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sechs

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Als er später zurück ins Büro kam, herrschte dicke Luft. Sommer signalisierte es ihm mit dem verabredeten Zeichen. Sie hatten über längere Zeit ein Zeichensystem entwickelt, so dass Sommer ihm jeweils sekundenschnell die Stimmung im Büro signalisieren konnte. Sommer nutzte das Zeichen für höchste Alarmstufe. Michel zuckte mit den Schultern und ging schnurstracks in sein Büro. An einem kleinen Tisch, der neu in seinem Büro war, saß Lena und starrte angespannt in einen Computer.

Er verkniff sich eine Bemerkung wegen des neuen Arbeitsplatzes.

Und? Wie war es mit Frau Beckmann?

Sie drehte sich um und Michel sah, dass sie geweint hatte. Er setzte sich. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht.

Es war gut, dass ich sie begleitet habe. Erstens war sie sehr froh, nicht allein gehen zu müssen – das hätte sie sicher nie zugegeben, aber es war zu spüren – und zweitens war es für mich eine interessante Erfahrung.

Inwiefern?

Ich habe vorher noch nie eine Wasserleiche gesehen, außer auf dem berühmten Gemälde von Holbein. Sie kennen es?

Michel verneinte.

Hans Holbein der Jüngere hat Jesus im Grab gemalt und das Bild hängt im Kunstmuseum Basel. Wir haben das Gemälde im Studium mit einem Fachmann analysiert. Einer unbelegten Legende nach benutzte Holbein eine Leiche aus dem Rhein, was der Forensiker anhand des Bildes aber widerlegte. Aber ich kenne das Bild seit meiner Jugendzeit, und es war für mich immer die Wasserleiche schlechthin.

Sie wischte sich eine Träne aus den Augen.

Und jetzt habe ich einen Menschen gesehen, der wirklich im Wasser war.

Und? Wie war Ihr Eindruck?

Erstens hatte der Gerichtsmediziner hundertprozentig recht. Eine Wasserleiche sieht wirklich ganz anders aus – als der Körper auf Holbeins Bild, meine ich.

Sie stockte.

Ja, und jetzt habe ich einen Menschen gesehen, der noch vor zwei Tagen lebte. Wissen Sie, in meinem Alter beschäftigt man sich wenig mit dem Tod. Heute habe ich eine ziemlich grausame Wirklichkeit des Todes gesehen. Als Kind hat mich der Tod sehr beschäftigt, aber man durfte ja nicht fragen, oder wenn, bekam man keine Antworten. Auf jeden Fall keine befriedigenden.

Ich verstehe.

Sie schwiegen eine Weile. Michel wusste nicht so richtig, wie er darauf reagieren sollte. Dann räusperte er sich.

Und wie hat Frau Beckmann … ?

Sehr gefasst, würde ich sagen. Vielleicht könnte man auch sagen, gefühllos. Wie soll ich sagen? Sie hat ihn angeschaut. Dann hat sie genickt und unterschrieben. Sie hat keine Fragen gestellt. Als man ihr sagte, dass man ihr die persönlichen Sachen dann zustellen würde, hat sie das abgelehnt. Sie wolle diese Sachen nicht.

Hat sie sich denn die Kleidung angeschaut?

Lena nickte.

Sie hat kurz hingeguckt und gesagt, dass das nicht seine Kleider seien. Damit wolle sie nichts zu tun haben. Von den Schuhen war sie richtig angewidert.

Sonst hat sie nichts gesagt?

Nein, ich habe sie dann mit dem Taxi wieder nach Hause begleitet. Sie hat nur einmal etwas gemurmelt, dass ich nicht richtig verstanden habe. Es klang wie Marmarameer.

Marmarameer?

Nein, nein, ich glaube nicht, dass sie dieses Wort gesagt hat. Ich glaube nur, es kommt dem, was ich gehört habe, am nächsten.

Sie fuhr mit der Hand ärgerlich durch die Luft.

Ich habe nachgefragt, aber sie starrte nur ins Leere. Beim Aussteigen habe ich ihr vorgeschlagen, sie zu begleiten. Oder ihr noch ein bisschen Gesellschaft zu leisten.

