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Fünf

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Michel betrachtete stirnrunzelnd das auf Hochglanz polierte ­Na­mensschild. Es handelte sich um eine der vornehmen Anwalts­so­zie­täten in der Hauptstadt. Anwälte, Notare, Treuhänder, Steuer- und Finanzspezialisten. Einige Professoren, viele Herren oder Da­men mit Doktortiteln waren darunter. Michel pfiff durch die Zähne.

Genau die Sorte, die ich liebe.

Den Namen Beckmann fand er allerdings nicht. Er prüfte noch einmal die Adresse in den Unterlagen, die seine Assistentin im Auftrag des Chefs zusammengestellt hatte. Er war am richtigen Ort. Er zuckte mit den Achseln und klingelte. Bevor die Tür sich mit einem leisen Surren öffnete, versuchte er sich vorzustellen, wie Lena mit Frau Beckmann im Gerichtsmedizinischen Institut eintreffen würde.

Was für ein genialer Schachzug!

Er klopfte sich gedanklich auf die Schultern. Es befreite ihn vom unangenehmen Gang zur Identifizierung der Leiche und gleichzeitig von Lenas Anwesenheit, die ihn nervös machte.

Er betrat das Gebäude. Über eine knarrende Treppe ging er in den ersten Stock, wo sich die Anmeldung befand.

Ein Schild an der Tür forderte zum Eintritt auf. In einem kleinen Vorraum saß eine schlanke Frau im weißschwarzen Kostüm – sogar als Modemuffel erkannte er Chanel. Sie hatte wilde rote Haare, die wie die untergehende Sonne leuchteten. Als sie sich umdrehte, hielt er spontan eine Hand hoch.

Mein Gott, ihre Haare blenden mich ja.

Sie lachte.

Na, na, so schlimm wird es doch nicht sein. Was kann ich für Sie tun? Sie kommen ja nicht, um mir Komplimente zu ma­­­chen.

Sie war nicht mehr ganz so jung, wie sie von hinten wirkte, aber sie war außerordentlich attraktiv und hatte ein bezauberndes La­chen, kurz: Sie war der ideale Empfang, der zumindest den Herren das Herz sofort öffnete.

Nein, nein, ich komme wegen Herrn Beckmann.

Er wählte bewusst diese etwas unkonkrete Formulierung.

Sie runzelte ihre schöne Stirn.

Aber Herr Beckmann ist doch schon seit gut, äh … vier Jahren oder … nicht mehr bei uns. Vielleicht sind es auch mehr. Da müsste ich jetzt nachschauen.

Jetzt war er wirklich überrascht und sah wohl sehr verdutzt drein.

Die Empfangsdame erhob sich.

Tut mir sehr leid, dass Sie extra hergekommen sind.

Soweit zur Genauigkeit der Unterlagen, liebe Lena.

Michel fing sich wieder.

Aha, und wo arbeitet er jetzt?

Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr …

Michel zückte seine Dienstmarke und nannte Name und Abteilung.

Jetzt war es an ihr, verdutzt zu sein. Aber nicht aus dem Grund, den Michel meinte.

Sie kam auf ihn zu, lächelte und streckte ihm ihre Hand entge­gen.

Mein Gott, das gibt’s ja nicht. Serge, erkennst du mich denn nicht? Wir sind doch zusammen zur Schule gegangen. Ich habe dich zuerst auch nicht erkannt, aber jetzt natürlich, als du deinen Namen nanntest.

Sie schlug die Hände zusammen.

Mein Gott, das ist ja auch ewig her. Du warst damals so dünn …

Sie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund und wurde rot im Gesicht.

Entschuldige Serge, das war jetzt nicht sehr diplomatisch.

Michel war ziemlich verwirrt, denn er konnte sich überhaupt nicht erinnern.

Entschuldigen Sie, aber … ist das vielleicht eine Verwechslung?

Sie lachte.

Nein, nein, ich bin Marlene. In der Schule nannte man mich Mali. Wir waren beide bei der Meyerhofer in der Primarschule. Weißt du nicht mehr?

Langsam dämmerte es Michel. Er sah vor sich ein mageres, rothaariges Mädchen mit vielen Sommersprossen.

Ja, ja, jetzt erinnere ich mich. Das war wie in einem anderen Le­ben. Du hattest Zöpfe und tausendundeine Sommersprosse, stimmt’s?

Ja, genau. Ich habe sehr unter diesen Sommersprossen gelitten und alle möglichen Cremes und todsicheren Rezepte ausprobiert. Es half alles nichts. So ab sechzehn Jahren wurden sie dann von alleine heller und immer heller – und jetzt sieht man sie fast gar nicht mehr.

Sie lachten beide. Dann wurde sie wieder ernst.

Was willst du denn vom Beckmann?

