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Eine Literaturgeschichte und ihre Autoren
ОглавлениеEinen wichtigen Erkenntnisschritt in Bezug auf die Komplexität und die Geschichte des literarischen Prozesses seit dem 2. Weltkrieg brachte mir die Teilnahme an der Erarbeitung des Bandes, der sich mit der Geschichte der BRD-Literatur befasste. Er galt als Band 12 der „Geschichte der Deutschen Literatur“ und erschien im Jahr 1983 im Verlag Volk und Wissen. Bei seinem Erscheinen lag eine ziemlich lange Entstehungszeit hinter den Autoren und den Verlagsverantwortlichen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die zehn Bände des Großprojekts zur „Geschichte der Deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart“ veröffentlicht, die parallel zu einer allgemeinen Darstellung der „Geschichte des deutschen Volkes“ geplant worden waren. Die Konzeption für die Erarbeitung einer deutschen Literaturgeschichte durch DDR-Wissenschaftler ging bis in die sechziger Jahre zurück. 1964 veröffentlichte die Redaktion der „Weimarer Beiträge“ eine „Skizze zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur“, in der eine Arbeitsgruppe erste konzeptionelle Überlegungen für eine Gesamtdarstellung vorstellte. Fragen nach der Herausbildung von Realismus und Humanismus, nach dem Charakter von Menschenbildern konstituierten auch hier die theoretischen Grundlinien für den literaturgeschichtlichen Überblick. In dieser Skizze ging man davon aus, dass auch die Phase der jüngsten deutschen Literaturentwicklung als ein einheitlicher Komplex zu behandeln sein würde. Für die Darstellung der Literaturentwicklung seit dem 2. Weltkrieg, wurde ein Band veranschlagt, der die in der DDR entstandene Literatur zusammen mit der humanistischen westdeutschen Literatur umfassen sollte. Diese Sicht entsprach der in den Fünfzigerjahren konzipierten nationalen Politik der DDR-Führung, die auf eine Einheit Deutschlands hinarbeitete. Inzwischen war allerdings eine politische Situation entstanden, in der sich deutlich abzeichnete, dass die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands sich immer stärker voneinander entfernte. Die Integration in zwei verschiedene Blocksysteme und nicht zuletzt die entschiedene Grenzziehung im August 1961 hatten Aussichten auf Annäherung und Vereinigung in weite Ferne gerückt. Den Parteiideologen in der DDR gelang es erst nach und nach, neue politisch konzeptionelle Begründungen und Perspektiventwürfe zu finden. Man begann den Begriff der Nation, auf den Kleinstaat DDR zu beziehen, der Terminus sozialistische Nation kam in Umlauf. Sie sollte als Keimzelle eines sozialistischen Gesamtdeutschlands gelten, deren Realisierung erst für eine ferne Zukunft anvisiert war. Das Konzept der nationalen Einheit wurde fürs erste begraben, man rechnete für lange Zeit mit der Realität zweier deutscher Staaten. Zwischen Abgrenzung und der Wahrnehmung besonderer Verantwortung bewegten sich in den folgenden Jahren die politischen und ideologischen Prämissen der DDR gegenüber dem anderen Deutschland.
In diesem Kontext veränderten sich auch die Voraussetzungen für die Erarbeitung einer Literaturgeschichte, besonders für den neuesten Zeitabschnitt. Die Literaturwissenschaftler und Historiker in der DDR waren es gewohnt, sich auf politische Kursänderungen einzulassen und deren Zäsurierungen und Fragestellungen auch im Hinblick auf die Literaturentwicklung zu prüfen. Man rückte nun von der Vorstellung ab, dass die Literatur des jüngsten Zeitabschnittes als ein zusammengehörender Prozess dargestellt werden müsste, und konzipierte eine geschichtliche Darstellung in zwei getrennten Verläufen. Sowohl die Literaturentwicklung in der DDR als auch die der Bundesrepublik sollte nun einen eigenständigen Band bekommen, Band 11 war der Literatur der DDR gewidmet, während sich Band 12 mit der Literatur der Bundesrepublik befasste. Der BRD-Band wurde auch als Sonderausgabe innerhalb der Literaturgeschichte ausgestattet. Naturgemäß veränderte diese Trennung auch die innere Konzeption und die Anlage der Bände. Vor allem die Darstellung der DDR-Literatur bekam eine völlig neue Ausrichtung, sie stand jetzt unter der Prämisse der Herausbildung einer sozialistischen Nationalliteratur. Diese Sicht bildete sich im Zusammenhang mit entsprechenden Bemühungen von Ideologen und Philosophen, die die DDR auf dem Wege zu einer sozialistischen Nation sehen wollten, als Keimzelle einer sozialistischen Gesamtnation, selbstverständlich. In welche Schwierigkeiten und Kalamitäten ein solches Konzept die Literaturhistoriker brachte, die es mit einem höchst widersprüchlichen Literaturprozess zu tun hatten, ist dem 1976 erschienenen Band 11 abzulesen. Der Redaktionsschluss ist mit Oktober 1974 angegeben, aber die Entstehungszeit des Textkorpus dürfte mindestens bis ins Jahr 1968 zurückreichen.
