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eins

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Die Leiche lag im seichten Wasser. Der nächtliche Sturm hatte sie offenbar angeschwemmt. Wäre sie im Schilf gestrandet, das rechts und links vom kleinen Sandstrand dicht an dicht stand, wäre sie vielleicht nicht so bald entdeckt worden. Die Turnschuhe mit dem deutlichen Markenzeichen zeigten gegen den Strand. Der Kopf war im Sand und Schlamm halb begraben. Die Augen waren weit geöffnet, wirkten groß und erstaunt, als ob sie immer noch nicht begreifen konnten, warum sie im Wasser lagen. Kleine, dunkle Fische umkreisten eilig seinen Kopf. Dann und wann streiften sie sein Gesicht, als ob sie an seinen Wangen schnupperten. Die Be­we­gungen der Fische folgten offenbar einem Muster, das Michel aber nicht durchschaute. Obwohl ihre Bewegungen und Berührungen etwas Zärtliches hatten, schauderte es ihn ein wenig. Hatte er heute Nacht nicht einen Traum gehabt, wo die Fische sogar durch sein Gesicht hindurchgeschwommen waren? Er war schweißgebadet aufgewacht und hatte die Fenster aufgerissen. In der Nacht hatte es furchtbar gestürmt. Gewohnheitsmäßig hatte er das Radio angeschaltet. Die Nachrichten hatte er verpasst, dafür wurde gerade mit monotoner Stimme der Wetterbericht heruntergeleiert.

Das Tief, das in der vergangenen Nacht den Sturm brachte, liegt derzeit über der nördlichen Ostsee und verlagert sich im Laufe der Nacht auf Montag weiter ins Baltikum. Dabei schwächt es sich ab. Auf seiner Rückseite gerät Mitteleuropa unter den Einfluss polarer Kaltluft, die über Skandinavien nach Süden geführt wird. Über Westeuropa und dem Nordatlantik liegt eine Hochdruckzone, an deren Ostseite dieser Vorstoß begünstigt wird.

Aha. Bisenlage!

Michel seufzte.

Mit anderen Worten: Es würde also weiterhin frostige Nächte und kühlwindige Vorfrühlingstage geben. Aber immerhin – der Frühling war in Sicht.

Dann klingelte das Telefon, das ihn zum See rief.

Michel blickte stirnrunzelnd zur anderen Seeseite, woher der kühle Wind kam und die Wasseroberfläche zum Zittern brachte und schließlich so aufkräuselte, als ob das Wasser von einer Gänse­­haut überzogen wäre. Michels Haut reagierte auch. Er fröstelte, und seufzend knöpfte er sich den Kragen seines Regenmantels zu. Er hatte heute Morgen etwas zu voreilig den Winter- gegen den Regenmantel getauscht. Getäuscht durch die Sonne, die noch keine Kraft hatte, obwohl sie an der felsigen Kante am Gebirge nördlich des Sees den Schnee schon genau soweit abgeschmolzen hatte, dass bereits A A R A U deutlich zu lesen war. Ein zufälliges Zusammentreffen von Gesteinsformen und Schneeschmelze ließ jedes Jahr für einen Moment deutlich diese Buchstabenfolge erscheinen – früher ein traditionelles Zeichen, dass die Mütter den Buben im Städtchen erlaubten, ab sofort kurze Hosen tragen zu dürfen – und den Mädchen Kniesocken.

Durch den kühlen Wind hielt sich wenigstens der Schweiß in Grenzen, der gewöhnlich von seiner Stirn floss. Dennoch zog er gewohnheitsmäßig eines seiner windelgroßen Stofftücher aus der Manteltasche und wischte sich über Kopf und Stirn.

Er ging einige Schritte durch den Sand, weg vom Wasser, und blickte um sich.

Die Leiche lag am Sandstrand einer kleinen Badeanstalt, von dem nur wenige außerhalb des Dorfes wussten, deswegen war sie auch im Hochsommer keineswegs überlaufen. Er wusste das von Tanner, der in Sichtweite zum Strand wohnte und regelmäßig hier baden ging. Er hatte ihm schon öfter in den höchsten Tönen von diesem poetischen Ort vorgeschwärmt. Michel musste innerlich Abbitte leisten, denn er hatte immer gedacht, sein Freund übertreibe. Es war tatsächlich ein ungewöhnlich schöner Ort, altmodisch und wie aus der Zeit gefallen.

