница 6
drei
ОглавлениеMichel beschloss, zu Fuß zurück zum Strandbad zu gehen. Nach dem exzellenten zweiten Frühstück fand er die Frische des Morgens sehr angenehm und fröstelte nicht mehr. Zufrieden schritt er aus.
In solchen Momenten erfüllte ihn sein Beruf mit einer tiefen Zufriedenheit. Er fühlte sich wie ein Schreiner, der die Aufgabe hatte, einen schönen großen Tisch zu zimmern – und das war das Entscheidende – der genau wusste, wie man das machte. Er kannte und liebte sein Handwerk. Oder wie ein Künstler, der vor einer leeren Leinwand stand, den Pinsel in der Hand und zum ersten Pinselstrich ansetzte.
Er musste schmunzeln.
Auf seinem Bild war bereits ein Toter im Hawaiihemd, im Wasser liegend. Und seine Aufgabe würde nun daraus bestehen, das ganze Bild bis in alle Details fertigzustellen. Innerlich rieb er sich die Hände. Er freute sich auf die Aufgabe. Zudem würde es – je nach Verlauf – bedeuten, viele Tage oder gar einige Wochen nicht nur im Büro sitzen zu müssen und Akten zu wälzen. Da sein Privatleben wieder einmal auf die wenigen Kontakte zu seiner Vermieterin geschrumpft war, die ihn nach wie vor treu jeden Tag mit leckeren Broten versorgte und seine Wohnung reinigte, war ein frischer Toter, noch dazu mit einem Messer im Rücken, eine willkommene Aufgabe. Zudem trieb in den Büros ein neuer Polizeichef sein Unwesen. Erst jetzt kapierten alle, wie pflegeleicht der alte gewesen war, trotz seiner Schrullen. Der neue war einer mit einem von im Namen. Er kam aus einem dieser Uraltgeschlechter der Hauptstadt, dessen Urgroßtante die Alte mit dem Hörrohr gewesen sein soll, die einst mit ihrem Rudel russischer Windhunde durch die Altstadt zu stolzieren pflegte. Außerdem war er Angehöriger dieser furchtbaren Partei, die glaubte, alles besser zu wissen, und für deren Verhalten sich das ganze Land schämen musste. Er hatte nichts, aber gar nichts von den gepflegten Manieren und der seriösen humanistischen Bildung, auf die der Alte so stolz gewesen war. Der Neue hatte zwar studiert, war aber ein Flegel und benahm sich wie einer. Intern nannte man ihn Baron Rumpelstilzchen. Man lachte über ihn, aber die meisten hatten Angst vor ihm.
Michel rieb sich die Hände.
Ja, diese Woche hat gut angefangen. Tanner ist auch noch nicht da, also muss ich mir nicht auch noch seine Kommentare zum neuen Fall anhören.
Er überquerte das Bahngleis und sah, dass die Seepolizei gerade am langen Schiffslandungssteg anlegte.
Das läuft ja wie am Schnürchen, dachte er, beschleunigte seine Schritte und erreichte das Boot nach wenigen Augenblicken.
An Bord waren zwei Beamte der Seepolizei. Sie stellten sich als Schaller und Bodmer vor. Der dritte war Luisier, der Taucher. Er war gerade dabei, sich für den Tauchgang bereitzumachen.
Michel stieg ins Schiff und erklärte den Kollegen die Sachlage. Schaller, der die drei Seen hier schon seit Jahrzehnten befuhr, meinte, dass es nicht die Strömung im See gewesen sein konnte, die den Leichnam ans Ufer des Strandbads gespült hatte. Die Strömung des Sees hat mit dem Durchfluss der Flüsse zu tun und verläuft grundsätzlich in dieser Richtung.
Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm den Strömungsverlauf.
Es muss der nächtliche starke Wind gewesen sein. Und deswegen kann man unmöglich sagen, wo der Tote in den See gelangt ist. Im Prinzip von Nordosten, denn der Sturm gestern blies aus nordöstlicher Richtung.
Er zuckte mit den Achseln.
Tut mir leid, aber mehr kann ich dazu nicht sagen. Wir werden systematisch den Grund absuchen und melden uns dann.
Michel verabschiedete sich und verließ das Boot. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als erst mal ins Büro zu fahren.
Kaum saß er an seinem Schreibtisch, kam der Polizeichef ins Büro gestürmt. Er klopfte wie üblich nicht an und fragte in seinem hochnäsig-näselnden Ton, ob es schon Erkenntnisse vom Toten aus dem See gäbe.
Michel gab sich außerordentlich beschäftigt.
Nein! Noch keine besonderen Erkenntnisse. Die Leiche wurde schließlich erst vor … – er schaute auf die Uhr – vor vier Stunden und siebenunddreißig Minuten entdeckt. Was erwarten Sie da?
Von der Werdt, so hieß der neue Polizeichef, ignorierte die Frage.
Was haben Sie denn die ganze Zeit gemacht?
Michel starrte ihn an.
Wie meinen Sie das?
Der neue Chef verschränkte seine Arme vor der Brust.
Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt. Was haben Sie in den vier Stunden und siebenunddreißig Minuten gemacht? Ist die Frage so schwer zu verstehen?
