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Warum haben wir uns nicht telefonisch angemeldet?

Lena fragte es flüsternd.

Sie standen schon eine gefühlte Ewigkeit vor dem grünen Eingangstor der Wyttenbach-Villa.

In so einer Situation ist es besser, unangemeldet zu kommen.

Warum?

Weil, äh … –

Jetzt knackte es in der Gegensprechanlage.

– das erkläre ich Ihnen später.

Es meldete sich eine dunkle Frauenstimme und fragte nach Name und Begehr.

Sie verwendete tatsächlich das Wort Begehr.

Michel gab seinen Namen und diesmal auch die korrekte Be­zeichnung seiner Abteilung durch.

In dem Lautsprecher knackte und rauschte es, aber nichts ge­schah. Lena trat vor Aufregung von einem Bein aufs andere.

Endlich ging die Türe auf. Sie traten ein und schlossen das schwere Eingangstor. Ein verschlungener Weg führte durch einen ziemlich verwachsenen, parkähnlichen Garten. Der Weg münde­te in einen Kiesplatz vor einer dreistöckigen alten Villa.

Lena blieb stehen.

Aha, so kann man also auch wohnen, nicht schlecht. Und das mitten in der Stadt.

Michel nickte grimmig.

Mit einem Messer im Rücken hat man nichts mehr davon.

In diesem Augenblick öffnete sich die schwere Eingangstür. In der Tür erschien mit schwerfälligen Schritten eine Frau, die sich auf einen Stock stützte. Ihre Haare, die leicht fettig wirkten, waren nachlässig zu einer Art Dutt zurückgebunden. Ihr Gesicht war aufgedunsen, als ob sie starke Medikamente nehmen musste.

Wer sind Sie? Was wollen Sie?

Michel trat näher, stellte sich vor und zeigte seine Dienstmarke.

Und was wollen Sie denn hier?

In ihrem Tonfall schwang deutlich die Botschaft mit, dass sie in einer Sphäre lebte, die mit der Welt der Polizei rein gar nichts zu tun hatte. Allein das Auftauchen Michels schien für sie ein gesellschaftlicher Fauxpas zu sein.

Bevor Michel antworten konnte, zeigte sie mit dem Stock auf Lena.

Und was ist das?

Michel ignorierte ihre Frage.

Sind Sie Frau Beckmann?

Sie lachte rau auf.

Wer soll ich sonst sein?

Wissen Sie, wo ihr Mann ist?

Wieso wollen Sie das wissen?

Dürfen wir reinkommen? Das ist meine Assistentin Frau Steiner. Es gibt eine sehr ernste Situation, die wir nicht gerne hier draußen besprechen würden.

Sie schaute einen Moment mürrisch auf den silbernen Knauf ihres Stocks, entschloss sich dann aber doch, sie reinzulassen. Sie führte sie in einen hell gestrichenen Salon im Erdgeschoss.

Sie nahmen an einem großen ovalen Tisch Platz. Frau Beckmann behielt ihren Stock in der Hand. Sie blickte Michel herausfordernd an. Er ließ sich Zeit und blickte sich im Raum um.

Hinter dem Tisch erweiterte sich der Salon zu einer Art Wintergarten. Dort stand ein imposanter Flügel. Er war von einer Art Go­belindecke zugedeckt. Man hatte nicht den Eindruck, dass er jeden Tag bespielt wurde. Auf dem Flügel standen eine ganze Reihe von Fotos in silbernen Rahmen. Michel erhob sich, ging ein paar Schritte zum Flügel und deutete auf das Foto, das eindeutig Karl Beckmann zeigte. Etwas jünger und in einem tadellos sitzenden schwarzen Anzug.

Ist das Ihr Mann?

Sie nickte.

Verraten Sie mir endlich, was Sie wollen.

Michel setzte sich wieder auf seinen Stuhl, griff sich eines seiner Tücher aus der Manteltasche und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Frau Beckmann beobachtete den Vorgang mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.