In diesem Moment betrat durch eine Seitentür ein untersetzter Mann in einem sehr seriös wirkenden Anzug den Raum. Seine Haare waren streng nach hinten gekämmt. Seine Wangen hatten etwas Hamsterartiges und seine kleinen Augen huschten unruhig hin und her.

Guten Tag. Ich höre den Namen Beckmann. Wer will etwas von ihm?

Marlene kam Michel zuvor.

Das ist Serge Michel von der Polizei. Er hat sich nach Herrn Beckmann erkundigt.

Sie wandte sich wieder zu Michel.

Und das ist Herr Schneider, unser Bürochef.

Wir sind tatsächlich von der Geschäftsleitung angehalten, keine weiteren Auskünfte über Herrn Beckmann zu geben.

Michel richtete sich auf.

Ja, wenn das so ist, dann führen Sie mich bitte zur Geschäftsleitung, Herr Schneider.

Der untersetzte Mann fuhr nervös durch seine Haare.

Ich weiß nicht, ob der Herr Professor im Hause ist …

Marlene unterbrach ihn.

Er ist im Hause. Ich habe ihn gesehen.

Aha, dann müssen Sie mit seinem Sekretariat einen Termin vereinbaren. Sie können das telefonisch machen. Frau Bächler kann Ihnen gerne die Nummer geben.

Einspruch, Euer Ehren. Die Polizei macht keine Termine. Entweder Sie führen mich jetzt zu ihm oder ich lade ihn aufs Polizeirevier vor. Fragen Sie bitte den Herrn Professor, was ihm lieber ist.

Marlene wandte sich ab, offenbar um ein Lächeln zu verbergen.

Schneider wischte sich vor Aufregung über den Mund.

Gut. Ich werde sofort zu ihm gehen. Warten Sie bitte hier. Frau Bächler wird Ihnen sicher einen Kaffee anbieten.

Mit einem wütenden Blick zu Marlene verließ er den Raum.

Hui, was ist aus dem kleinen Serge ein wichtiger Mann geworden. Kommissar! Respekt.

Sie lachte.

Willst du einen Kaffee?

Nein, lieber ein Glas Wasser.

Sie ging in einen Nebenraum.

Treffen wir uns mal?

Mit der Frage auf den Lippen brachte sie ihm das Glas.

Wir können ja hier keine Erinnerungen austauschen. Also nur, wenn du magst.

Michel nickte.

Gerne. Hier ist meine Karte.

Marlene steckte die Karte gerade noch rechtzeitig in eine Schublade, schon kam Schneider zurück.

Bitte folgen Sie mir, Herr Kommissar. Herr Professor Krättli emp­fängt sie sofort.

Der Schneider liebte offenbar Titel. Sie gingen schweigend die knarrende Treppe einen Stock höher.

Michel dachte, dass sie ganz bewusst die knarrende Treppe nicht erneuerten, denn sie wirkte altmodisch, sparsam, einschüchternd und stand für die Aussage: Uns sind andere Dinge wichtig. Welche, war noch die Frage.

Der Herr Professor empfing Michel in der Tür zu seinem Büro. Er war ein sympathisch lächelnder, älterer Herr, wohlanständig, mit vollem weißen Haupthaar.

Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Wir haben schon viel von Ihnen gehört, Herr Michel. Kommen Sie herein und machen Sie es sich bequem.

Sie betraten das Büro. Auch dies war sparsam und altmodisch möbliert. Der einzig moderne Gegenstand war der silbern schimmernde Bildschirm des Computers, der in augenfälliger Konkurrenz zur dunkel gehaltenen Einrichtung stand.

Michel setzte sich auf den geschnitzten Holzstuhl, der für Besucher vor dem Schreibtisch des Anwalts stand. Bequem war dieser nicht, aber Michel war sicher, dass diese altmodische Einrichtung sehr genau kalkuliert war. Er hatte auch schon ganz andere Büros gesehen, die mit kühler, aber teurer Eleganz vom Erfolg der Kanzlei erzählen sollten. Hier fand eine andere Erzählung statt. Michel war sich aber über den Inhalt der Geschichte noch nicht im Klaren.

Ich bin ein Freund Ihres ehemaligen Vorgesetzten, wissen Sie. Deswegen …

Er lächelte und öffnete seine Hände, wie es auch der Papst zu tun pflegt.

Michel konterte.

Kennen Sie auch den neuen?

Jetzt vollführten die Hände eine Abwehrbewegung. Danach legte er sie langsam, aber bewusst auf den Schreibtisch.

Nein, den kenne ich nicht. Aber Sie wollten zu Herrn Beckmann, höre ich. Was wollen Sie denn von ihm?

Seine Hände zuckten leicht, als ob sie sich wieder von der Tischplatte lösen wollten, aber gezwungen wurden, da liegenzubleiben.

Ich habe nie gesagt, dass ich zu Beckmann möchte. Ich habe gesagt, dass ich wegen Beckmann komme.

