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neun

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Drei von Bekim Berishas Cousins wurden noch am selben Abend verhaftet. Von der Werdt hatte darauf bestanden, kurzen Prozess zu machen und umgehend Streifenwagen losgeschickt, um alle fünf Cousins gleichzeitig zu verhaften. Zwei hatten sich offensichtlich bereits in den Kosovo abgesetzt. Ob aus Angst vor Konsequenzen der Misshandlung ihres Cousins oder aus anderen Gründen, konnte nicht festgestellt werden. Die fünf waren die Söhne eines Bruders und einer Schwester von Bekims Vater. Zwei waren im selben Alter wie Bekim, einer deutlich jünger. Die beiden Flüchtigen waren wohl älter. Die Eltern gaben sich laut Aussagen der Polizisten verschüchtert und verstockt. Sie hätten von alledem nichts gewusst. Die beiden Mütter sprachen kein Deutsch, die Väter sehr schlecht. Vielleicht versteckten sie sich auch bloß hinter dieser Sprachlosigkeit. In der einen Wohnung seien sehr viele Familienmitglieder gewesen. Die Polizisten hätten den Eindruck gehabt, dass gerade ein Familien- oder Sippenrat getagt hatte. Aber es war aus den Leuten nichts Vernünftiges herauszubekommen. Morgen würde man sich mit Dolmetschern die Familien nochmals vorknöpfen, dass hatte der Chef lauthals geschworen.

Von der Werdt war in seinem Element. Das Verhalten dieser Menschen kam seiner Weltsicht entgegen. Michel hatte den Eindruck, als ob er sich freute, dass diese Leute sich genauso verhielten, wie seine Partei es immer an die Wand malte. Ihn quälte die brutale Verhaltensweise dieser Leute natürlich auch, aber er schloss dadurch nicht auf die gesamte Bevölkerung eines Landes. Es ärgerte ihn maßlos, wie triumphierend sein Chef den Fall er­lebte. Er versuchte, kühlen Kopf zu bewahren und vernahm einen nach dem anderen der jungen Männer, aber sie schwiegen beharrlich und verwiesen unisono auf ihren Anwalt, der erst morgen früh zurück in der Hauptstadt sein würde. Daraufhin drohte Von der Werdt ihnen mit sofortiger Abschiebung und nahm noch am selben Abend Kontakt mit der Ausländerbehörde auf. Michel schüttelte nur den Kopf, denn noch waren die Gesetze in diesem Land nicht so, wie es sich die Partei seines Vorgesetzten wünschte. Hingegen blickte Michel immer wieder verstohlen auf die Uhr und verfolgte verzweifelt, wie die Zeit verging. Lena hatte er be­reits nach Hause geschickt. Beim Abschied hatte sie ihm zugeflüstert, dass sie fündig geworden sei. Michel hatte sie nur verständnis­los angeguckt. Erst als sie gegangen war, war ihm ein Licht aufgegangen. Sie hatte wohl das Mikrofon in seinem Büro gefunden.

Auch wenn die jungen Männer beharrlich schwiegen, war die ganze Aktion dann doch erst weit nach Mitternacht zu Ende. Ge­nauso wie es Michel befürchtet hatte. Er fuhr nach Hause, duschte, ging ins Bett und konnte doch nicht schlafen, obwohl er erschöpft war. Er wälzte sich von einer zur anderen Seite und versuchte sich vorzustellen, dass Mali bei ihm wäre. Es gelang ihm nur kläglich. Schließlich übermannte ihn die Erschöpfung. Gegen Morgen träumte er, dass ihn seine Wohnungsvermieterin, die ihm seit Jahren den Haushalt und jeden Tag leckere Sandwich machte, überraschend zum Sex nötigte. Schweißgebadet schreckte er aus dem Schlaf hoch, nur wenige Augenblicke, bevor sein Wecker läutete. Voller Wut warf er ihn gegen die Wand, wo er scheppernd zerbrach.

Die nächsten zwei Tage verbrachte er missmutig im Büro. Die Verhöre von Bekims Cousins wurden noch einmal verschoben, weil Von der Werdt unbedingt dabei sein wollte, aber vorher auswärts noch dringende Termine hatte. Endlich wurde es am zweiten Tag Abend und der lang ersehnte Augenblick kam. Er ging nach Hause, duschte ausgiebig und machte sich auf den Weg zu Mali.