Sie schlug die Hände vors Gesicht.

Oh je! Ihr entsetztes Gesicht hätten Sie sehen sollen! Ui, ui! Als ob ich ihr einen unsittlichen Vorschlag gemacht oder sie gebeten hätte, mich als Erbin einzusetzen.

Michel lachte.

Ja, das überrascht mich nicht. Genauso habe ich sie eingeschätzt. Aber …

Michel stockte ein wenig.

… ich finde, Sie haben das gut gemacht, Lena. Danke. Wann kriegen wir den Bericht?

Morgen früh.

Gut.

Michel zögerte.

Haben Sie jemand, mit dem Sie über Ihr Erlebnis heute reden können?

Ja, ja. Machen Sie sich keine Sorgen, aber nett, dass Sie fragen.

Gerade wollte er ihr von den Neuigkeiten aus dem Anwaltsbüro berichten, als der Polizeichef wie von einer Wespe gestochen ins Büro gesaust kam.

Kommen Sie sofort in mein Büro!

Im selben Tempo war er wieder verschwunden.

Michel erhob sich seufzend.

Besorgen Sie mir die Adressen von ihren Kindern, bitte.

Lena lächelte verschmitzt.

Habe ich schon. Sie liegen auf Ihrem Tisch.

Unterwegs holte er sich noch einen Kaffee aus diesem scheußlichen Automaten, weniger des Kaffees wegen, sondern um den Chef warten zu lassen.

Im Büro musste er Platz nehmen. Der Neue kam sofort zur Sache.

Ich hatte soeben ein Telefongespräch mit Professor Krättli.

Michel lehnte sich zurück.

Ach ja, Sie kennen ihn?

Von der Werdt wischte die Frage wie eine lästige Fliege vom Tisch.

Wie kommen Sie dazu, ihm zu drohen, dass sie ihn vorladen, wenn er keine Zeit für ein Gespräch hat und warum haben Sie ihm verschwiegen, dass Beckmann tot ist?

Auf die erste Frage ging Michel gar nicht ein.

Warum sollte ich ihm sagen, dass Beckmann tot ist? Ich fand es für das Gespräch besser, die Sache in der Schwebe zu halten. Sie haben ihm das jetzt aber nicht verraten?

Der Polizeichef lief rot an.

Natürlich habe ich es ihm gesagt, wie sonst hätte ich Ihr Verhalten begründen sollen?

Michel ging jetzt aufs Ganze.

Das heißt, Sie mischen sich in meine laufenden Untersuchungen ein. Das hätte der Alte nie getan. Als leitender Kommissar habe ich das Recht, meine Untersuchungen so zu gestalten, wie ich es für richtig halte. So steht es schwarz auf weiß im Dienstreglement.

Michel keuchte vor Aufregung und stand auf.

Zudem habe ich nicht Herrn Krättli persönlich mit einer Vorladung gedroht, ich wollte bloß seinem Bürochef Beine machen. Das hat ja dann auch geklappt. Wahrscheinlich hätten wir sonst nicht so schnell erfahren, dass der Beckmann schon seit fünf Jahren gar nicht mehr für dieses Anwaltsbüro tätig ist. Die Angestellten haben nämlich Auskunftsverbot, was den Beckmann betrifft.

Von der Werdt war so überrascht, dass er ganz vergass, dass er soeben angepflaumt worden war.

Was sagen Sie da? Und warum ist er nicht mehr in der Sozietät?

Hat Ihnen das der Krättli nicht gesagt? Das erstaunt mich jetzt aber.

Michel nahm sich Zeit, setzte sich wieder, trank einen Schluck von seinem Kaffee und verzog sein Gesicht.

Sie hatten sich von ihm getrennt, weil er für Kunden viel Geld verloren hat.

Der Chef zeigte ein eiskaltes Lächeln.

Na ja, vor zwei Jahren haben viele Leute viel Geld verloren. Ich sage nur Finanzkri…

Sein Telefon klingelte.

Gut. Michel, verschwinden Sie.

