Читать книгу "Erlesene" Zeitgenossenschaft - Ursula Reinhold - Страница 10

Rückblicke

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Merkwürdig ist, dass meine Erinnerung an die Gesprächssituation mit dem, was schwarz auf weiß als Interview überliefert ist, nicht recht zusammengeht. Das wird mir bei der neuerlichen Lektüre bewusst, und ich frage mich, woran das liegt. Wahrscheinlich, vermute ich, hängt es damit zusammen, dass mir im Gedächtnis vielerlei wach wird, wenn ich den Namen Hans Magnus Enzensberger aufrufe. Alles, was ich die Jahre danach von und über ihn gelesen habe, ist in meine Vorstellung eingegangen.

Hans Magnus Enzensberger war damals ein wichtiger Protagonist des linken Zeitgeistes. Als kritischer Beobachter und Zeitzeuge hat er Studentenbewegung und außerparlamentarische Opposition mitgetragen und kritisch begleitet. Er trat mit programmatischen Thesen hervor, brachte als Publizist internationale Erfahrungen ein, beteiligte sich an direkten Protesten, besuchte Sit-ins, sprach auf ihnen und anderen Kundgebungen. Politische Aktionen nahm er als Feld neuer gesellschaftlicher Erfahrung wahr, als eine Möglichkeit, Praxis kennenzulernen. Zugleich trat er als deren Kritiker hervor, analysierte und begleitete Programme und Aktionsformen mit prüfenden Randglossen. Dabei blieb er ein Dichter, der politischen Bewegungen nur so weit verpflichtet blieb, wie es die Widersprüche, auch die eigenen zuließen. Seine literarische Produktivität, die sich vor allem an den öffentlichen Angelegenheiten entzündet, entsteht aus den widerspruchsvollen Reibungsflächen der wirklichen Bewegungen. Es sind vielgliedrige Arbeitsfelder, auf denen sich der Dichter bis heute bewegt. Neben der Lyrik sind es Essays zu weitgespannten, sehr verschiedenen gesellschaftlichen Themen, von der Rolle der Bewusstseinsindustrie bis zu den großen Flucht-und Wanderungsbewegungen infolge von Krieg und Bürgerkriegsereignissen in den neunziger Jahren. Dazu kommen Einsprüche zu innen- und außenpolitisches Vorgängen, Hörspiele, Stücke, dokumentarische Biografien und nicht zuletzt die Selbstauskünfte zu verschiedenen Zeiten, die mein heutiges Bild bestimmen.

Im Zentrum meines damaligen Interesses standen neben dem „Verhör von Habana“ das poetische Werk, wie es in „Die Verteidigung der Wölfe“, „Landessprache“ und „Blindenschrift“ vorlag. Dennoch bildet nicht das Gedichte schreiben und die Lyrik den Gegenstand des Gesprächs, sondern die Fragen beziehen sich hauptsächlich auf politische Erfahrungen und Ansichten zur Situation in der Bundesrepublik. Begriff und Umgangsweise mit der Kulturindustrie und den Medien werden im Hinblick auf die Herausbildung eines alternativen Bewusstseins erörtert. Auch Nachfragen zur Funktion der Literatur bewegen sich innerhalb des Diskussionszusammenhangs, wie er damals in der BRD bestand. Dieser rein politische Zuschnitt des gedruckten Gesprächs ist es, der mich überrascht und erstaunt, weil ich es so nicht in Erinnerung habe.