In diesem Zeitraum wurde auch der Band 12 neu konzipiert, die westdeutsche Literatur erschien innerhalb des Gesamtkonzepts nun gewissermaßen als Nebenarm der deutschen Nationalliteraturgeschichte.
Meiner Erinnerung nach bin ich 1977/78 zur Mitarbeitergruppe für Band 12 gestoßen. Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits Ausarbeitungen zu Autoren und ihren Büchern aus den Fünfzigerjahren, über Heinrich Böll, Paul Schallück, Hans Werner Richter u. a. lagen Textpassagen vor. Sie wurden mir übergeben, und es war von da an abgemacht, dass ich über die Epik der Sechziger- und Siebzigerjahre zu handeln hatte, später kam dann noch die Darstellung der Dramatik dieses Zeitraumes hinzu. Genauere Absprachen und Festlegungen zwischen dem Leiter unseres Kollektivs, Hans Joachim Bernhard (Rostock), und den Mitarbeitern, Eva-Maria Müller (Rostock), Klaus Pezold, Klaus Schumann (Leipzig), ergaben sich schnell, es entwickelte sich insgesamt eine gedeihliche Arbeitsatmosphäre. Obwohl ich erst später zu der Autorengruppe gestoßen war, hatten wir schnell eine produktive und kameradschaftliche Zusammenarbeit. Das blieb auch so, nachdem Lutz Volke hinzukam, der die Kapitel über die Geschichte des Hörspiels schrieb. Ich denke nicht ungern an diese Zeit.
Im einzelnen möchte ich den Diskussionsprozess um Konzeption und Anlage des Bandes nicht rekonstruieren. Dazu wären aufwendige Recherchen nötig, für die mir entsprechende Unterlagen gar nicht mehr zur Verfügung stehen und die mir hier auch überflüssig erscheinen. Für meine Entwicklung war diese Zusammenarbeit sehr wichtig, weil ich durch sie konkretere Vorstellungen über die Historizität und Komplexität von Literaturentwicklungen bekam. Heute weiß ich, dass man Literaturgeschichten auf sehr unterschiedliche Art schreiben kann und dass jede Anlage und Methode ihre Vor- und Nachteile in sich trägt. Unserem Unternehmen damals, die Literatur der Bundesrepublik gesondert darzustellen, war unter der Herausgeberschaft von Dieter Lattmann 1973 in der BRD ein erster Versuch vorangegangen, wesentliche Entwicklungszüge der westdeutschen Literaturentwicklung zu beschreiben. Hier war sicherlich weniger als von uns an einer gemeinsamen Konzeption gearbeitet worden; in jeweils abgeschlossenen Kapiteln stellte Dieter Lattmann einleitend Stationen einer literarischen Republik vor, Heinrich Vormweg Entwicklungstendenzen in der Prosa, Karl Krolow schrieb über Lyriker und Hellmuth Karasek über die Tendenzen in der Dramatik. So wie diese Veröffentlichung stellt sich auch unser Band mit allen zeitbedingten und unserer begrenzten Einsicht geschuldeten Problemen dar. Literaturgeschichtsschreibung so nahe an der Gegenwart bleibt ein kühnes Unterfangen mit vielen Risiken, sich zu blamieren, denn man hat es mit einem unabgeschlossenen, nach vorn offenen Prozess zu tun. Für ihn Festlegungen und einsehbare Gliederungskriterien zu finden bleibt ein Wagnis. Weiterführend an unserem Band erscheint mir noch aus dem Rückblick die Tatsache, dass wir dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in vielen Aspekten nachgegangen, ihm in der Darstellung erheblichen Raum gegeben und mit einem sehr weiten Literaturbegriff gearbeitet haben. Die gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen des Literaturprozesses, seine verlegerischen Voraussetzungen und die Stellung der Autoren in der Öffentlichkeit einzubeziehen, wurde ein Verfahren, dem später erschienene Darstellungen in vielem folgten. Unser Literaturbegriff schloss nicht nur die traditionellen Gattungen ein, sondern auch die literarische und politische Publizistik der Autoren. Darüber hinaus behandelten wir