Jetzt falteten sich die Hände auf dem Tisch.

Aha! Ja, das ist ein Unterschied. Demzufolge wussten Sie also, dass Herr Beckmann schon seit fünf Jahren nicht mehr bei uns ist.

Michel schüttelte den Kopf und war gespannt, was die gepflegten Hände des Herrn Krättli weiter im Schilde führten.

Nein, das wusste ich nicht.

Aha! Ja, was wollen Sie denn?

Mit dieser Frage stützten sich die Hände mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte, was Herrn Krättli eine Art Sprungbereitschaft verlieh, auch wenn der Körper ganz ruhig blieb.

Frage – Gegenfrage.

Warum ist Herr Beckmann nicht mehr bei Ihnen? Er ist doch ein angesehener Treuhänder und Finanzmann, so habe ich we­nigs­tens gehört.

Die gespreizten Finger hoben sich nun vom Tisch, die Ellbogen wurden aufgestützt und zehn Fingerkuppen, leicht aufeinandergepresst, wurden vor Krättlis Mund geführt.

Wer hat Ihnen das erzählt?

Darauf hatte Michel gewartet. Die Antwort genoss er.

Mein neuer Chef.

Aha! Wie heißt er schon wieder, Ihr neuer Chef?

Michel nannte ihm den Namen.

Seine Hände strichen kurz beidseitig über die glattrasierten Wangen, um wieder in der vorigen Position zu landen, die Kuppen etwas stärker zusammengepresst als zuvor.

Sagen wir so: Beckmann hatte sich in riskante Geschäfte verwickelt, die für unsere Sozietät nicht mehr tragbar waren.

Heißt das, dass Sie Geld verloren haben?

Krättli hob die Hände gen Himmel, also zur Zimmerdecke.

Nein, nicht wir, Gott bewahre. Aber unsere Kunden. Und das konnten wir natürlich nicht zulassen.

Die Hände sanken zurück und fanden zärtlich in eine Stellung zueinander, so als ob ihr Besitzer sie waschen wollte.

Michel schwieg und hielt Krättlis Blick stand.

Wir haben das nicht an die große Glocke gehängt, da Beckmann für uns auch sehr viel Gutes gemacht hat. Verstehen Sie?

Michel blieb immer noch regungslos. Krättli klatschte jetzt in seine Hände, als ob er Michel zu einer Reaktion zwingen wollte.

Er hat uns sogar gebeten, es vor seiner Familie zu verschweigen.

Michel nickte.

Ging es um viel Geld?

Jetzt verschwanden Krättlis Hände unter dem Tisch.

Ja, was heißt viel?

Er schaute fragend zu Michel.

Sagen Sie es mir, Herr Professor.

Die Hände kamen wieder abwehrend aus der Versenkung.

Aber wieso kommen Sie jetzt? Die Sache ist doch schon längst vergessen.

Michel ignorierte die Frage.

Wann haben Sie Herrn Beckmann das letzte Mal gesehen?

Die Hände begannen in der Luft zu schweben.

Ja, damals vor etwa fünf Jahren. Seither haben wir keinen Kontakt mehr.

Haben Sie Kontakt zu seiner Frau?

Nein, warum sollte ich?

Krättli hielt es jetzt nicht mehr auf dem Stuhl. Unter dem Vorwand, das Fenster zu öffnen, stand er auf. Dann drehte er sich lachend um.

Wird das jetzt ein Verhör, Herr Kommissar?

Michel stand auch auf.

Nein, nein, sicher nicht. Ich wollte ja nur ein paar Informationen. Dafür bedanke ich mich recht herzlich.

Krättli begleitete ihn offensichtlich erleichtert zur Tür, so er­leichtert, dass er sogar nicht noch einmal fragte, warum Michel denn gekommen war. In der Tür blieb Michel stehen.

Ach ja, Sie wissen auch nicht zufällig, was Beckmann jetzt macht?

Krättli gab sich Mühe, ein Gesicht zu machen, das Ich-überlege-ernsthaft heißt, schüttelte aber dann den Kopf.

Nein, tut mir leid. Ich habe keine Ahnung.

Und ich glaube dir kein Wort, dachte Michel und verabschiedete sich freundlich, wie es zu diesem ganzen Interieur passte.

Jetzt wusste er, wie die Geschichte heißen könnte, die das Haus und die ganze Einrichtung dieser Anwaltssozietät erzählte: Die Wohlanständigen.

Er schaute nochmals in das Büro der Anmeldung, aber Mar­lene war leider nicht da.

Schade, schade. Hoffentlich meldet sie sich.

Kurzentschlossen machte er sich auf den Weg ins Gerichtsmedi­zinische Institut. Jetzt hatte er das Bedürfnis, den Toten aus dem See noch einmal zu sehen.

Die Wohlanständigen

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