Wir kommen mit einer schlechten Nachricht. Ihr Mann ist heute Morgen tot aufgefunden worden.

Frau Beckmann starrte ihn an, der angewiderte Gesichtsausdruck verhärtete sich jetzt zur unbeweglichen Maske.

Das kann gar nicht sein. Er hat mir gestern Abend gesagt, dass er heute auf eine Geschäftsreise nach London muss.

Hat Ihr Mann denn nicht hier übernachtet?

Frau Beckmann scharrte ungeduldig mit ihrem Stock über den Teppich.

Nein, wenn er früh verreisen muss, übernachtet er oft in seinem Büro.

Michel schwieg. Er spürte, wie Lena ihn von der Seite ansah.

Und was heißt überhaupt «aufgefunden worden»? Wie meinen Sie das?

Wir haben ihn im Wasser gefunden.

Im Wasser? Wo denn?

Michel nannte ihr den See und den genauen Ort.

Was soll er denn dort gemacht haben? Er ist nie ins Wasser ge­gangen. Einen wasserscheueren Menschen gibt es gar nicht. Er konnte nicht einmal schwimmen.

Einen Moment später zuckte sie zusammen, als ob sie die Ab­sur­dität ihrer Aussage realisiert hätte.

Hatte er denn eine Badehose an?

Nein, er war vollständig angezogen.

Michel zögerte etwas.

Und er hatte ein Messer im Rücken.

Sie starrte ihn entsetzt an, ließ den Stock los und legte die Hand vor den Mund.

Lena, die neben ihr saß, hatte reaktionsschnell den Stock aufgefangen. Sie lehnte ihn sorgfältig an den Tisch und ging leise aus dem Raum.

Michel runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

Einen Moment später kam Lena wieder mit einem Glas Wasser zurück. Sie stellte es leise vor Frau Beckmann auf den Tisch. Sie griff danach und leerte das Glas in einem Zuge.

Danach sprach sie kein Wort und starrte vor sich hin. Michel ließ sie gewähren. Erst als Michel nach einem Tuch griff und sich Gesicht und Stirn erneut trocknete, blickte sie auf.

Warten Sie auf etwas Bestimmtes?

Michel ließ sich nicht irritieren.

Sie müssen Ihren Mann identifizieren.

Sie starrte ihn mit kalten Augen an.

Wann?

Heute oder morgen.

Lena erhob sich und legte eine Karte mit der Adresse des Gerichtsmedizinischen Instituts auf den Tisch.

Dann können Sie ja jetzt gehen.

Lena blickte zu Michel, der nickte und erhob sich. Lena war sichtlich verblüfft.

Wir kommen wieder.

Michel erwartete keine Antwort.

Er durchquerte eilig den Garten. Lena im Schlepptau. Als sich das Tor hinter ihnen schloss, legte sie los.

Warum haben Sie sie nicht befragt? Ob er Feinde hatte? Wer seine engsten Geschäftspartner waren? Ob er sich in letzter Zeit verändert hatte? Was er in London wollte? Ob er vielleicht eine …

Michel unterbrach sie.

Alles zu seiner Zeit.

Lena schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

Wir hätten jetzt nichts aus ihr herausgebracht. Wir müssen warten, bis sie den Schock überwunden hat.

Gut. Und was machen wir jetzt?

Michel guckte auf seine Uhr.

Ich mache jetzt Mittagspause und …

Sie strahlte ihn an.

Fein. Und wo gehen wir essen? Ich habe einen Wahnsinnshunger.

Michel seufzte. Er hatte insgeheim gehofft, sie für eine Weile los­zuwerden.

Weiter unten ist eine Art Arbeiterrestaurant mit etwas altmodischen Menus. Ich weiß nicht, ob Ihnen das zusagt.

Sie nickte und ging gleich los.