triviale Massenliteratur, stellten ihre sich verändernden Grundzüge dar, wie sie sich von Beginn an für den westdeutschen Literaturbetrieb herausgebildet hatten. Auch bezogen wir Kinder- und Jugendliteratur sowie die für die Literaturentwicklung in der Bundesrepublik so wesentliche Geschichte des Hörspiels in die Darstellung ein. Problematisch erscheint mir im Rückblick die strikte Anlehnung des zeitlichen Gliederungsschemas an das der allgemeinen Geschichtsschreibung. Bei größerer Übersicht hätten sich gewiss stärker innerliterarische Gliederungskriterien für die Darstellung finden lassen. Auch die Fixierung der Gliederung auf die Entwicklungen der Gattungen, Epik, Lyrik, Dramatik wäre wahrscheinlich stärker zu durchbrechen gewesen, um dem lebendigen Literaturprozess näher zu kommen. Mitunter wäre es auch besser gewesen, mehr oder anderen Autoren Einzeldarstellungen zu widmen, um dafür andere in Übersichtskapiteln unterzubringen. Die Gewichtung erscheint aus späterer Sicht manchmal unzutreffend und wenig einsehbar. Aber das sind Fragen, für deren Lösung die jeweils konkreten Kontexte ausschlaggebend und die im Nachhinein schwerlich gerecht zu beurteilen sind. Einen gewissen Inhaltismus bescheinigte uns, beim Erscheinen des Bandes, Walter Jens in einer Fernsehkritik, in der er dem Band insgesamt manches Verdienst zusprach.
Für meinen Anteil an den Problemen dieses Bandes veranschlage ich im Rückblick mehrere Defizite. Weil die Voraussetzungen, mit denen wir Geschichtsschreiber zu Werke gingen, sehr unterschiedlich waren, will ich mich vor Verallgemeinerungen in jedem Fall hüten. Für mich kann ich sagen, dass ich noch immer mit einem verengten, zu stark politisierten Literaturbegriff arbeitete, der dem Zeitkontext der sechziger Jahre entnommen war, mit dem ich mich zu beschäftigen und mit dem ich auch meinen Einstieg ins literarische Fach begonnen hatte. Darüber will ich mich an dieser Stelle nicht weiter verbreiten, weil Belege dafür sich auch in den hier geschilderten Begegnungen finden.
Ein anderer Sachverhalt macht mir mehr zu schaffen, bereitet mir aus heutiger Sicht einige Pein. Dabei weiß ich nicht, wie meine Kollegen im Einzelnen damit umgegangen sind und heute damit umgehen. Es handelt sich dabei um das „Problem der Unpersonen“, wie ich es nennen möchte. Auf diese Erscheinung trafen wir in der DDR häufig. In Geschichtsdarstellungen, vor allem auch im Rahmen der Geschichte der kommunistischen Bewegung und in ähnlichen Zusammenhängen stieß man allenthalben darauf. Das erste Mal begegnete ich diesem Tabu in meiner Tätigkeit als Bibliografin, bei der Mitarbeit an einer großräumig angelegten „Bibliografie zur Geschichte der Kommunistischen und Arbeiterparteien“, die an der Bibliothek des Instituts für Gesellschaftswissenschaften unter der Regie ihres Leiters erarbeitet wurde. Nachdem der 1. Band der Bibliografie im Manuskriptdruck vorlag, wurde die Arbeit plötzlich gestoppt, der Leiter Eberhard Kabus zur Verantwortung gezogen. Der Grund: Es hätten sich Parteifeinde in das Gedruckte eingeschlichen, so hieß es. Wir hatten, unserem bibliografischen Gewissen entsprechend, Artikel und Aufsätze von Personen in das Verzeichnis aufgenommen, die schon nicht mehr zur Partei gehörten, ausgeschlossen worden waren oder längst im Westen lebten und nun als Renegaten oder Verräter galten. Unpersonen waren sie nun geworden, durften nicht mehr genannt werden. Unser Chef bekam dafür ein Parteiverfahren, wurde als Leiter der Bibliothek und des Vorhabens abgelöst. Zuvor waren wir monatelang damit beschäftigt, die Stellen zu schwärzen, auf denen die Namen dieser Unpersonen verzeichnet waren. Erst versuchten