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Lebendige Zeitgenossenschaft

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Von meinen früheren Zusammenkünften mit Schriftstellern waren nicht alle nachdrücklich genug, um bis in die Gegenwart mein Interesse wachzuhalten. Aber, obwohl manche Begegnung einmalig blieb, wirkte dennoch das durch sie geweckte Interesse in meiner Lektüre fort. Mit der Erinnerung an solche unterschiedlich nachwirkenden Begegnungen, die hier beschrieben sind, wird in jedem Fall Zeitgenossenschaft aufgerufen. Aus unterschiedlichen Blickpunkten wahrgenommen, spiegelt sich in Gesprächen mit westdeutschen Autoren ein Stück deutsch-deutscher Beziehung und ihrer Geschichte.

Dabei wird sichtbar, was nicht nur für schreibende Zeitgenossen zutrifft und von Adelbert von Chamisso in die Worte gefasst wurde: „Jeder Dichter betrachtet die Welt aus dem Hals der Flasche, in die er eingeschlossen ist.“ Eine Feststellung, die über Dichter hinaus auch für andere Menschen Geltung beanspruchen kann.

Zeitgenossenschaft stellt sich als eine disparate Angelegenheit dar. Die Rückschau auf sie fördert Ungereimtes, Überraschendes zutage, wenn sich ein Schreiber im Gewirr des Zeitgeistes entdeckt. Solcherlei wird beim Lesen hier begegnen. Geduld ist nötig, um die Fäden zu entwirren. Erinnert wird an Begegnungen mit Büchern und ihren Urhebern in einer Art, die anzeigt, wie sie durch den Zeitgeist bestimmt war und ihn ihrerseits mitbildete. Es spiegelt sich so jüngst vergangene Geschichte, denn die, die sich erinnert, lebte in der DDR, dem untergegangenen Staat und die Schriftsteller, über die sie hier berichtet, denen sie begegnete, deren Bücher sie las und über die sie schrieb, lebten im Westen. Seit zwanzig Jahren nun leben wir in einem Staat.

Ein Kapitel deutsch-deutscher Beziehungen ist damit aufgeschlagen. Westdeutsche Autoren wurden in der DDR gedruckt und gelesen, früher noch, als ostdeutsche Autoren von westdeutschen Verlegern gedruckt wurden. Gelesen wurden selbstverständlich auch Bücher, die in der DDR nicht im Buchhandel zu haben waren. Diese Seite der Rezeption von „Westbüchern“ berührt das Kapitel vom geheimen Leser, über das Simone Barck und Siegfried Lokatis variations- und kenntnisreich ein ganzes Buch geschrieben haben. Die öffentliche Rezeptionsgeschichte der westdeutschen Literatur berührt ebenso wie die Geschichte der Aufnahme der DDR-Literatur im Westen die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Teilstaaten. Sie stellt ein umfangreiches Kapitel von deutsch-deutscher Verlagsgeschichte dar, das in seiner wechselseitigen Beziehung noch darzustellen ist. Für die Verlagsgeschichte der DDR wäre die herausgeberische Arbeit der Verlage Aufbau, Kiepenheuer, Reclam u. a. zu betrachten. Nur erst für den Verlag Volk und Welt ist ein Anfang gemacht worden. Viele Leerfelder scheinen hier auf, die zu untersuchen wären.

Meine Erinnerungen wollen und können solche Leerstellen nicht füllen. Sie verbleiben ganz und gar im Subjektiven. Sie zeichnen Annäherung und Distanz im Umgang mit Autoren und ihrem Werk nach. Beschreiben Lektüreeindrücke, hinterfragen frühere Wertungen und Urteile. Es soll der gedankliche Horizont aufscheinen, der die Prämissen der Urteilenden bildete. Ein schwieriges Unterfangen, weil sich die noch Lebenden stets dem Wind der Zeit ausgesetzt sehen, sich verändern oder auch treu bleiben, auf jeden Fall im Zeitgeist zu Hause sind. Und der war ziemlich anders diesseits und jenseits der Mauer. Dabei ist mein Respekt vor der Leistung vieler hier Porträtierter so groß, dass ich den Drang habe, auch als Mittlerin zu wirken. Denn so ganz und gar kann und will ich meine jahrzehntelang ausgeübte Profession denn doch nicht verleugnen. Daher wird es so sein, dass sich die Schere zwischen Erinnertem und Gedachtem und dem, was mir über Schöpfer und ihre Werke mitzuteilen für nötig scheint, nicht in jedem Fall schließen. Die Autoren sind so verschieden wie mein damaliges und mein heutiges Interesse an ihnen. Auch die Anlässe für eine Wiederbegegnung mit ihren Werken unterscheiden sich. Daher kommt so Vielfältiges hier zusammen, von dem ich dennoch hoffe, dass sich ein Widerschein des lebendiges Prozesses darin finden lässt, der unsere Zeitgenossenschaft gestern und heute ausmacht.

Ein Dialog von Ansichten und Gedanken über die Zeit, die wir durchlebt haben und wie sie sich in Büchern von Zeitgenossen spiegelt, so etwas schwebt mir als Struktur für die Niederschrift und Anlage dessen vor, was ich mitzuteilen habe. Dabei geht es mir vor allem auch darum, den eigenen Irrtümern und Illusionen auf die Spur zu kommen.



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