Ihr kleines, adrettes Einfamilienhaus stand in einem steuerbegünstigten Vorort der Hauptstadt. Michel atmete einmal kurz durch und klingelte. Er erschrak über den lauten Klingelton, der bis nach außen zu ihm durchdrang und die Totenstille schrill zerriss, die in diesem Quartier herrschte. Dann hörte er schnelle Schritte, die Tür ging auf und Mali mit ihrem feuerroten Haar strahlte ihn an.

Komm herein. Gut, dass du nicht fünf Minuten früher gekommen bist, da war ich gerade noch unter der Dusche.

Sie gab ihm die Hand.

Sie hatte eine schwarze Hose und eine giftgrüne Bluse an, die ihre roten Haaren krass zur Geltung brachten.

Da waren wir ja gleichzeitig unter der Dusche. Du bei dir und ich bei mir …

Mali lachte.

Könntest du die Schuhe ausziehen, bitte.

Michel setzte sich auf einen kleinen Hocker und zog die Schuhe aus.

Komm, der Tisch ist gedeckt. Ich habe für uns gekocht.

Essen? Darauf hatte sich Michel nun ganz und gar nicht einge­stellt. Im Gegenteil: Er hatte vor dem Besuch ja noch extra etwas gegessen.

Sie führte ihn in das Wohnzimmer zu einem festlich gedeckten Tisch. Alles glitzerte und funkelte. Die Teller hatten goldene Ränder, das Besteck war hochglänzend silbrig und die langstieligen Kristallgläser reflektierten das Kerzenlicht eines schweren Silberleuchters, der in der Mitte des Tisches thronte.

Setz dich, Serge. Ich hole den Champagner.

Michel setzte sich schwer atmend und musterte das Wohnzimmer, als ob es sich um einen Tatort handeln würde. Die Einrichtung entsprach nun ganz und gar nicht seinem Geschmack. Es hingen viel zu viele Bilder an den Wänden. Reproduktionen alter Meister in viel zu protzigen Rahmen. Da ein Kommödchen, dort ein kleines Gestell mit irgendwelchen Porzellanfigürchen. Ein weißer flauschiger Teppich.

Mali kam nun schwungvoll mit einer Flasche Champagner an den Tisch.

Und wie gefällt es dir bei mir?

Michel schluckte.

Schön. Sieht alles sehr geschmackvoll aus. Ich habe mich nur ge­rade gefragt, wie du so einen schneeweißen Teppich sauber hältst.

Sie strahlte ihn an.

Erstens ziehen Besucher die Schuhe aus, und dann habe ich eine sehr gute Schamponiermaschine. Einmal im Monat wird der Teppich einer gründlichen Reinigung unterzogen.

Sie machte gekonnt die Flasche auf und füllte beide Gläser.

Auf was wollen wir trinken, Serge?

Michel erhob sich.

Auf unsere Begegnung?

Das ist eine sehr gute Idee.

Sie stießen an. Mali kam näher, streckte sich und gab ihm einen leichten Kuss auf die Lippen. Er roch ihr Parfum, das einen sehr betörenden Duft verströmte. Leider wandte sie sich gleich wieder um und setzte sich an den Tisch.

Dass wir uns wieder getroffen haben! Das ist doch wirklich wahnsinnig. Seit der Schule haben wir uns nie mehr gesehen, und dann tauchst du plötzlich im Hause Krättli auf.

Michel nickte, prostete ihr noch einmal zu und leerte das Glas in einem Zuge. Mali erhob sich sofort, kam mit der Flasche zu ihm und füllte erneut sein Glas. Wieder konnte er den Duft ihres Parfums riechen. Diesmal konnte er auch einen kurzen Blick in ihre dezent geöffnete Bluse werfen.

Wie bist du denn eigentlich zur Polizei gekommen? Ich war ja vollkommen überrascht.

Michel begann zögernd zu erzählen.