Die Welt von 1970 war eine gänzlich andere als die heutige. Die Aufbruchsstimmung, die sich in unserem Gespräch spiegelt, gründete nicht nur in den Illusionen der Zeitgenossen. Sie hing auch damit zusammen, dass sich mit der Systemkonfrontation nicht nur beide Machtblöcke hochgerüstet gegenüberstanden, sondern sich auch gegenseitig herausforderten und in Schach hielten. Ob dem sozialistischen System zu diesem Zeitpunkt noch tatsächlich alternatives Potenzial zu eigen war, ist im Nachhinein kaum zu entscheiden. Auf jeden Fall erscheint es mir naheliegend, dass seine Existenz für die andere Seite noch als Herausforderung wirkte. Es bildete für die imperialistischen Staaten eine ständige Drohkulisse, vor der die herrschenden Sachwalter handeln mussten. Die DDR saß gewissermaßen mit am Verhandlungstisch der Tarifpartner, was nicht nur der Herausbildung des Sozialstaatssystems in der Bundesrepublik positive Impulse gab. Mit den Veränderungen des gesellschaftlichen Systems in den sechziger Jahren bekam die Sozialdemokratie ihre Chance. Sie eröffnete mit ihrer moderateren Anerkennungspolitik neue Wege, nahm aber auch Impulse der inneren Opposition auf und setzte sie in eine die innere Verfasstheit erneuernde Politik um. Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen“ bringt das auf eine Formel, die nicht nur Veränderungen im öffentlichen Klima anzeigte, sondern auch eine veränderte Stellung der Bürger zum Staat. Sie fand Niederschlag in den Bürgerinitiativen, die sich in den siebziger und Achtzigerjahren in Aktionen gegen den Bau von Atomkraftwerken und neuen Landebahnen, bei Hausbesetzungen und anderen Formen konkreten Engagements formierten. Auch in den Protestformen der Frauenbewegung und später in der Friedensbewegung gegen die Raketennachrüstung zeigten sich solche Formen von realisiertem Einspruch. Hier wurde eine staatsbürgerschaftliche Aktionsform praktiziert, die manches durchsetzen half, die zum Teil bis heute nachwirkt und auch gegenwärtig noch nicht ganz verschwunden ist.

Und nun zu unserem Gespräch: Bemerkenswert beim Wiederlesen ist für mich, dass Enzensberger ganz und gar unprovokativ auf Fragen eingeht, hinter denen sich andere Sichtweisen verbargen. Entgegen seiner sonstigen polemischen Haltung ist er gar nicht auf Konfrontation aus, erörtert eigene Illusionen, die er verabschiedet hat, und unterlässt es, zu widersprechen, obwohl ihn wahrscheinlich manches zum Widerspruch gereizt haben muss. Er ignoriert die siegesgewisse Überlegenheitsattitüde, die in manchen Fragen anklingt, lässt sie unerörtert unter den Tisch fallen. Es wird sich schon zeigen, wer sich vor der Wirklichkeit blamiert, wird er sich gedacht haben.

Beim Lesen steigt mir der Verdacht auf, dass wir vielleicht einiges von seinen Äußerungen aus der gedruckten Fassung getilgt haben, denn ich habe nur eine unbestimmte Erinnerung an das Prozedere der Herstellung. Aber da hätte er sicherlich widersprochen, denke ich. Und es passte auch eigentlich nicht zu unserem Stil. Dazu passte allerdings, dass wir polemische Beiträge organisierten, die wir im Heft neben das gedruckte Gespräch stellten. Diese Artikel folgten allesamt der Prämisse, dass die Wahrheit über gesellschaftliche Verhältnisse bei der Arbeiterklasse und natürlich ihrer führenden Partei zu suchen sei. Sie belegen ihrerseits, wie sehr Enzensbergers Vorstellungen von der Rolle herrschenden Bewusstseins auf die Verhältnisse in der DDR zutrafen. Diese Besserwisserei vom Standpunkt unbeirrbarer Gewissheiten, die sich in diesen Beiträgen findet, verursacht mir beim Wiederlesen peinliche Gefühle. Ich bemerke, dass ich an diesem Punkt meiner Beschreibungen jetzt lieber ins Wir ausweichen möchte. Es ist so gesellig, und man kann sich darin besser verbergen, aber es entlastet mich nicht. Denn ich habe die Sache organisiert, wenn auch im Auftrag, mit dem ich mich damals aber in Übereinstimmung wähnte. Da muss ich es aushalten, wie es ist.

