Читать книгу Hildegard von Bingen - Ursula Klammer - Страница 8
Das 12. Jahrhundert: Umbruch und Aufbruch
ОглавлениеHildegard von Bingen (1098–1179) wurde in die bewegte Zeit des Hochmittelalters hineingeboren. Diese Epoche wird heute übereinstimmend zwischen 1000 und 1250 festgelegt. Als Hildegard das Licht der Welt erblickte, lag die folgenreiche Spaltung der Christenheit in eine römische Westkirche und eine Ostkirche unter der Führung von Byzanz (1054) gerade einmal 40 Jahre zurück.
Sehr oft wird das Mittelalter vorschnell als eine eher dunkle, düstere Zeit zwischen der Antike und der Neuzeit eingestuft, die u. a. von Kriegen, allen voran den Kreuzzügen, der Pest sowie von misslichen Lebensumständen – beispielsweise Unfreiheit und Unterdrückung großer Bevölkerungsschichten – geprägt ist. Wenn man die annähernd 1000 Jahre des Mittelalters zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert auf europäischem Boden allerdings etwas differenzierter betrachtet, dann zeichnet sich durchaus auch eine hellere Seite ab, die mit wegweisenden Entwicklungen in Zusammenhang gebracht werden kann: Die ersten Universitäten wurden gegründet, Städte entstanden bzw. erblühten und der Handel sowie das Handwerk erfuhren einen enormen Aufstieg.
Das im Mittelalter vorherrschende Ständesystem wies jedem und jeder seinen bzw. ihren festgelegten Platz in der Gesellschaft zu. Diese feste Gesellschaftsordnung galt als von Gott gegeben und daher in der Regel als unveränderlich. An der Spitze regierten auf der einen Seite der Kaiser oder ein König, auf der anderen der Papst. Die Vertreter der Kirche bildeten den ersten Stand. Dazu gehörten neben dem Papst Bischöfe, Äbte, Priester, der so genannte niedere Klerus sowie eine große Vielfalt an Mönchen und Nonnen. Sie hatten für das Seelenheil der Bevölkerung Sorge zu tragen.
Der zweite Stand umfasste den Adel, also beispielsweise Herzöge, Grafen, Barone, Fürsten sowie Ritter. Diese gesellschaftliche Schicht war für die Sicherheit der Bevölkerung zuständig, besonders auch für die Verteidigung von Land und Leuten im Kriegsfall. Die Ritter gewannen mit der Kriegsführung zu Pferd (ca. ab dem 9. Jh.) an Bedeutung und als Zeichen ihrer Wichtigkeit für ihren Herren bekamen sie beachtliche Privilegien zuerkannt. Im 12. Jahrhundert erlebte das Rittertum seine Blütezeit. Schon ca. 200 Jahre später verloren die höfischen Ritter durch das Aufkommen von Söldnerheeren und den Einsatz neuer Waffen an Bedeutung. Ihr gesellschaftlicher Abstieg folgte.
Der dritte Stand bestand aus Bauern und Bürgern. Diese machten ungefähr 90 Prozent der mittelalterlichen Bevölkerung aus. Unter ihnen herrschten große Unterschiede hinsichtlich der Vermögensverteilung. Die so genannten freien Bauern besaßen ein eigenes Stück Land, das sie bewirtschaften konnten. Der größere Teil der bäuerlichen Bevölkerung aber war besitzlos und ohne eigene Rechte, also unfrei. Man nannte sie Leibeigene und sie wurden von ihren Gutsherren häufig ausgebeutet. Als Gegenleistung für das ihnen zur Verfügung gestellte Stück Land zahlten sie relativ hohe Abgaben oder leisteten Frondienste. Sie zogen für ihren Herrn in den Krieg und waren ihm meist ein Leben lang zu Gehorsam verpflichtet. Im Gegenzug verpflichtete sich der Gutsherr, seinen Untergebenen „Schirm und Schutz“ zu bieten.
Die Masse der bäuerlichen Bevölkerung führte ein karges, von Hunger bedrohtes Leben. Die Menschen hausten zumeist in engen und düsteren Hütten. Heizmaterial war vielfach knapp, und unzureichende hygienische Bedingungen gefährdeten die Gesundheit der ärmlichen Bevölkerung. Die weit verstreuten Weiler bzw. Ortschaften waren größtenteils nur durch schlechte Straßen oder Wege miteinander verbunden.
Wanderprediger lehrten öffentlich auf Straßen und Plätzen. Häufig in Lumpen gehüllt, streiften sie mit ihren Gefährten umher und erbettelten sich ihren Lebensunterhalt. Auf den Straßen begegnete man arbeitslosen Handwerkern, verarmten Vagabunden und nicht selten Aussätzigen. Gewalt und Brutalität waren Folgeerscheinungen der ungerechten Vermögensverhältnisse und der oft aussichtslosen Perspektiven vieler Tagelöhner.
Mit zunehmendem Aufstieg der Städte im 12. Jahrhundert zogen immer mehr Menschen vom Land in die Stadt. Auch so genannte Unfreie versuchten ihren elenden Arbeits- und Lebensbedingungen zu entfliehen. Wenn sie von ihrem Herrn nicht innerhalb eines Jahres zurückbeordert wurden, gelang es ihnen sogar, frei zu werden. In den Städten entstanden nach und nach Märkte, die sich mancherorts bald zu beachtlichen Wirtschaftszentren entwickelten. Handwerk und Handel erfuhren eine Blütezeit, manche Bürger wurden mächtiger und reicher als viele Adelige.