Читать книгу Hildegard von Bingen - Ursula Klammer - Страница 7

Einleitung

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Die Arbeit an diesem Buch fällt in die Zeit der SARS-CoV-2-Pandemie, die – auf den ersten Blick – wie aus heiterem Himmel über die Menschheit hereingebrochen ist. Viele Menschen kämpften förmlich ums nackte Überleben – nicht nur in gesundheitlicher, sondern auch in wirtschaftlicher oder psychosozialer Hinsicht.

Bei vielen Menschen hat die Pandemie Verunsicherung, Trauer und Ängste ausgelöst und es sind neben den Seniorinnen und Senioren vor allem auch Kinder und Jugendliche, die unter den sozialen und psychischen Folgen der Epidemie leiden – u. a. durch die Reduktion bzw. den Wegfall von Kontakten, gewohnter Struktur und körperlicher Nähe.

In dieser Belastungsprobe und Verunsicherung werden – abgesehen von den notwendigen Maßnahmen zur bestmöglichen Alltagsbewältigung – nicht selten existentielle Fragen gestellt, bewusst oder unbewusst. Nach dem Woher und Wohin unseres Lebens, nach Sinn und Orientierung. Befriedigende Antworten und Lösungen wollen gefunden werden und darüber hinaus sinnstiftende Bezüge, um uns in dieser zuweilen als bedrohlich erlebten Welt zurechtzufinden. In einer Krise oder angesichts von Krankheit und Leid wird der Mensch in einem besonderen Maß mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert. Die Werteordnung, die bisher Halt und Orientierung gegeben hat, gerät möglicherweise ins Wanken. Unweigerlich stellt sich die Frage nach dem Sinn von Leiden.

In Zeiten großer Umbrüche und notwendig gewordener Neuausrichtung interessieren sich viele Menschen für Vorbilder, für Biographien beeindruckender, eventuell auch erfolgreicher Frauen und Männer und – damit verbunden – für überzeugende und ansprechende Lebensmodelle. Eine herausragende und schillernde Persönlichkeit, die uns in unserer schwierigen und herausfordernden Zeit richtungsweisende Antworten geben kann, ist die mittelalterliche Äbtissin Hildegard von Bingen mit ihrem ganzheitlichen Blick auf Körper, Geist und Seele.

Wer ist diese erst kürzlich heiliggesprochene Benediktinerin, die mit ihren praxisnahen Lebenskonzepten, mit ihren Schriften und Bildern, ihrer Musik und ihrem offensichtlich unvergänglichen Charme die Bühne unserer Welt von Neuem betreten hat? Welche Verdienste werden ihr zugeschrieben, dass sie Papst Benedikt XVI. am 7. Oktober 2012 zur Kirchenlehrerin erhoben hat? Worin liegt die Besonderheit dieser bis heute unvergessenen Mystikerin und Prophetin des Hochmittelalters?

Das vorliegende Buch will das außergewöhnliche Leben der Hildegard von Bingen und ihr umfangreiches literarisches Erbe kompakt und übersichtlich darstellen, vor allem aber ihre universal gültigen und heute so aktuellen Botschaften für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, herausarbeiten. Dabei scheint es mir ein nahezu „menschen-unmögliches“ Unterfangen zu sein, die unerschöpfliche Fülle von Hildegards Gesamtwerk und ihr geistig-spirituelles Erbe in einem Buch von bescheidenem Umfang auch nur annähernd authentisch beschreiben zu können bzw. gebührend zu würdigen.

Hildegard hat mit ihrer Botschaft und all dem, was sie auszeichnet, viele Herzen erobert. Zu Recht kann man in den letzten vier Jahrzehnten von einer Hildegard-Renaissance sprechen. Ob Literatur, Kunst, Musik, Kochkurse, Kräutergärten, Wellness-Angebote …, eine unüberschaubare Fülle an Bezügen zur historischen Person Hildegard von Bingen! Die hochbegabte Äbtissin aus vergangenen Tagen scheint den Nerv unserer Zeit zu treffen. Was ist es, das uns heute empfänglicher denn je macht, einer Prophetin des Hochmittelalters unser Ohr zu leihen? Was sind die Gründe, dass sich so viele Frauen und auch Männer unserer Tage für Hildegards visionäre Berichte und ihre außerordentlichen Lebensumstände interessieren? Was treibt viele Menschen an, mittelalterliche Rezepte bzw. unkonventionelle heilkundliche Anweisungen auszuprobieren? Und ihre einzigartige Musik – was löst sie in uns aus?

Jedes Jahrhundert hat seine besonderen Herausforderungen zu bewältigen, aber im Letzten geht es immer um ähnliche Grundanliegen: Der Mensch sucht nach Möglichkeiten und Perspektiven sinnerfüllter und geglückter Lebensgestaltung. In ihren theologischen und lebenskundlichen Schriften geht die Mystikerin über einen rein privaten Erlösungsgedanken hinaus: Sie plädiert für eine beherzte und engagierte Hinwendung zur Natur, unserer Um- und Mitwelt. Wenn ein Mensch seine Verantwortung anderen und der Schöpfung gegenüber ernst nimmt und seine (religiöse) Bestimmung erkennt, kann er schon im Hier und Jetzt ansatzweise Heil erfahren. „Die ganze Schöpfung steht dem Menschen zur Verfügung“, wird Hildegard nicht müde zu verkünden.