Am liebsten hätte Michel ihm den Kaffee ins Gesicht geschüttet, er ging aber betont ruhig aus dem Zimmer und goss ihn in die Toilette.

Pfui Teufel.

Lena blickte ihn erwartungsvoll an. Michel winkte ab.

Ach, nichts Besonderes.

Er berichtete ihr in Stichworten, was er auf der Anwaltskanzlei erfahren hatte. Das Wiedersehen mit Marlene erwähnte er natürlich nicht.

Mich hat der Chef heute angemeckert, weil ich mich geweigert habe, über unsere Ermittlungen Auskunft zu geben. Ich bin aber Ihre Assistentin und nicht seine Informantin.

Und ich sage ein zweites Mal: Das haben Sie gut gemacht, Lena.

Jetzt wurde sie rot und winkte ab.

Marmarameer!

Wie? Ach so, ja. Der ist gut. Danke, Lena, Sie können für heute Schluss machen.

Michel blieb allein im Büro zurück. Er dachte an die Begegnung mit Marlene. Merkwürdig, dass man plötzlich einem Menschen aus der fernen Vergangenheit begegnet. Und das noch ausgerechnet in der Kanzlei der Wohlanständigen.

Er kicherte vor sich hin.

Ob sie auch wohlanständig ist?

Nein, ich glaube nicht. So wie sie mit dem Bürochef umgegangen ist. Und ihr Lachen ist heute noch genauso frech wie damals als mageres Mädchen. Er erinnerte sich plötzlich wieder, dass sie eine Weile den gleichen Schulweg hatten. Waren sie nicht sogar mal eine Weile Hand in Hand zur Schule gegangen? Genau, sie war doch die, die bereits auf dem Schulweg ihr Pausenbrot an die Enten im Kanal und an die Vögel verfüttert hatte. Mali? Merkwürdig: An den Namen konnte er sich überhaupt nicht mehr erinnern. Aber als sie heute gelacht hatte, da hatte er das Gesicht wiedererkannt. Marlene Bächler. Ob das ihr Mädchenname war, wusste er auch nicht mehr.

Wie Beckmann wohl aussah, wenn er gelacht hatte? Hatte er überhaupt je gelacht?

Er stützte seinen Kopf in die Hände.

Verdammt. Es ist doch immer dasselbe: Wenn man einen Menschen erst als Toten kennenlernt, ist es fast unmöglich, sich ein Bild von ihm zu machen. Und dann erst noch bei einer Wasserleiche. Da ist alles Persönliche eines Gesichts wie weggewischt, entstellt eben.

Er richtete sich auf.

Ich brauche dringend ein gutes Foto von ihm.

Heute in der Gerichtsmedizinischen hatte sich für ihn wieder einmal die Frage aufgedrängt, ob ein Toter überhaupt noch ein Mensch ist, da das Wichtigste aus seinem Körper entwichen war, nämlich sein Leben und wer weiß was noch alles.

Das erste Mal vermisste er Tanner. Mit dem könnte er jetzt diese Fragen in aller Ruhe diskutieren. Bei einem guten Essen und einem großen Bier.

Michel seufzte und zückte sein Handy.

Der Herr könnte sich auch einmal melden.

Von Tanner kein Lebenszeichen, aber dafür von Marlene. Ob er morgen Abend Zeit und Lust hätte, mit ihr zu essen.

Und ob, du rothaarige Mali.

Er schrieb sofort zurück und fragte, wann und wo.

Dann nahm er sich die beiden Adressen von Beckmanns Kindern vor. Die Tochter hieß Nathalie Beckmann und war 31 Jahre alt. Von Beruf Apothekerin. Der Bruder war jünger, 28 Jahre alt. Er hieß Robert. Beruf und Zivilstand unbekannt. Er lebte in der Stadt. Sie auf dem Lande, unweit der Hauptstadt. Er wählte zuerst die Nummer des Sohnes, weil die Adresse näher war, aber da nahm niemand ab. Seufzend wählte er die Nummer der Tochter. Sie meldete sich sofort.

Michel erklärte den Grund seines Anrufes. Sie schien nicht im Geringsten überrascht. Er könnte jederzeit vorbeikommen. Sie sei zu Hause.