Enzensberger war offensichtlich an einem einvernehmlichen Gespräch interessiert. Er war in guter, dankbarer Stimmung über die Aufführung seines Dokumentarstückes „Das Verhör von Habana“. Er verglich sie mit denen, die es in Westdeutschland gegeben hatte und war angetan von der den gesellschaftlichen Kern freilegenden Inszenierung, die als eine wirkliche Ensembleleistung im Deutschen Theater zu sehen war. Er sah sich mit dem Szenarium dieses Stückes in der Rolle des Geburtshelfers. „Das Verhör von Habana“ stand am Beginn einer Reihe von Arbeiten, bei denen er auf unterschiedliche Weise mit dokumentarischem Material arbeitete. Im Umgang mit Zeugnissen geschichtlicher Ereignisse eröffnete er sich eine Möglichkeit, historisch-politische Vorgänge literarisch zu verarbeiten, sie für den Gebrauch in der Gegenwart anschaubar werden zu lassen. Gegenüber den lyrischen und essayistischen Formen, in denen Subjektivität den Zugriff bestimmt, bot das szenische Geschehen die Möglichkeit, die sozialen Grundlagen individueller Handlungs- und Denkmuster im geschichtlichen Geschehnis darzustellen. Für sein Dokumentarstück nutzte Enzensberger das Protokoll eines öffentlichen Tribunals, auf dem 1962 die kubanischen Revolutionäre die geschlagenen Invasoren über ihre Motive befragten. Die von den USA ausgehaltenen Konterrevolutionäre waren ein Jahr zuvor in der Schweinebucht gelandet, um die Insel militärisch aufzurollen. Sie waren von den USA ausgerüstet worden und gaben vor, den Kubanern die Freiheit zu bringen. Das öffentliche Tribunal wurde zu einer Veranstaltung, die für das Selbstbewusstsein der kubanischen Revolution eine große Bedeutung bekam, es wurde ein Vorgang von geschichtlicher Tragweite, ein historischer Glücksfall, den Enzensberger mit dem Material des Protokolls aufgriff. Er hat aus dem Material Verhöre ausgewählt, übersetzt und sie so angeordnet, dass sich im Fortgang der Verhöre nach und nach die wirklichen Motive der Invasoren enthüllten. Es wird deutlich, was sich hinter den Formeln über freie Wahlen, über Meinungsfreiheit und Marktwirtschaft an tatsächlichen ökonomischen und sozialen Interessen verbirgt. So enthüllt der Autor die wirklichen Interessen, die hinter den euphemistischen Formeln stecken, es kommen die wahren Motive für Interessen zum Vorschein, die sich hinter einem Wust von Ideologismen und Idealismen verbergen. Ihr Gebrauch ist interessegeleitet, entspringt mehr oder weniger bewusster Täuschung bzw. Selbsttäuschung. Im szenischen Vorgang, im Hin und Her des Befragens werden Strukturen falschen Bewusstseins offengelegt, die ihre Wirkungskraft zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen bis heute behalten haben.

Im Gespräch hält der Autor an der Einsicht fest, dass sich jeder Herrschaftsanspruch mit falschem Bewusstsein zu legitimieren sucht. Auf die von mir bemühte Formel von den Arbeiterinteressen in den Gesellschaften des realen Sozialismus geht er nicht ein, lässt das Gesagte einfach stehen, ignoriert es. Er muss sich gedacht haben, dass auch mir irgendwann einmal die Strukturen eigenen falschen Bewusstseins auffallen werden. Aber das dauerte noch eine Zeit lang, damals brachte ich die Vorstellung von falschem Bewusstsein nur mit der imperialistischen Klassengesellschaft in Verbindung. Eine solche Kategorie auf das eigene Denken anzuwenden, lag mir ganz fern, erst spät wurde mir bewusst, dass ideologische Floskeln vor allem Ordnung auf Kosten von Weiterdenken erzeugen, um eine Formel aufzugreifen, die von Friedrich Dürrenmatt stammt.