Michel musste erst mal Luft holen.
Sie wollen wissen, was ich in den vier Stunden und siebenunddreißig Minuten gemacht habe?
Ja, wenn Sie die Güte hätten.
Michel verschränkte nun seinerseits seine Arme vor der Brust.
Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, was ein leitender Kommissar in so einem Falle tut?
Auf der Stirn des neuen Polizeichefs bildete sich diese schon amtsbekannte kleine Zornfalte, ein Zeichen, bei dem die Untergebenen normalerweise sofort einlenkten. Michel dachte nicht im Traum daran, sondern hielt dem Blick stand.
Doch, ich kann es mir schon vorstellen, aber ich hätte es gerne von Ihnen gehört.
Jetzt gab Michel irgendein kleiner Teufel die Sporen.
Da Sie es sich vorstellen können, brauche ich Ihnen das professionelle Prozedere in so einem Fall ja nicht aufzuzählen. Sobald wir Erkenntnisse haben, werden Sie es als Erster erfahren. Reicht das?
Nein, das reicht nicht. Das hat bis jetzt vielleicht gereicht. Jetzt nicht mehr.
Aha. Und warum nicht?
Michel spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, und er verfluchte sich innerlich.
Weil ich glaube, dass ihre Methoden veraltet sind. Zu langsam, zu konventionell.
Ach, so ist das? Heißt das, ich gehöre zum alten Eisen?
Rumpelstilzchen lächelte, das heißt, sein Mund verzerrte sich ein wenig.
Nein, nein. Nicht, wenn Sie lernfähig sind.
Aha.
Michel richtete sich auf.
Und von wem soll ich lernen?
Auch diese Frage ignorierte der Polizeichef.
Wissen Sie schon, wie der Tote heißt?
Dr. Karl Beckmann.
Er lehnte sich an den Türrahmen und steckte die eine Hand lässig in eine Hosentasche.
Wissen Sie auch, wer Karl Beckmann ist?
Michel sah sich jetzt wohl oder übel gezwungen, zu einem Tuch zu greifen, um sich Kopf und Gesicht abzutrocknen.
Nein. Ich bin erst gerade ins Haus –
Von der Werdt unterbrach ihn.
Sehen Sie! Das meine ich: Sie sind langsam.
Er richtete sich auf und wippte auf den Füssen.
Karl Beckmann ist ein angesehener Finanzmann und arbeitet als Treuhänder. Ich habe Ihnen die Adresse rausgesucht. Hier ist der Zettel.
Michel stand auf und holte sich das Papier.
Sie meinen: Er war.
Ja, natürlich. Er war ein angesehener Finanzmann.
Von der Werdt hustete vor Ärger. Er hasste es, wenn ihm auch nur der kleinste Fehler passierte.
Es ist also höchste Diskretion angesagt, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Nein, das verstehe ich nicht. Wie meinen Sie das?
Alle Erkenntnisse gehen über meinen Schreibtisch. Ich allein bestimme, was an die Presse geht.
Er drehte sich auf dem Absatz und verschwand.
Michel kochte vor Wut.
Dieser arrogante Schnösel. Der verhält sich genauso wie seine Partei in der Öffentlichkeit. Haben keinen Respekt vor gar nichts, verhalten sich wie durchgedrehte Elefanten im Porzellangeschäft. Tun alles, damit ihnen ihre frustrierte und bornierte Wählerschaft zujubelt. Keine andere Partei fordert so lautstark und beharrlich die härtere Bestrafung von Kriminellen. Sie beklagt sich über Kuscheljustiz und fordert Opferschutz statt Täterschutz. Als ob es das nicht gäbe. Und wenn es um Ausländer geht, ihre sofortige Abschiebung, auch in Krisenregionen. In großflächigen Zeitungsinseraten wirbt sie derzeit damit, die sogenannten Fakten zu präsentieren. Ein ganz besonderes Ärgernis sind ihre dümmlichen Plakate zur Ausländerproblematik. Vor lauter Abschiebung und Durchsetzung vergessen sie die kriminellen Inländer, und zwar die in ihren eigenen Reihen, die – wären sie Ausländer – vielfach des Landes verwiesen werden müssten. Die Skandalchronik dieser Partei war bereits endlos: Unterschlagung, Drohung, Betrug. Die Liste der in Strafverfahren verwickelten Parteikollegen des Polizeichefs wurde über die Jahre länger und länger.
Michels Wut steigerte sich unaufhaltsam.
Und dann dieser weißhaarige Vaterlandsfanatiker, der aus jeder Rede geifernde Nationalfeier-Wutausbrüche machte und behauptete, er sei der Einzige, der den Leuten reinen Wein einschenkte. Ganz zu schweigen – und bei dem kam ihm nun wirklich die Galle hoch – von dem schmallippigen Totenköpfchen mit den starr blickenden Augen, der gegen die Ausländer hetzte und mit einer Asiatin verheiratet war.