Michel schaute auf die Uhr und meinte, dass er in etwa anderthalb Stunden bei ihr sein könnte. Sie war einverstanden.

Na, das ging ja leicht.

Er erhob sich und verließ das Büro.

Michel hatte furchtbaren Hunger und konnte unmöglich mit leerem Magen das Gespräch führen. Ergo führte der Weg zuerst in ein Restaurant. Er wählte eines außerhalb der Stadt, quasi auf dem Weg zur Apothekerin.

Pünktlich zur verabredeten Zeit stand Michel dann vor dem vierstöckigen Mietshaus aus den Fünfzigerjahren, wo die Apothekerin wohnte. Die Haustür war offen. So klingelte er erst an der Wohnungstür im zweiten Stock.

Die Tür öffnete sich sofort, als hätte die Bewohnerin nur auf ihn gewartet.

Michel nannte seinen Namen und zeigte ihr seine Dienstmarke. Nathalie Beckmann bat ihn in ihre Wohnung. Sie hatte so gar nichts von ihrer Mutter. Sie war mittelgroß, hatte ein zartes Ge­sicht, das halblange blonde Haare umrahmten. Sie führte ihn in ein geräumiges Wohnzimmer, dass aussah wie die perfekte Reklame für ein großes Einrichtungshaus aus dem Norden, das mittlerweile die ganze Welt möblierte.

Nett haben Sie es hier.

Michel setzte sich an den Tisch und zückte sein schwarzes Notizbuch. Nicht, dass er daran dachte, etwas aufzuschreiben, aber den Leuten war diese Geste eines Kommissars aus dem Fernsehen vertraut.

Ich möchte Ihnen, auch im Namen unseres Polizeichefs und der ganzen Polizei, unser herzliches Beileid aussprechen.

Nathalie Beckmann nickte dankbar, aber schwieg.

Ich nehme an, Ihre Mutter hat Sie informiert?

Bevor sie antwortete, strich sie die Tischdecke glatt.

Nein, es war Robert, mein Bruder. Meine Mutter spricht seit einiger Zeit nicht mehr mit mir.

Aber mit ihm spricht sie?

Ja, mit ihm schon.

Sie stand abrupt auf und verließ den Raum, kam aber sofort mit einer Packung Taschentücher wieder. Sie schnäuzte sich und trocknete die Augen.

Entschuldigen Sie bitte.

Michel hob besänftigend seine Hand. Sie schaute ihn an und versuchte ein Lächeln, was ihr aber gänzlich misslang.

Wir haben schwierige Familienverhältnisse, wissen Sie.

Michel schwieg, überrascht war er aber nicht.

Sie atmete hörbar aus.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Oder wollen Sie mir Fragen stellen?

In diesem Moment hörte man ein leises Kratzen an der Tür.

Oh, das ist meine Katze. Entschuldigen Sie. Ich hatte sie vorhin schon gesucht, deswegen habe ich auch die Haustür offen gelassen.

Sie ging in den Flur und sprach mit leiser Stimme, dann kam sie mit einer kleinen grauen Katze auf dem Arm wieder zum Tisch.

Das ist Tschuri. Ich habe ihn erst seit ein paar Monaten. Wenn er lange draußen war, werde ich immer noch ganz unruhig.

Das kann ich verstehen. Tschuri? Ist das nicht dieser, äh … Ko­met, über den man letzthin gelesen hat?

Doch, doch. Ich weiß auch nicht, wieso ich den Kater so getauft habe. Vielleicht, weil er in meinem Leben auch wie ein Komet auf­getaucht ist.

Sie errötete dabei und setzte den Kater schnell auf den Boden.

Also, was wollen Sie wissen?

Ich möchte mir ein Bild Ihres Vaters machen. Ohne zu wissen, wer er und wie er war, ist es sehr schwer, Ermittlungen anzustellen. Verstehen Sie?