Erst einige Zeit nach dem Gespräch las ich Enzensbergers Analyse über den Zustand der Kommunistischen Partei Kubas, eine Arbeit, die zeitnah zu dem Dokumentarstück entstanden war. Er analysiert und beschreibt hier den Widerspruch zwischen Führungsanspruch und Dogmatismus, verweist auf Bürokratisierung, mangelnde Demokratie und Privilegienwirtschaft und übt so eine durchaus verallgemeinerbare Kritik an der Führungsdoktrin staatstragender kommunistischer Parteien auch anderer Staaten. Als ich das las, fiel mir natürlich auf, dass vieles vom Gesagten auch auf meine eigene Partei, die SED, zutraf. Aber damit stieß ich auf eine Problematik, über die weder in der DDR noch in einem anderen sozialistischen Staat öffentlich geredet werden konnte. Allenfalls im kleinen Kreis wurden Fragen des Führungsanspruchs der Partei angesprochen, ihr Verhältnis zu den Massen diskutiert. Die Legitimation für den Führungsanspruch der SED und ihrer Spitze blieb so ungeprüft, bis das Volk entschieden die Gefolgschaft aufkündigte.

Solche Fragen berührte ich in meinem Beitrag „Literatur und Politik bei Hans Magnus Enzensberger“ nicht. Hier ging es mir um den politischen Charakter seiner Arbeiten, um das Verhältnis von politischem Engagement und poetischem Schaffen in seiner Entwicklung. Denn eine enge Beziehung zwischen den beiden Sphären war und ist für einen Autor wie Hans Magnus Enzensberger konstitutiv. Seit Beginn seiner literarischen Arbeit in der Mitte der Fünfzigerjahre richtet er sein Interesse auf öffentliche Belange, finden Zeitklima und mentale Befindlichkeit im geschichtlichen Augenblick Eingang in Gedichte und Essays. Mit ihnen wurde er Zeuge, Mitgestalter, Anwalt und Kritiker der politischen und literarischen Entwicklung in der Bundesrepublik. Als Dichter, Publizist, Essayist, Übersetzer, Herausgeber und vielseitiger Medienarbeiter hat er sich von Beginn an gegen die dominierende Literaturdoktrin des frühen Adenauer-Staates gewandt, die sich auf Autonomie und Politikferne zurückzog. Der von Gottfried Benn verkündete selbstbezügliche Formalismus war seine Sache nicht, ihn provozierte das Restaurationsklima der frühen Jahre zu vehementem Widerspruch. Literatur und Politik bildeten einen widerspruchsvollen Zusammenhang, in dem er sich als politischer Dichter verstand. Daraus folgten seine poetischen und publizistischen Einsprüche, mit denen er sich aufklärerischem Denken verpflichtete. Mit medienkritischen Analysen, in dem Band „Einzelheiten“ zusammengefasst, begründet er seine grundlegend kritische Haltung gegenüber der manipulierenden Funktion der Bewusstseinsindustrie, untersucht Zusammenhänge von „Politik und Verbrechen“ und stellt seine grundlegenden Vorstellungen über den Zusammenhang von „Poesie und Politik“ vor. Mit der Herausgabe von G. Büchners und L. Weidigs „Der hessische Landbote“ hat er revolutionäre Traditionen wieder ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Engagement wurde zu einer wesentlichen Konstituante seines literarischen Selbstverständnisses, was nichts anderes hieß, als dass er sich der öffentlichen Rolle, in die er geriet, bewusst zu werden suchte, um sie verantwortungsvoll wahrzunehmen. Zu den geistigen Vätern solchen Engagements gehörte Jean Paul Sartre, der seine Vorstellungen von littérature engagée in der Résistance entwickelt hatte und dessen Auffassungen für viele aus der Generation junger Schriftsteller, die nach dem Krieg in Westdeutschland zu schreiben begannen, wesentlich wurden. Sartre spezifizierte später seine Ansicht für die Bedingungen des bürgerlichen Literaturbetriebs und grenzte sie dabei gegen den Parteilichkeitsbegriff kommunistischer Schriftsteller ab. Moralische Integrität, selbstverantwortete Unabhängigkeit im Denken, parteipolitische Abstinenz sah er als Voraussetzungen für eine belangvolle öffentliche Mitsprache.