Und jetzt saß vor seiner Nase ein Chef, der sich stolz brüstete, Teil dieser Bande zu sein. Der will uns hier rumkommandieren, dabei geraten die selber andauernd mit dem Gesetz in Konflikt. Ehemalige und amtierende Politiker, und zwar auf jedem politischen Niveau. Und jetzt müssen ausgerechnet wir hier so einen Querkopf vor der Nase haben, der keine Ahnung von der Polizeiarbeit hat.
Kurz darauf tauchte der Kopf Sommers im Türrahmen auf.
Ist die Luft rein?
Michel nickte.
Sommer war so was wie der Bürochef der Abteilung und zuständig für alles. In den ersten Jahren seiner Anstellung war er fürchterlich begriffsstutzig gewesen, das hatte sich in den Jahren allmählich etwas gebessert. Er war alleinstehend, und sein Beruf war sein Ein und Alles.
Hier ist alles zusammengestellt, was man über Beckmann weiß.
Er reichte Michel ein dünnes Mäppchen.
Darin sind auch die Telefonnummern und die Adresse.
Danke, Sommer.
Er blieb stehen.
Ist noch was?
Äh, wir kriegen einen neuen Assistenten, äh … also, ich meine, eine Assistentin.
Michel schnaubte ärgerlich.
Ich brauche keine Assistentin. Was soll das? Ich habe keine beantragt.
Sommer sprach nun ganz leise und lispelte vor Aufregung.
Ja, Rumpelstilzchen hat sie extra für Sie engagiert. Hat er das nicht gesagt?
Michel schüttelte seinen Kopf.
Nichts hat er mir gesagt. Also, ich habe jetzt keine Zeit für solche Fisimatenten. Ich habe einen neuen Fall.
Sommer trat verlegen von einem Fuß auf den andern.
Sie ist aber schon hier.
Er deutete auf den Nebenraum.
Und ER will, dass sie bei dem Fall mitarbeitet.
Michels Kopf lief rot an.
Verdammt! Das hat mir gerade noch gefehlt.
Sommer hob hilflos die Hände.
Tut mir leid. Soll ich sie holen?
Michel rieb sich das Gesicht trocken.
Wenn es unbedingt sein muss.
Die gute Laune von heute Morgen gehörte nun restlos der Geschichte dieses Tages an. Er schlug unwillig die Akte Beckmann auf und überflog die biografischen Daten, die am Anfang zusammengefasst waren.
Beckmann war 59 Jahre alt, verheiratet. Hatte zwei erwachsene Kinder. Stammte ursprünglich aus dem östlichen Teil des Landes. Die Frau, geborene von Wyttenbach, aus einem ortsansässigen Geschlecht also.
Michel seufzte. Die müsste er jetzt gleich aufsuchen. Er hasste diese Gänge.
Hallo? Darf ich reinkommen?
Michel guckte verärgert hoch. Im Türrahmen stand ein Mädchen mit langen braunen Haaren, einem schönen und ebenmäßigen Gesicht und einer großen schwarzen Brille. Sie trug eine schwarze Hose und ein weites Jeanshemd. Im Arm hielt sie einen zerknautschten Reportermantel.
Was willst du?
Die Angesprochene hob linkisch die Hand zum Gruss.
Also, ich bin die Assistentin. Lena Steiner.
Michel lehnte sich zurück.
Dass ist jetzt aber ein Witz. Schickt man mir jetzt Kinder?
Ich bin 27 Jahre alt.
Oh, pardon. Welch hohes Alter. Ich hätte Sie deutlich jünger geschätzt.
Sie winkte ab.
Ach, das kenne ich. An der Uni hat man das auch immer gesagt. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?
Nein, nein. An der Uni? Was haben Sie denn studiert?
Ich habe einen Master in Informatik und Kriminologie.
Was Informatik ist, kann ich mir so vage vorstellen, aber was ist Kriminologie?
Sie hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und lächelte verschmitzt.
Na ja, das habe ich die letzten Jahre auch versucht zu begreifen. Sagen wir so: Ich habe etwas über Untersuchungsmethoden und Verhaltensweisen von Verbrechern gelernt.
Michel hob seine Augenbrauen.
Ach ja. Interessant. Sind Sie denn schon einmal einem Verbrecher begegnet?
Sie lachte.
Sie meinen in freier Wildbahn? Nein, noch nie. Zum Glück.
Michel nickte.
Das habe ich mir gedacht. Das heißt, Sie wollen jetzt das praktische Leben kennenlernen.
Ja genau. Fangen wir an? Ich habe gehört, dass wir seit heute Morgen einen neuen Fall haben.
Sie blickte ihn hoffnungsvoll an.
Michel wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte sie eben wir gesagt?
Hm. Was mach ich nur mit Ihnen?
Er reichte ihr die Akte, die er gerade angefangen hatte zu lesen.
Da! Studieren Sie die Akte. Ich bin gleich –
Lena Steiner unterbrach ihn.
Entschuldigung, aber die habe ich ja für Sie zusammengestellt.
Michel starrte sie hilflos an. Dann gab er sich einen Ruck.
Gut. Dann begleiten Sie mich in Gottes Namen.
Sie schlüpfte in den Mantel und strahlte ihn mit großen Augen an.
Wohin gehen wir?
Wir besuchen die Frau des Toten.