Ja, ja. Das kann ich verstehen. Ja, wie war mein Vater? Also, er war ein sehr großzügiger und geduldiger Vater. Er hatte zwar im­mer viel zu tun, aber wenn er zu Hause war, hat er sich um uns Kinder gekümmert. Ich habe mich zum Beispiel schon früh für Chemie und Pillen interessiert. Er hat das unterstützt und mir Ex­perimentierkästen gekauft und auch mit mir damit gespielt.

Sie lachte.

Dann und wann ist auch mal was schiefgelaufen. Meine Mutter hat das immer ungern gesehen und sich auch ein bisschen lustig gemacht. Das sei doch nichts für ein Mädchen und solche Sprüche. Sie sehen, es hat nichts genützt, ich bin Apothekerin geworden und arbeite heute in der Forschung. Das verdanke ich meinem Vater.

Sie hielt inne.

Später ist er immer unglücklicher geworden. Ich sehe das erst heute so klar. Als Kind spürt man zwar eine Menge, aber kann die Sachen nicht richtig einordnen. Unglücklich war er vor allem mit meiner Mutter. Es fällt mir schwer, darüber zu reden, aber er hatte allen Grund dazu.

Michel richtete sich auf.

Aha. Und warum?

Sie holte tief Luft.

Ja, warum? Das ist nicht so einfach zu sagen. Sie hatte dauernd etwas an ihm auszusetzen. Sie ist vom Typ eine Nörglerin. Außerdem war sie es, die das Geld in die Familie brachte. Ich glaube, der Kampf zwischen ihnen wurde über uns Kinder ausgetragen. Ich war der Liebling meines Vaters, Robert der meiner Mutter. Außerdem hat sie ihre Krankheit benutzt, um ihn unter Druck zu setzen.

Wie das?

Ja, immer, wenn er etwas wollte und sie nicht, wurde sie sofort wieder krank. Das war eine simple Formel, aber es war so. Wenn ihr etwas nicht passt, wird sie krank und terrorisiert die anderen damit.

Das Letzte sagte sie heftig.

Was hat sie denn für eine Krankheit?

Sie hat eine chronische Urikopathie.

Was heißt das für Ungebildete?

Ach, verzeihen Sie: Sie hat Gicht.

Verstehe.

Sie sagten, Frau Beckmann, dass das Geld von Ihrer Mutter in die Ehe eingebracht wurde. Aber hat Ihr Vater denn nicht auch viel Geld verdient?

Sie lächelte.

Ja, schon, aber die Familie mütterlicherseits ist steinreich, verstehen Sie. Das ist gar kein Vergleich, selbst wenn Vater zeitweise auch viel verdient hat.

Wissen Sie, dass Ihr Vater seit fünf Jahren nicht mehr in der Anwaltssozietät arbeitet?

Sie senkte den Blick.

Ja, ich wusste es, aber ich bin die Einzige. Meine Mutter weiß es bis heute nicht und mein Bruder auch nicht. Vater wollte es so. Ich musste es ihm bei meinem Leben versprechen, dass das ein Geheimnis zwischen uns bleibt. Später sagte er ihnen, er hätte für die Sozietät eine Art Filialbüro für das Welschland eröffnet. Sie glauben also bis heute, dass er immer noch den gleichen Arbeitgeber hat.

Wieso hat er Ihnen das gesagt?

Ich war seine Vertraute. Lange die einzige …

Wie meinen Sie das?

Na ja, wie soll ich sagen?

Sie rutschte nervös auf dem Stuhl, als ob sie keine bequeme Stellung finden würde.

Mein Vater hat …, also hatte eine, äh … Freundin oder Geliebte, wie Sie wollen. Also, jetzt wird’s kompliziert.

Sie lehnte sich auf die Tischplatte.

Als sie meinen Vater gezwungen hatten, aus der Sozietät auszu­treten, der er immerhin über fünfundzwanzig Jahre angehört hatte, ging er trotzdem jeden Tag zur gewohnten Zeit aus dem Haus und kam erst nach Büroschluss nach Hause. Was er in der Zeit den ganzen Tag gemacht hat, weiß ich nicht. Ich habe davon auch erst später erfahren. Aber in der Zeit hat er eine Frau kennengelernt. Das heißt, wenn er dann sozusagen auf Geschäftsreisen war, war er in Wahrheit bei dieser Frau.