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war Enzensberger ein Protagonist des linken Zeitgeistes, der damals, im Unterschied zu heute, die öffentliche Meinungsbildung mitbestimmte. Dabei ist unserem Gesprächspartner durchaus bewusst gewesen, dass die demokratische Bewegung keine Massen von Menschen erreichte. Dennoch hielt er den Grad gesellschaftlicher Gärung für beträchtlich und sah in diesem Kontext auch die Rolle von Intellektuellen, die mit ihren speziellen Fähigkeiten und Wirkungsmöglichkeiten daran teilnehmen sollten. In der geistigen Potenz linker, unabhängig denkender Intellektueller vermutete er eine Quelle für die Herausbildung alternativen Bewusstseins, erhoffte von ihrem Wirken die Unterwanderung der bestehenden Medienmacht. Dabei ging er davon aus, dass die bürgerlichen Medien auf die Mitarbeit von Trägern kultureller und geistiger Produktivität angewiesen blieben. Aussichten und Möglichkeiten, die herrschende Medienmacht zu brechen, spielten in seinen damaligen Überlegungen eine wichtige Rolle. Seine analytischen Essays zur Bewusstseinsindustrie lagen seit zehn Jahren vor. Aus dem Befund von deren manipulierender Funktion folgte vor allem auch die Notwendigkeit für die Opposition, eigene, konzernunabhängige Publikationsorgane und Medien zu entwickeln. Auf ihre Herausbildung setzte Enzensberger damals viel Hoffnung. Mit dem „Kursbuch“ gab es seit 1965 ein solches unabhängiges Publikationsmittel, zum Zeitpunkt des Gesprächs hatte er die Bindung an den Suhrkamp Verlag aufgekündigt. Und darüber hinaus gab es in dieser Zeit ein ganzes Netzwerk alternativer und linker Produktionsmittel, vor allem im Verlagswesen. Dennoch blieb die Macht der konzertierten Medien bestehen, deren Möglichkeiten er für eigene Publikationen immer auch nutzte. Vorwürfen in dieser Frage begegnete er mit dem Hinweis, dass die „Berührungsangst mit der Scheiße“ ein Luxus sei, den sich ein Kanalisationsarbeiter nicht leisten könne. Es ist viel Zuversicht zu spüren, dass sich die vorhandenen Anfänge von Gegenöffentlichkeit weiter entwickeln und ausbauen lassen werden.