Jetzt war es an ihm zu staunen. Offensichtlich liebte sie diese Art Kneipe, wo Lastwagenfahrer und Arbeiter riesige Teller voller Fleisch, Würste und Kartoffeln aßen; grüne Speisen sah man äußerst selten, am ehesten noch in Form von Erbsen aus der Büchse.

Sie zwängten sich in das vollbesetzte Gasthaus und fanden gerade noch zwei Plätze. Es war so lärmig, dass sie einander anschreien mussten.

Wissen Sie, als Studentin konnte ich mir nur alle zwei Tage ein richtiges Essen leisten und in so einem Lokal wird man wenigstens satt.

Sie betrachtete ganz ungeniert, was ihre Nachbarn aßen. Als sie bestellen konnten, zeigte sie bloß auf die Teller und nickte. Auch auf die großen Biergläser. Michel machte es ebenso. Er war jetzt wirklich gespannt, wo diese schmale Person mit all dem Essen hinwollte. Als dann das Essen kam, musste er schmunzelnd erkennen, dass er sie total unterschätzt hatte, mindestens, was ihre Essenskapazität betraf. Ihr Teller war vor seinem leer, und er war beileibe auch kein langsamer Esser. Ein Gespräch war in diesem Lärm nicht möglich, so vollzog sich das Essen praktisch stumm. Die Männer links und rechts von ihnen schrien in allen möglichen Sprachen kreuz und quer durch den Raum. Erstaunlicherweise schienen sie sich trotz des Lärmpegels gut zu verstehen.

Als sie draußen waren, beschlossen sie, in ein ruhiges Café zu wechseln und den Kaffee dort zu trinken.

Lena schüttelte sich kurz.

Puh, war das laut, aber das Essen war lecker. Vielen Dank, Michel, für die Einladung. Den Kaffee – und falls es Torten gibt – bezahle ich. Als Einstand sozusagen.

Ihr Appetit schien grenzenlos zu sein. Wider Willen musste Michel lächeln, sagte aber nichts.

Es gab tatsächlich Torten. Michel verzichtete darauf, um we­nigstens etwas anders zu machen als Lena. Er begnügte sich mit einem Espresso. Sie fiel unbekümmert über ein großes Kuchenstück her, als hätte sie heute noch nichts gegessen. Natürlich bereute er kurz darauf seine Entscheidung, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Nachdem sie den letzten Krümel vertilgt hatte, lehnte sie sich über den Tisch.

Wie sehen Sie den Fall, Chef? Haben Sie schon eine Vermutung?

Michel nahm den letzten Schluck seines Espressos.

Sehen Sie, Lena, zu Beginn eines Falls sollte man sich unter allen Umständen vor Thesen hüten und sich auf keine Vermutung versteifen. Sonst sucht man die ganze Zeit nach Bestätigung für seine These und übersieht leicht Hinweise oder Indizien, die in eine andere Richtung deuten. Und nennen Sie mich bitte nicht Chef.

Lena nickte eifrig.

Gut, dann sage ich Michel. Darf ich trotzdem eine, äh … eine Fantasie äußern?

Er verdrehte die Augen, nickte aber seufzend und verkniff sich eine beißende Bemerkung.

Auch wenn wir noch nichts wissen, ist doch die Kleidung, die der Tote anhatte, ein starkes Zeichen. Eigentlich der größtmögliche Gegensatz, den man sich sowohl zu seiner Frau als auch zu seinem Beruf vorstellen könnte.

Lena schaute ihn fragend an.

Michel wiegte den Kopf.

Kann sein, kann nicht sein. Sehen Sie, das ist genau das Problem mit solchen Vermutungen. Ich habe schon Zahnärzte und renommierte Anwälte in Lederanzügen auf gewaltigen Motorrädern gesehen. Das war ihr Wochenendvergnügen. Und? Was sagt uns das jetzt? Dass jemand ein abgedrehtes Hobby oder eine ausgefal­lene Leidenschaft hat.