Die mittelalterliche Benediktinerin schaut und beschreibt die großen Zusammenhänge, die uns heute weitgehend verloren gegangen sind. Die Corona-Pandemie hat sie uns in neuer Deutlichkeit vor Augen gestellt. Ein schnelles Ausprobieren von ganzheitlichen Entwürfen kann jedoch nicht weiterhelfen, wenn das zugrunde liegende Gesamtkonzept in seiner spirituellen Ausrichtung vernachlässigt bzw. übergangen wird. Geht es um tiefgreifende Erfahrungen und Lebensthemen sowie um eventuell notwendige Korrekturen von Einstellungen oder Verhaltensweisen, bleibt uns ein längerer, unter Umständen mühsamer Weg nicht erspart.

Das Ineinandergreifen von Körper, Geist und Seele, von Mensch und Schöpfung, wie es Hildegard beschreibt, lässt uns an so manche „Baustelle“ auf unserem Planeten denken, beispielsweise an die vielseitigen und dramatischen Auswirkungen der fortschreitenden Klimaerwärmung auf diverse Ökosysteme. So werden u. a. die globalen Windsysteme bzw. die weltweiten Meeresströmungen nachweislich durcheinandergebracht. Jahrzehntelange Überdüngung und Überfischung sowie die Rodung riesiger Waldflächen wirken sich verheerend auf das ökologische Gleichgewicht auf der Erde bzw. in den Weltmeeren aus. Menschliches Eingreifen in sensible Kreisläufe der Natur zeitigt schwerwiegende Folgen für Fauna und Flora, ja für den gesamten Planeten und nicht zuletzt für den Menschen selbst.

Die globale Klimaerwärmung sowie die ungerechte Verteilung von Gütern sind mitverantwortlich für Hungerkatastrophen in klimatisch und wirtschaftlich benachteiligten Ländern. Kriegerische Auseinandersetzungen bedrohen das Leben tausender Menschen und lösen in vielen Ländern Fluchtbewegungen (Migration) aus. Doch nicht nur in fernen Ländern, auch in Europa stellt sich die Frage, in welcher Weise Grundbedürfnisse wie Sicherheit, angemessene Ernährung, Kleidung, Wohnmöglichkeit sowie medizinische bzw. psychologische Hilfe gewährleistet werden. Auch der grundsätzliche Schutz des Lebens ist und bleibt ein fundamentales und brandaktuelles Thema, gerade auch in der Rechtsprechung. Durch die gigantischen Möglichkeiten und Fortschritte moderner Technik – beispielsweise in der medizinisch unterstützten Fortpflanzungsbiologie – wird die Menschheit zunehmend mit ethischen Grenzfragen konfrontiert, die sich u. a. auf den Gebieten der Präimplantationsdiagnostik, des Klonens, der Stammzellenforschung oder der Organtransplantation auftun.

Bei diesen facettenreichen und zum Teil emotionsgeladenen Themen und Debatten sollte immer der konkrete Mensch mit seinen existentiellen Bedürfnissen und seiner unantastbaren Würde im Mittelpunkt stehen. Hildegard von Bingen propagiert in ihren Schriften und visionären Bildern einen anthropozentrischen Ansatz: Der Mensch steht im Zentrum der Schöpfung, ja des gesamten Kosmos. Mit diesem ist er auf vielfältige Weise untrennbar verbunden.

Diese Interdependenz gilt es neu zu entdecken. Gerade auf dem Gebiet der Heilkunde sind schon seit Längerem Bestrebungen im Gang, unsere hochspezialisierte, überwiegend wissenschaftlich orientierte Medizin durch naturheilkundliche bzw. komplementärmedizinische Verfahren zu ergänzen. Im Unterschied zu einer rein mechanischen oder medikamentösen (Symptom-)Behandlung berücksichtigt eine ganzheitlich orientierte Krankenvorsorge bzw. Betreuung auch die sozialen sowie geistig-religiösen Bedürfnisse des Menschen. Hildegard von Bingen hat schon im 12. Jahrhundert auf die unauflösbare Einheit von Leib und Seele hingewiesen. Sie baut ihre ganze Lehre vom Menschen, von Welt und Kosmos auf einer – modern ausgedrückt – psychosomatisch orientierten Anthropologie und Heilkunde auf. In ihrer bildreichen, naturnahen Sprache weist Hildegard immer wieder auf das schöpferische, wohlwollende Zusammenwirken von Körper, Geist und Seele hin. „Die Seele ist für den Körper, was der Saft für den Baum ist“, lässt Hildegard in ihren theologisch-philosophischen Schriften anklingen.

Da die visionär und mystisch begabte Nonne immer wieder mit persönlichen Krisen konfrontiert war – u. a. aufgrund von schweren Krankheitsschüben, Konflikten mit Klerikern und kirchlichen Behörden oder aufgrund einer äußerst schmerzlichen Trennung im privaten bzw. klösterlichen Umfeld –, vermag sie aus eigener Erfahrung und Betroffenheit heraus nützliche Antworten auf tiefgründige Lebensfragen zu geben. Hildegards Schriften enthalten zeitlos gültige Wahrheiten und Hinweise, wie die Menschheit die großen Herausforderungen erfolgreich bewältigen kann. Das Einüben neuer Lebenshaltungen gelingt ihrer Meinung nach am besten in Freiheit und mit Geduld. Sich dabei selbst zu überfordern, sei kontraproduktiv, hält die spirituell erfahrene Äbtissin fest.

Hildegards beeindruckendes Lebenszeugnis und ihre geistreichen, inspirierenden Schriften sind eine unerschöpfliche Quelle für all jene, die nach einem erfüllten und authentischen Leben suchen.

Hildegard von Bingen

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