wir, die unerwünschten Eintragungen zu überkleben, aber die Namen waren gegen das Licht noch immer zu lesen, nur das Schwärzen brachte den gewünschten Effekt, wie sich zeigte. Noch heute sehe ich uns mit den Bücherstapeln vor den Tischen des Lesesaals in der Taubenstraße stehen, um die Maßgaben von höheren Orts ins Werk zu setzen. Ein solches Erlebnis hinterließ einen tiefen Eindruck. So etwas wollte ich natürlich nicht noch einmal erleben und hielt mich daher, so gut ich es verstand, an das Tabu. Bei der Darstellung der westdeutschen Literatur handelte es sich zumeist um Personen, die die DDR aus politischen Gründen verlassen und sich in der Folgezeit als ihre Kritiker einen Namen gemacht hatten. Manfred Bieler, Horst Bienek, Walter Kempowski, Wolfgang Zwerenz gehörten z. B. dazu. Wir hatten natürlich nicht die Absicht, sie völlig zu übergehen, sie zum Verschwinden zu bringen. Nein, wir wollten schon so weitgehend wie möglich unserer Chronistenpflicht nachkommen. Aber wie damit umgehen? Nicht nur bei mir bestand Unsicherheit darüber, wie mit diesen Autoren zu verfahren sei. Welcher Platz sollte ihnen eingeräumt werden? Unsicherheit und die Furcht, etwas falsch zu machen, führten dazu, dass solchen Schriftstellern mit ihrem Werk kein angemessener Raum gegeben wurde. Das geschah eher unbewusst, denn an eine ausdrückliche Verständigung über solche Fragen kann ich mich nicht erinnern. Dieses Vorgehen wird mir im Rückblick bewusster, als ich es damals erlebt habe. Offensichtlich folgte ich darin der seit Langem geübten Praxis in der Geschichte der kommunistischen Bewegung, in der es von Unpersonen nur so wimmelte. Erst später bemerkte ich, welcher unbewusste Mechanismus da in mir wirkte. Peinlich, peinlich ist mir das heute, ich muss es offen sagen. Walter Kempowski hat mit seiner Kritik an dieser Praxis, die auch seinen Namen betraf, vollkommen recht. Er hat sie in seinem Rostocker Tagebuch von 1990 mit Namen und Adresse öffentlich gemacht. Es stimmt, dass sein Werk in dieser Literaturgeschichte keine angemessene Würdigung findet und dass es unentschuldbar ist.
Bei der Arbeit damals nahm niemand von meinen Kollegen Anstoß an meinen geringen Voraussetzungen. Wahrscheinlich war es so, dass keiner von ihnen eine genaue Vorstellung von meinen dürftigen Vorkenntnissen hatte. Denn alle anderen waren bereits gestandene Wissenschaftler, bei ihnen sah das jedenfalls durchaus anders aus als bei mir. Immerhin war Klaus Pezold ein Schüler Hans Mayers in Leipzig gewesen, hatte dort früh mit einer Arbeit über Martin Walsers Romanwerk promoviert. Das Thema der Dissertation ging noch auf den verehrten Lehrer zurück, und sie lag bereits veröffentlicht vor. Auch von Klaus Schumann, Spezialist für die Lyrik, gab es bereits Veröffentlichungen. Er hatte über Brechts Lyrik promoviert. Hans Joachim Bernhard hatte eine Habilschrift über die Romane von Heinrich Böll verfasst, auch deren Ergebnisse lagen gedruckt vor. Außerdem hatte er über die Kriegsbücher von Ernst Jünger gearbeitet und publiziert. Ich kannte seine Arbeiten aus meiner Studentenzeit. Mich beeindruckte der Kenntnisreichtum der Kollegen, aber ich war erleichtert, dass sie mich ohne Vorurteile in ihren Kreis aufnahmen. Denn ich war mir meiner geringen Voraussetzungen bewusst, war unsicher, aber eifrig bemüht, meine Lücken zu schließen, um an einer so wichtigen Arbeit, wie es eine Literaturgeschichte war, erfolgreich mitschreiben zu können. Viel Eifer und Fleiß brachte ich mit, die Arbeit machte mir Spaß, obwohl mich niemals das Gefühl von Überforderung verließ, das mich im Übrigen auf meinem gesamten Weg als Wissenschaftlerin begleitet hat.