Die dreiunddreißig Badekabinen, die fünfzig Meter vom Strand aufgereiht nebeneinanderstanden, waren durch ein langes, malerisch bemoostes Ziegeldach verbunden, unterbrochen nur durch einen Durchgang, durch den man auf die hintere Wiese blickte. Die grauen Kabinen hätten schon längst einen neuen Anstrich nötig, aber dass es sie in dieser Form überhaupt noch gab, grenzte an ein Wunder – vor allem, wenn man an all die Verschandelungen in der Gegend und an die unmäßige Bau- und Renovationswut der Zeit dachte.

Michel brummte vor sich hin.

Wenn Tanner wüsste!

Er blickte zu der rund dreihundert Jahre alten Villa, die franzö­sische Architektur und ländliches Wohlbehagen vereinte und mit ihrem mächtigen Dach majestätisch über dem See thronte. Tanner würde erst in einer Woche zurückkehren. Er beneidete seinen Freund, der seit zwei Wochen in Marokko weilte. Da war es sicher wärmer.

Er zog seinen Mantel enger.

Sein Freund war vor Jahren als Persona non grata ausgewiesen worden. Letzthin hatte sich der jetzige König überraschend eines Besseren besonnen und ihn nach Marokko eingeladen, als Wiedergutmachung sozusagen. Das Ganze wurde jetzt als großes Missverständnis dargestellt.

Stoffel, der sich Michel genähert hatte, stieß ihn leicht an die Schulter.

Äh, können wir die Leiche jetzt aus dem Wasser holen, Chef?

Er zeigte entschuldigend in Richtung des kleinen Hafens.

Der Gerichtsmediziner ist im Anmarsch, und die Spurensicherung ist auch da.

Ja, ja. Von mir aus. Wer kommt von der Gerichtsmedizin?

Dr. Kramer.

Gut. Das ist der Beste. Hast du das Gelände abgesperrt?

Ja, Chef. Alles erledigt.

Wo ist die Frau, die ihn entdeckt hat?

Stoffel zeigte in Richtung Badehäuschen.

Sie sitzt dort.

Michel nickte.

Wie heißt sie?

Meer.

Wie bitte?

Michel blickte Stoffel verständnislos an.

Ja. Ich kann nichts dafür. Sie heißt Meer, wie das Meer.

Spricht sie Deutsch?

Stoffel nickte.

Michel wischte sich noch einmal über den Kopf und ging in Richtung der Frau. Er schätzte sie aus der Distanz auf knapp fünfzig. Sie war schlank, wirkte gleichzeitig bodenständig und attraktiv. Sie trug bequeme Kleidung, die in ihrem Understatement ziemlich teuer wirkte. Ihre Fingernägel waren in einem matten Rot lackiert.

Sie hatte ein Taschentuch vor dem Mund. Jetzt blickte sie hoch, schnäuzte sich die Nase und erhob sich.

Bleiben Sie ruhig sitzen. Mein Name ist Michel. Serge Michel. Ich bin von der Abteilung Leib und Leben, also ich meine, äh … also von der Polizei.

Immer noch rutschte ihm aus Versehen die alte Bezeichnung für seine Abteilung heraus. Die Neue mit dem Wort Mord wollte ihm einfach nicht über die Lippen. Er setzte sich neben die Frau auf die Treppe, die zu den Badehäuschen führte.

Wohnen Sie hier in der Nähe, Frau Meer?

Sie nickte und zeigte hinter sich in Richtung Kirche.

Ich wohne dort im Pfarrhaus, also im ehemaligen Pfarrhaus. Es gibt ja hier keinen Pfarrer mehr. Ich wohne seit etwa fünf Jahren hier. Ich gehe jeden Morgen am See spazieren. Zum Abschluss sitze ich immer hier am kleinen Strand.

Sie schnäuzte sich noch einmal.

Entschuldigen Sie. Ich bin ganz durcheinander. Ich liebe diesen Ort und jetzt –

Sie zeigte hilflos in Richtung der Leiche. Ihre Augen irrten unstet umher.