Sie nickte.

Ja, ja, oder renommierte Bürger, die in Gummianzügen zu Swinger-Partys gehen. Gut, ich verstehe schon.

Sie nahm die Brille ab und putzte sie mit einer Serviette.

Insofern ist das Hawaiihemd nichts Besonderes. Zumal am See. Vielleicht war er auf eine Yacht eingeladen? Oder er besitzt selber eine?

Sie zückte ihr Smartphone.

Das können wir gleich feststellen, ob ein Boot auf seinen Namen eingetragen ist.

Sie beugte sich konzentriert über ihr Telefon.

Michel staunte, mit welcher Geschwindigkeit sie darauf eintippte. Und wie kam sie damit überhaupt in die entsprechenden amtlichen Listen?

Sie blickte auf.

Nein, unter seinem Namen ist kein Schiff eingetragen.

Sie steckte ihr Smartphone weg.

Das heißt natürlich noch nichts. Er könnte trotzdem auf einem Schiff gewesen sein, oder es ist unter einem Firmennamen einge­tragen. Oder er hat es gemietet.

Sie blickte auf.

Was schauen Sie mich so komisch an? Ich habe nichts Illegales getan oder, sagen wir, nichts Schlimmes. Die Listen sind ja nicht geheim.

Michel verzog seinen Mund.

Sind Sie eine Hackerin?

Jetzt verdrehte sie ihre Augen.

Was heißt hier Hackerin? Jeder, der Informatik studiert, weiß, wie man in Systeme reinkommt und so. Sobald man technisch ein System durchschaut, ist das ja auch ein Kinderspiel. Die meisten Sachen sind so banal, also das ist kein Hexenwerk.

Michel lachte.

Gut zu wissen.

Lena lachte auch.

Wissen Sie, die meisten Menschen machen sich ein ganz falsches Bild von einem Hacker. Ein Hacker ist in erster Linie jemand mit einer großen technischen Neugierde. Wie soll ich Ihnen das erklären? Ein bekannter Computeraktivist hat einmal gesagt: Ein Hacker ist jemand, der versucht, einen Weg zu finden, wie man mit einer Kaffeemaschine einen Toast zubereiten kann. Ein Hacker will wissen, wie etwas funktioniert und wo die Grenze des Machbaren liegt. Zufrieden?

Michel hob die Hand.

Nicht ganz. Es gibt ja auch kriminelle Hacker.

Ja, das ist klar. Und genau deswegen braucht es auch leidenschaftliche Hacker, die in der Lage sind, Sicherheitsmängel aufzuzeigen, ohne dass sie die Kenntnisse zu ihren eigenen Vorteilen ausnutzen. Die Firmen, vor allem Banken und Regierungen, können dann ihre Sicherheitsmaßnahmen danach ausrichten, bevor ein krimineller Hacker die Lücke ausnutzt.

Michel bestellte noch einen Espresso.

Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen einige grundlegende Kniffe.

Michel winkte ab.

Dafür sind Sie zuständig. Aber danke.

Okay. Und was machen wir jetzt?

Sie rufen jetzt Frau Beckmann an und bieten ihr an, sie ins Gerichtsmedizinische Institut zu begleiten.

Lena machte ein verdutztes Gesicht.

Geben Sie ihr zu verstehen, dass Sie das ohne mein Wissen machen, weil Sie denken, dass das für sie doch ein sehr schwieriger Gang sein würde und dass sie vielleicht lieber mit Ihnen als mit mir gehen würde. Verstehen Sie? Schmieren Sie ihr ein bisschen Honig aufs Brot, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Ist das jetzt auch ein Kniff?

Michel setzte sein unschuldigstes Gesicht auf.

Wie kommen Sie darauf? Jemand muss sie doch begleiten.

Die Wohlanständigen

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