Читать книгу Hildegard von Bingen - Ursula Klammer - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеWährend ich diese Zeilen schreibe, blicke ich immer wieder aus dem Fenster und erfreue mich an den üppigen Lindenbäumen vor dem Haus, die vom Wind hin- und herbewegt werden. Die nach einem Regenguss hervorblinzelnde Sonne verleiht dem Grün der Blätter eine besondere Intensität und Leuchtkraft, wie ich sie zuvor kaum einmal wahrgenommen habe. Viriditas – Licht, Lebendigkeit, Grünkraft … Die hl. Hildegard würde bei diesem wunderbaren Anblick wohl jubeln! Die beeindruckende Frau des Mittelalters ist mir durch die Beschäftigung mit ihrem Lebenswerk, ihrer Musik sowie ihren naturheilkundlichen Empfehlungen sehr nahegekommen. Es war ein langer, für mich äußerst lohnender Weg. Ein Weg nach innen, zu meinen spirituellen Wurzeln, die insbesondere auch aus dieser kostbaren Quelle genährt werden.
Der heilkundigen Benediktinerin verdanke ich überzeugende Antworten auf persönliche Fragen – u. a. nach einem gesunden und nachhaltigen Lebensstil, aber auch nach einer ansprechenden Art und Weise, meinen Glauben zu leben. Themen wie diese standen am Beginn meiner stetig wachsenden Begeisterung für die weltoffene Mystikerin. Es folgten eine Diplomarbeit zum Abschluss meines Theologiestudiums, eine Buchveröffentlichung sowie die beherzte Weitergabe von erworbenem Wissen, von spirituellen Impulsen oder gesundheitsbezogenen Erkenntnissen der hl. Hildegard im Rahmen von Seminaren und Vorträgen, Exerzitien und Pilgerfahrten zu Hildegards Wirkungsstätten am Rhein.
Hildegard von Bingen, eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters, hat über die Jahrhunderte nichts an Strahlkraft und Aktualität verloren. Unzählige Menschen interessieren sich für ihre Weisheit, ihre mystischen Gesänge und Visionen sowie ihr Schicksal als Prophetin, wurde ihr doch Einblick gewährt in kosmische Strukturen und göttliche Geheimnisse, in tiefgründige Zusammenhänge des Lebens, aber auch in sensible Bereiche der menschlichen Seele. Hildegard konnte Klänge und Töne des Universums wahrnehmen, „himmlische Musik“, die sie zum Niederschreiben eigener Liedkompositionen inspirierte. Die Seherin war eng vertraut mit der göttlichen Stimme, die ihr half, ihre Visionsbilder zu deuten. Von ihr wusste sich Hildegard zum Verkündigen beauftragt bzw. ermächtigt: auf öffentlichen Plätzen, in Kathedralen, in Form von geistlichen Unterweisungen innerhalb ihres Klosters oder auch im Rahmen ihrer umfangreichen Korrespondenz sowohl mit einfachen Leuten als auch mit einflussreichen Persönlichkeiten und politischen Entscheidungsträgern – mit Kaisern, Päpsten, Bischöfen und Gelehrten sowie mit Königinnen oder Äbtissinnen. Selbstbewusst verbreitete die angesehene Benediktinerin ihre Erkenntnisse – u. a. anhand anspruchsvoller theologischer Schriften und naturheilkundlicher Werke. Sie, „eine einfache Frau ohne formale Bildung“, wie die Meisterin vom Rupertsberg nicht müde wurde sich zu erklären. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen konnte sich die geisterfüllte und selbstbewusste Äbtissin gegenüber männlicher Vorherrschaft behaupten.
Und heute? Werden Frauen, die mutig ihre Stimme erheben, gehört? Innerhalb der Kirche? Außerhalb? In welchen Bereichen können und dürfen sich Frauen einbringen? Es bleibt zu wünschen, dass sich kirchliche und gesellschaftliche Strukturen für Frauen und ihre spezifischen Fähigkeiten in umfassender Weise öffnen. „Welche Verschwendung von Charismen und Begabungen, wenn die Kirche den Frauen keinen Zugang zu allen Diensten und Ämtern gibt“, meint Sr. Philippa Rath aus der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard in Rüdesheim/Eibingen, wo derzeit 44 Ordensfrauen das Erbe Hildegards weitertragen. Zu ihnen, ihrem beeindruckenden Kloster inmitten von Weinbergen haben mich meine Gedanken und Erinnerungen während der letzten Monate immer wieder hingetragen. Ihnen und zahlreichen anderen spirituellen Frauen und Männern unserer Zeit sowie früherer Generationen bzw. Epochen gehört mein Dank. Dafür, dass sie von Gott erzählen und durch ihr Gebet bzw. ihr engagiertes Handeln die Welt gestalten, dafür, dass sie der lebendigen Geistkraft Gottes Raum geben und an der Kirche mitbauen – an einer gerechten und geschwisterlichen Kirche, die sich offen zeigt gegenüber Vielfalt, Buntheit, Lebensfreude sowie leidenschaftlicher Schöpfungsverantwortung.
Hildegard von Bingen, die umtriebige und willensstarke Äbtissin vom Rupertsberg, kann uns Frauen ermutigen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die kirchlichen Dienste und Ämter mit unserem Frausein zu füllen bzw. zu bereichern. Hildegard, die sich im Großen und Ganzen in die Ordnung ihrer Zeit eingefügt hat, ist es bestimmt nicht immer leichtgefallen, ihre prophetische Stimme zu erheben und sich dann, wenn sie es für notwendig erachtete, den kirchlichen Autoritäten zu widersetzen. Die engagierte Ordensfrau hat sich unerschrocken und kompromisslos für Wahrheit und Gerechtigkeit eingesetzt. Manch schwerer Konflikt – auch mit der Amtskirche – kostete Hildegard viel Kraft und Energie. Die Seherin hat ihr Licht trotz häufiger Krankheitsphasen nie unter einen Scheffel gestellt. Um ihre Mission erfüllen zu können, hat Hildegard nicht lange um Erlaubnis gefragt. Selbstbestimmt und von ihrem Sendungsauftrag überzeugt hat sie sich mehrfach auf den Weg quer durch Deutschland gemacht, um Menschen aufzurütteln, zu trösten, zu mahnen und ihnen Gottes Verheißungen kundzutun – und das auch noch mit über 60 Jahren! Sie ist ihrer inneren Stimme gefolgt und nahm die Bürden mittelalterlichen Reisens bereitwillig auf sich.
Das Bild der Linden im abendlichen Licht fasziniert mich immer noch und lässt Freude und Glück in mir aufkommen. Die Bäume haben erst in den letzten Wochen ihre Blätter und Triebe bekommen – die Natur ist förmlich explodiert. Was für ein Licht- und Naturspektakel! Geistkraft Gottes, Ruach, Lebensfrische, Viriditas …
Aus meiner Begeisterung für Hildegard von Bingen heraus wünsche ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, dass auch Sie aus dem reichen Erfahrungsschatz der vielseitigen Prophetin schöpfen können.
Ursula Klammer