Zeugnis für die in meinem Kopf wirkende Schere ist, dass nur Themen zur Sprache kamen, auf die man Antworten erwarten konnte, deren Veröffentlichung, ohne Schwierigkeiten zu bekommen, in den „Weimarer Beiträgen“ möglich war. Damals war mir das allerdings nicht bewusst, es wird mir erst im Rückblick deutlich. Denn wie anders wäre zu erklären, dass Probleme von Mediengebrauch und Öffentlichkeit nur im Hinblick auf die andere Gesellschaft erörtert werden und jeder Bezug auf DDR-Realitäten unterbleibt. Als wäre in der Presselandschaft und im Verlagswesen, das auf der Existenz volkseigener Verlage beruhte, alles aufs Beste geregelt. Das war natürlich nicht so, wir alle kannten die komplizierten Prozeduren, die der Veröffentlichung neuer Bücher vorausgingen, sie mitunter auch verhinderten, wussten von der Existenz der ministeriellen Behörde, die für ein lästiges und langwieriges Genehmigungsverfahren zuständig war, und kannten die Folgen für Autoren. Das 11. Plenum vom Ende des Jahres 1965, das die Produktion mehrerer Jahre von Filmarbeit hatte sterben lassen, lag zwar schon einige Jahre zurück, aber auch aktuell gab es mehr oder weniger öffentliches Hin und Her um Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ u. a. Von alledem hörte und wusste ich, blieb aber unsicher im eigenen Urteil. Natürlich kannte ich Menschen, klügere als ich, bekannte Intellektuelle, die über all das besser Bescheid wussten. Sie wussten, was im inneren Zirkel des DDR-Kunst- und Literaturbetriebs vor sich ging, waren mit den verschiedenen Meinungen und Haltungen von Kulturfunktionären vertraut, weil sie in entsprechenden Gremien zugelassen waren, in denen über manches entschieden wurde. Sie nahmen Einfluss darauf und hatten sicherlich von ihrer Tätigkeit den Eindruck, dass sie das Verhältnis von Macht und Geist mitbestimmten, von dem auch ich annahm, dass es sich in der DDR weniger antagonistisch gestalten ließe als in dem Teil der Welt, die von Profitinteressen dominiert war. Zwar war nicht zu übersehen, dass es auch hier ein produktives Miteinander nicht gab. Es konnte noch nicht als gelungen betrachtet werden, denn noch scheiterte es am mangelnden Kunstverstand der Funktionäre, an den Rücksichten auf Politik und den Einsprüchen ihrer Sachwalter, so erlebte ich es. Aber man hoffte darauf, dass es sich irgendwann ändern ließe. Dass es sich hierbei um eine grundlegende Illusion handelte, wurde mir erst langsam bewusst, und ich denke, dass diejenigen, die durch ihre Funktionen und Tätigkeiten näher noch an den politischen Schaltstellen waren, diese Vorstellung bis 1990 hegten. Manchmal vielleicht noch über diesen Zeitpunkt hinaus.

Mein Verhältnis zu den Bedingungen in der DDR funktionierte so, dass ich mir angewöhnt hatte, die Disparitäten des herrschenden Ideologiegebäudes, dessen Versatzstücke auch mein Denken bestimmten, zu verdrängen. Unüberbrückbare Widersprüche, die sich auftaten, wurden mit Witzen garniert und so erträglicher gemacht. Wenn ich diese oder jene Entscheidung nicht verstand, sagte ich mir, dass mir der politische Überblick und Einblick fehle, um ein schlüssiges Urteil zu bilden. Im Übrigen hoffte ich, dass alles seinen guten Gang ginge. Schon die Entscheidung, meine Dissertation über westdeutsche Literatur zu schreiben, hing damit zusammen, dass ich das Gefühl hatte, hier besser unterscheiden zu können, was als richtig und was als falsch gelten konnte, und mich so auf Fragen zu konzentrieren, die mir lösbar erschienen. Die Maßgaben, nach denen die Politiker in der DDR die kulturelle Entwicklung zu beeinflussen und zu dirigieren suchten, erschienen mir dagegen rätselhaft, und ich traute mir nicht zu, sie zu durchschauen und ihnen Sinnhaftigkeit abzugewinnen. Auch die Literaturentwicklung und die Maßstäbe, nach denen sie in der Öffentlichkeit behandelt und wirksam wurde, stellten sich mir als unübersichtlich und voller Ungereimtheiten dar.