Also, meine Mutter ist relativ früh gestorben. Wir waren ja nicht gerade reich. Gymnasium kam für mich nicht in Frage. Also bin ich nach langem Hin und Her auf die Polizeischule und habe mich langsam hochgearbeitet. Nach zwei Jahren Praktikum in London bei Scotland Yard haben sie mich gleich zum Kommissar gemacht. Ich war, glaube ich, der jüngste Kommissar aller Zeiten. Damals ging das noch. Heute brauchst du für meine Position eine Hochschulausbildung. Er leerte das Glas ein zweites Mal. Mali stand so­fort wieder auf und schenkte ein. Er sog tief ihren Duft ein und hoffte auf einen weiteren Einblick. Diesmal beugte sie sich aber nicht sehr weit, und er sah bloß ihren schönen Hals.

Das ist ja großartig. Wolltest du denn nicht gleich in London bleiben?

Er lächelte.

Nein, mich zog es wieder in die Heimat zurück. London war doch sehr hektisch.

Sie lächelte verschmitzt.

Und? Hattest du dort eine Freundin?

Nein, meine Arbeitszeit ließ das gar nicht zu. Ich war praktisch Tag und Nacht in Bereitschaft.

Bevor sie weiter in ihn dringen konnte, begann er Fragen zu stellen.

Und du? Bist du schon lange im, äh … Hause Krättli, so hast du die Kanzlei genannt, glaube ich.

Sie winkte ab.

Ach, schon ewig. Also nicht immer am Stück. Als ich noch verheiratet war, musste ich eine Zeitlang zu Hause bleiben, aber da habe ich mich furchtbar gelangweilt. Nach der Scheidung habe ich sofort wieder gearbeitet.

Dann stand sie abrupt auf.

So. Ich hole jetzt die Vorspeise.

Sie ging trällernd und hüfteschwingend aus dem Wohnzimmer. Gleich darauf kam sie mit zwei Tellern zurück.

Magst du Avocado?

Michel nickte. Er war innerlich entschlossen, alles gut zu finden und bei allem mitzumachen.

Ja, sicher. Ich liebe Avocados.

Das freut mich, ich habe eine Sauce mit Krevetten dazu ge­macht.

Sie stellte den Teller vor ihn, und er legte blitzschnell seinen Arm um Malis Hüften.

Ich finde es schön, dass wir uns begegnet sind.

Sie lachte und lehnte sich kurz an ihn, drehte sich dann aber elegant aus seinem Arm.

Die Avocados aßen sie schweigend. Zwischendurch schenkte sie ihm noch einmal das Glas voll. Diesmal erhaschte er endlich den Einblick in ihre Bluse, den er sich erhofft hatte, und was er sah, enttäuschte ihn nicht. Er konnte es schier nicht mehr aushalten, ihr einfach gegenüberzusitzen und belanglose Konversation zu machen. Sie schien es zu genießen, und er wusste nicht, wie er diesen kleinen Teufelskreis durchbrechen konnte.

Mehr als zwei Stunden später – als sie endlich mit dem Dessert fertig waren und er schon hoffte, dass man jetzt aufstehen würde und sich dadurch eine Möglichkeit der Annäherung ergeben würde – schleppte Mali einen Arm voller Fotobücher und eine Flasche Whiskey zum Tisch. Sie war putzmunter und schien voller Tatendrang. Michel fühlte sich mittlerweile müde von dem vielen Essen, dass sie ihm aufgetischt hatte, und vor allem von dem schweren Rotwein, den sie immer wieder nachgoss. Er trank ja sonst nur Bier, und Rotwein vertrug er ganz schlecht.

So. Schau mal, da sind Fotos von unseren Wanderausflügen. Erinnerst du dich?

Er schüttelte den Kopf. Sie blätterte energisch und zeigte triumphierend auf ein Foto.

Schau mal! Das bist du.

Sie kam mit dem Buch auf seine Seite und legte es vor ihn.

Da, schau mal. Wir haben gerade am Feuer die Würste gebraten. Da ist die Meyerhofer. Und da bist du, ganz mager und mit kurzen Hosen.

Er schaute hin und erkannte sich tatsächlich. Er war wirklich richtig mager gewesen und sah irgendwie traurig und verloren aus. Als ob er mitten in einer Gruppe Fremder gewesen wäre und niemand gekannt hätte.