Sie machte eine Pause. Dann schüttelte sie den Kopf.

Eine große Gemeinsamkeit hatten mein Vater und meine Mutter. Die äußere Fass ade musste unter allen Umständen gewahrt werden. Später, als er dann wieder ein eigenes Büro hatte, hat er offiziell oft dort geschlafen, weil das Büro nicht in der Hauptstadt war, sondern direkt auf der Sprachgrenze in Richtung Welschland.

Sie nannte ihm Ortschaft und Adresse.

Warum dort?

Sie zuckte mit den Achseln.

Er ist bilingual aufgewachsen und mochte diese zweisprachige Stadt schon immer. Zudem war es weit weg von Mutter.

Kennen Sie diese Frau?

Ja, und ich finde sie sehr nett, ich habe diese Freundschaft meinem Vater mehr als gegönnt. Meine Mutter hatte sich leider zu einem richtigen Drachen entwickelt, die mit allen im Streit liegt. Es klingt brutal, ist aber so.

Michel räusperte sich.

Außer mit Ihrem Bruder.

Ja, mein Bruder.

Jetzt fing sie an zu weinen. Sofort kam Tschuri und sprang auf ihren Schoß, er hatte offensichtlich gemerkt, dass seine Herrin Trost brauchte.

Sie haben eine schöne Katze, sagte Michel übertrieben verständ­nisvoll.

Nathalie Beckmann lächelte glücklich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Weiß diese Frau vom Tode ihres Vaters?

Ja, ich habe es ihr mitgeteilt. Ich dachte, sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.

Ja sicher. Ich will Sie auch gar nicht viel länger aufhalten, aber einen Wunsch hätte ich noch: Könnte ich ein Foto von Ihrem Vater sehen?

Sie nickte, nahm den Kater auf den Arm und ging aus dem Zimmer. Sie kam mit einem gerahmten Foto zurück und legte es vor ihm auf den Tisch.

Das Foto habe ich vor etwa fünf Jahren aufgenommen. Wir hat­ten zusammen einen Ausflug mit dem Schiff gemacht.

Michel nickte.

Ihr Vater hatte auf dem Foto einen dunklen Anzug mit weißem Hemd an, aber ohne Krawatte. Er lehnte sich an die Reling und lachte in die Kamera. Trotzdem überwog eine Art ernste Seriosität, die er mit seiner Haltung ausstrahlte. Ein Treuhänder, dachte Michel spontan. Seine Haare, ehemals dunkelblond, waren an den Schläfen schon deutlich grau. Obwohl Beckmann lachte, entdeckte Michel eine Art melancholischen Schatten, der über seinem Gesicht lag. Die Oberlippe drückte etwas Verdrossenes, ja sogar etwas Schmollendes aus, als habe das Schicksal ihn um ein Versprechen betrogen. Bei kleinen Kindern hatte Michel diesen Zug schon beobachtet, wenn ihnen etwas vorenthalten wird, was sie unbedingt wollen. Auf jeden Fall hatte dieses Foto mit der Leiche im Wasser, außer der Größe und der Haarfarbe, fast nichts gemein.

Ich wäre sehr froh, wenn ich das Bild fotografieren dürfte. Darf ich?

Sie nickte, überlegte es sich dann aber anders.

Wissen Sie was? Ich habe noch einen Abzug, den gebe ich Ihnen.

Oh, das ist aber sehr nett.

Sie eilte wieder aus dem Zimmer. Er hörte sie nebenan in einer Schublade suchen. Dann gab sie ihm das Bild.

Ich werde Sie informieren, wenn wir wissen, wer Ihren Vater –

Sie unterbrach ihn.

Wann wird mein Vater freigegeben, also, ich meine …

Morgen oder übermorgen, vermute ich. Aber das entscheide nicht ich. Sie kriegen Bescheid.

Wenn Sie noch weitere Fragen haben, können Sie gerne wiederkommen oder wir treffen uns in der Stadt.

Ich werde bestimmt noch mehr Fragen haben.

Die Wohlanständigen

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