Die Beschäftigung mit dem sich politisierenden Literaturverständnis in der Bundesrepublik bildete für mich den Boden für einen universellen gesellschaftlichen Optimismus, der sich aus der Erfahrung des antifaschistischen Aufbaus in der DDR, aus Bildungschancen für mich und meinesgleichen, aus Lektüre und Beobachtung aktueller Vorgänge speiste. Ich fühlte mich als Teilhaber am großen Wissen um den Verlauf der Geschichte, deren objektive Gesetzmäßigkeiten wir zu kennen meinten. Das war so in etwa die ideologische Grundausstattung, mit der ich 1970 dem Autor gegenübersaß.

Wie meine Literaturauffassungen beschaffen waren, lässt sich an dem Beitrag über „Literatur und Politik bei Hans Magnus Enzensberger“ ablesen, der zusammen mit dem Gespräch im Heft 5/1971 gedruckt wurde. Immerhin verleugnet die Darstellung meine Begeisterung für den Lyriker nicht. Aber der optimistische Glaube, in der Hälfte der Welt zu leben, die für die Menschheit zukunftsweisend sein wird, verleitete mich dazu, so zu tun, als wäre ein produktives Miteinander der politischen und der literarischen Sphäre für die DDR-Gesellschaft der Normalfall. Dabei blieben Erfahrungen, die dem entgegenstanden, ausgeklammert bzw. wurden nur sehr verklausuliert angesprochen. Darin folgte ich Überlegungen von Volker Braun, der sich in seinem Beitrag über „Politik und Poesie“ zu einer eingreifenden, auf Veränderung der Gesellschaft gerichteten Programmatik von poetischer Arbeit bekannte. In Abgrenzung zu Enzensberger plädiert er für eine Haltung, die sich nicht in kritischer Abwehr erschöpft, sondern sich in die revolutionäre Veränderung der Verhältnisse stellt, die er sich von sozialistischer Gesellschaftlichkeit erhofft. „Poesie kann nicht nach einer folgenlosen Autonomie jagen, sie muss sich in den geschichtlichen Prozess stellen. Statt dem Druck der Herrschaft auszuweichen oder ihn zu billigen, muss sie für die Herrschaft der Massen kämpfen“, heißt es in seinem Beitrag aus dem Jahr 1971. Braun lässt Widerstände durchblicken, die damals sein täglich Brot ausmachten, bleibt aber dabei, mit seiner Dichtung am großen zukunftsweisenden Emanzipationsprojekt beteiligt zu sein, hofft auf ein einvernehmlich korrespondierendes Verhältnis zwischen Politik und Literatur. Lange noch blieb für ihn das Staatswesen seines Landes eine Projektionsfläche für utopische Entwürfe. Enzensberger bestand dagegen auf dem unabdingbaren Spannungsverhältnis von Literatur und Politik. Literatur könne sich nicht positiv auf Politik beziehen, sondern nur beim Auflösen von Herrschaftsansprüchen eine Rolle spielen. Verse mit lyrischem Herrschaftslob schlügen fürs poetische Gedächtnis stets negativ zu Buche, konstatierte er, was er an Beispielen von Walter von der Vogelweide bis zu Johannes R. Becher und Stephan Hermlin zeigte. Aber diesem Gedankenzug folgte ich nicht, obwohl mir solche Sachverhalte durchaus geläufig waren. Mein Hauptinteresse bezog sich auf die Wandlungen im Umgang mit dem Politischen im Werke von Enzensberger, auf die Felder politischer Gegenstände, die er behandelte und die er sich als praktisches Wirkungsfeld eröffnet hatte.

Fragestellungen, die nicht in die ideologischen Muster passten, wurden ignoriert. War es Feigheit, war es Unwissen oder Unwille? Schwer auszumachen von heute her. Aber wahrscheinlich schwante mir schon, dass mich die Behandlung bestimmter Problematiken in Teufels Küche bringen würde. Vielleicht wollte ich fest in meinem Glauben bleiben.

Ja, es ist nicht angenehm, sich in dieser Weise mit eigenen Illusionen konfrontiert zu sehen. Es schmerzt! Aber es ist heilsam.



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