Du wirkst so verloren. Guck mal. Man möchte dich gleich in den Arm nehmen und vor allem möchte man dich füttern. Du siehst so unterernährt aus.

Na ja, gefüttert hatte sie ihn jetzt zuhauf. Sie könnte ihn dafür jetzt mal in den Arm nehmen.

Du könntest mich ja jetzt mal in den Arm nehmen. Sozusagen nachträglich.

Sie schaute ihn lächelnd an.

Das hast du jetzt aber schön gesagt.

Dann ging ihr Blick wieder zu den Fotos.

Da, schau mal, das bin ich. Bin ich nicht ein hübsches kleines Mädchen?

Er besah sich das schmale Mädchen, das begeistert einen Ast mit einer Wurst dran vor die Kamera hielt.

Siehst du die vielen Sommersprossen?

Er zog das Bild näher, konnte aber beim besten Willen keine Sommersprossen entdecken.

Na ja, so viele sind es jetzt aber auch nicht.

Sie blätterte weiter im Album.

Also ich habe gelitten, und ihr habt mich auch ausgelacht.

Michel protestierte.

Also ich sicher nicht.

Nein, du nicht.

Sie strich ihm zärtlich über den Kopf. Er schlang wieder den Arm um ihre Hüften und drückte sie sanft an seine Seite.

Nein, du hast mich sogar eine Zeitlang jeden Tag abgeholt und wir sind Hand in Hand zur Schule gegangen. Weißt du noch?

Ja, ja, es ist mir wieder in den Sinn gekommen. Du hast mir da­mals schon gefallen.

Aha. Und jetzt, gefalle ich dir denn immer noch?

Er presste sie stärker an sich, jetzt spürte er auch ihren Busen.

Ja, du gefällst mir sehr. Seit wir uns gesehen haben, denke ich nur noch an dich.

Soso. So ist das also.

Sie lächelte ihn an und küsste ihn wieder ganz leicht und kurz auf die Lippen.

Das freut mich.

Dann drehte sie sich wieder elegant aus seinem Arm.

Und jetzt trinken wir noch zum Abschluss unseres schönen Abends einen Whiskey. Morgen muss ich nämlich früh im Büro sein. Magst du Eis zum Whiskey?

Er schüttelte den Kopf. Er hasste Whiskey.

Nein, nein, ich trinke ihn am liebsten pur.

Sie füllte die Gläser zwei Finger breit. Dann prostete sie ihm zu und trank das Glas auf einmal leer. Er bemühte sich, es nachzumachen, verschluckte sich aber und bekam einen wüsten Hustenanfall.

Oh je. Soll ich dir auf den Rücken klopfen, Serge?

Er schüttelte energisch seinen Kopf und trank mit Todesverachtung das Glas leer.

Sie strahlte ihn an.

Ist alles in Ordnung mit dir?

Ja, alles in Ordnung. Es war ein sehr schöner Abend. Ich danke dir.

Er musste den Satz richtig herauswürgen, so enttäuscht war er, aber er konnte es zum Glück mit dem noch nicht ganz abgeklungenen Hustenanfall kaschieren. Beim Aufstehen merkte er den Alkohol bis in die Beine, die seltsam schwach waren. Er ließ noch einmal den Blick durch das Wohnzimmer schweifen, bis er sich kräftig genug fand, Richtung Ausgang zu gehen. Als er mit Mühe und Not die Schuhe angezogen hatte, brachte sie ihm den Mantel. Er zog ihn an. Sie schaute ihm ernst in die Augen, dann zog sie sei­nen Kopf zu sich hinunter und küsste ihn leidenschaftlich. Michel war so baff, dass er kaum reagieren konnte. Bis er richtig begriffen hatte, was da vor sich ging, war es auch schon wieder zu Ende. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr.

Ich kann nicht sofort mit jemandem ins Bett, verstehst du, obwohl ich große Lust habe. Wer weiß, vielleicht das nächste Mal. Kommst du wieder?

Er nickte heftig, brachte aber kein Wort mehr heraus.

Sie drehte sich um und öffnete die Haustür.

Die Wohlanständigen

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