Ja, das ist furchtbar. Schauen Sie nicht hin.

Seine Leute hoben die Leiche gerade aus dem Wasser.

Wann haben Sie ihn denn entdeckt?

Sie richtete sich auf und versuchte, sich zusammenzunehmen.

Es war so gegen acht Uhr. Ich bin dann sofort nach Hause ge­rannt und habe die Polizei angerufen. Ich nehme auf meine Spaziergänge mein Telefon nie mit.

War sonst noch jemand am Strand?

Sie überlegte einen Moment angestrengt und schob sich eine Locke aus dem Gesicht, die sich aber nicht bändigen ließ.

Nein. Nicht, dass ich wüsste. Ah, doch. Jemand ist mit dem Fahrrad durchgefahren, also hinter der Badeanstalt. Aber das hat sicher nichts zu bedeuten, oder?

Michel schüttelte den Kopf.

Ich denke nicht, nein.

Er erhob sich.

Hier ist meine Karte. Falls Ihnen noch etwas in den Sinn kommt.

Er verabschiedete sich von ihr. Sie erhob sich und ging zögernd ein paar Schritte. Dann wandte sie sich noch einmal um.

Ich glaube, ich habe den Mann schon einmal gesehen. Ich bin mir aber nicht sicher. Das heißt, ich kann mich im Moment nicht erinnern.

Sie blickte Michel hilflos an.

Wenn es Ihnen wieder in den Sinn kommt, rufen Sie mich bitte an, Frau Meer.

Sie nickte, wandte sich jetzt hastig um und ging eilig weg.

Michel begrüßte den Gerichtsmediziner, der mit Stoffels Hilfe den Körper zur Seite drehte.

Und, Kramer? Was ist der erste Eindruck?

Aus dem Mund des Leichnams ergoss sich ein Schwall trübes Wasser.

Na ja, nicht jeder, der im Wasser liegt, ist eine Wasserleiche.

Er deutete auf den Rücken.

Oh je.

Michel beugte sich über den Körper.

Der ging direkt ins Herz, wenn mich nicht alles täuscht.

Der Arzt nickte.

Wenn es lang genug war. Genau werde ich es erst im Institut sehen können.

Und wie lange liegt er schon im Wasser?

Der Arzt wiegte seinen schmalen Kopf. Der See spiegelte sich in seiner Goldrandbrille.

Ich schätze, nicht mehr als achtundvierzig Stunden, eher weniger.

Er zog das Messer heraus und wog es in der Hand.

Oh, so was hat nicht jeder zu Hause.

Michel nickte und wandte sich an einen Mann von der Spurensuche.

Nehmt ihr es mit und untersucht es auf Spuren, Herkunft und so.

Der Arzt gab Anweisungen, den Leichnam einzupacken.

Moment! Habt ihr die Taschen untersucht?

Der Arzt griff sich an den Kopf.

Oh, entschuldige Michel.

Michel nickte und kniete sich seufzend neben den Toten. Das ziemlich bunte Hemd mit kurzen Ärmeln hatte eine Brusttasche, die aber leer war. Es handelte sich um ein Hawaiihemd mit ziemlich wilden Farben und Motiven. Die Hose war eine weiße Jeans. Die Schuhe waren blau und von einer einschlägigen Marke, die vor allem junge Leute bevorzugen. In der Gesäßtasche steckte ein schmales Portemonnaie. Die anderen Taschen waren leer.

Michel erhob sich und durchsuchte das Portemonnaie. Es enthielt nur wenig Bargeld. Keine Kreditkarten und keinen Ausweis.

Er pfiff durch die Zähne.

Schaut euch das an.

Er hob ein Bündel Visitenkarten hoch.

Unser Mann heißt Beckmann, Dr. Karl Beckmann, wenn ich das richtig entziffere.

Er übergab das Portemonnaie der Spurensicherung.

Ich behalte eine der Visitenkarten.

Der Mann nickte und gab ihm eine kleine Plastiktüte.

Wenn es denn die seinen sind. Aber das wird sich ja bald herausstellen.

Gut, dann Abmarsch.

Die Wohlanständigen

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