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Annäherung 1980
ОглавлениеObwohl mich der Dichter interessierte, war davon in meinem Beitrag von 1971 über „Literatur und Politik“ wenig zu spüren. Erst eine erneute Annäherung, fast zehn Jahre später, stellte das Literarische im Spannungsfeld von „Geschichtlicher Konfrontation und poetischer Produktivität“ in den Mittelpunkt. Hier wird die literarische Arbeit der Siebzigerjahre resümiert, in der sich für mich Korrekturen gegenüber dem Selbstverständnis aus dem vorigen Jahrzehnt zeigen und ein durch die politische Praxis gewonnener Erkenntnisgewinn. Enzensberger war weiterhin als Herausgeber wirksam. Außer den Fundstücken im „Museum der modernen Poesie“ gibt er mit 3 Bänden „Klassenbuch. Ein Lesebuch zu den Klassenkämpfen in Deutschland“ (1972) und der Sammlung „Gespräche mit Marx und Engels“ (1973) Einblicke in Erfahrungen aus den sozialen und politischen Kämpfen der Vergangenheit. In den lyrischen Großformaten „Mausoleum“ (1975) und „Der Untergang der Titanic“ (1979) sah ich Höhepunkte in seinem bisherigen lyrischen Werk. Sie zeigten, dass Enzensberger auch in Zeiten, in denen er sich selbst und anderen Autoren politisch Nützliches abforderte, nicht aufgehört hatte, zu dichten. Außerdem entwickelte er im Umgang mit dokumentarischem Material neue Möglichkeiten, nicht nur fürs Theater wie im „Verhör von Habana“, sondern auch für verschiedene Prosaformen. In „Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod“ (1972) schuf er aus disparatem Material eine Textmontage, der er die Genrebezeichnung Roman gibt. Der Autor montiert aus einer Vielzahl von Zitaten die Ereignisse um Leben und Tod des spanischen Anarchistenführers, der längst eine Legende geworden war. Im Grenzbereich zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem schuf er eine originelle Form, mit der er sich eine Möglichkeit eröffnete, geschichtliche Vorgänge in der Vielfalt ihrer Widersprüche darzustellen und fürs Gegenwärtige anschaubar zu machen. Es entsteht eine aus vielen dokumentarischen Quellen mosaikartig zusammengefügte Textmontage, die eine neuartige formale Möglichkeit in seinem Werk eröffnet. Sie sollte sich auch für die folgenden Jahrzehnte als produktiv erweisen, um Schnittpunkte zwischen Geschichte und individuellen Handlungsmöglichkeiten ins Bild zu setzen.
In meinem Annäherungsversuch von 1980 beginne ich das Verhältnis zwischen dem Literarischen und dem Politischen weniger kurzschlüssig zu betrachten, versuche, den geschichtlichen Gesamtprozess als Quelle der poetischen Produktivität dieses Autors ins Zentrum zu stellen. Schon damals beeindruckte mich die Schärfe und Hellsichtigkeit, mit der sich dieser Autor in den Widersprüchen der Welt bewegte. Treffend und scharfsinnig benannte er auch die Schwächen des Teils der Welt, die wir gewohnt waren als die sozialistische anzusehen. In vielen Fragen stimmte ich ihm dabei zu, was mich aber nicht davon abhielt, wegen der geäußerten Kritik Vorwürfe an seine Adresse zu formulieren. Denn noch hatte ich die Hoffnung, dass sich der als sozialistisch verstehende Teil der Welt als zukunftsfähig erweisen, die unübersehbaren Defizite als abänderbar zeigen würden. Solche Vorstellung ignorierte die Zeichen, die darauf hinwiesen, dass auch hier keine Alternativen für die Fragen entwickelt wurden, vor denen die Menschheit stand. Weit war ich davon entfernt, Enzensbergers poetische Beschreibungen, wie er sie in „Kinderkrankheiten“ gegeben hat, für prophetisch zu halten. Solche Befunde und Beschwörungen waren bereits in der Sammlung „Gedichte“ von 1971 enthalten.
„Dieser gigantische Säugling/mit seinen fünfzig Jahren/ der ganze Kontinente / als Laufgitter braucht/ und immer noch Sprachstörungen/ Keuchhusten und Ekzeme/ Würmer und blutige Windeln//.
Kein Wunder: Seine Eltern/ haben alles versucht/ um ihn abzutreiben/ Seine greisenhaften Ärzte/ verschreiben ihm/ eine Rosskur nach der anderen/ und doch wächst er unaufhaltsam//.
Nur: Kann dieser kindliche Riese/ sich seiner Beschützer erwehren?/
Warum halten sie ihm den Mund zu?/ Warum fesseln sie seine Hände?/
Warum lassen sie ihn nicht laufen?/ Mit hundert wird er ein Kretin sein/
oder der erste Mensch.“
Auch in „Mausoleum“ greift der Dichter ein für den Fortbestand der Menschheit existenzielles Problem auf. Das thematische Bezugsfeld des Werks bildet der Widerspruch zwischen wissenschaftlich-technischen Erfindungen und dem moralischen Zustand der Menschheit. Ein für die Lyrik ungewöhnlicher Gegenstand, bei dem es ihm um den problematischen Charakter des Fortschritts geht, den er hier in einem Zyklus von siebenunddreißig Balladen beleuchtet. Porträts von Wissenschaftlern, Anthropologen, Astronomen, Biologen u. a. Naturforschern, von Mathematikern und Erfindern, Forschungsreisenden, Ärzten, Ingenieuren, Stadtplanern, Politikern, Philosophen und Künstlern vom 15. bis ins 20. Jahrhundert bilden einen Versreigen. So liegt ein Gedichtbuch aus Biografien berühmter Toter vor, eine Galerie von Porträts, die dem Zeitgenossen nahegebracht werden. Sie treten mit ihren Erfindungen und Werken in Beziehung zu heutigen Problemen, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal, indem der Dichter nach dem Anteil ihrer Erfindungen an der instrumentalen Seite des Fortschritts fragt und zum anderen dadurch, dass er erkundet, inwieweit durch sie die menschliche Mühsal verringert oder vermehrt wurde. Dabei bringt er konkrete historische Gegebenheiten ihrer Forscherleben ins Bild, einschränkende äußere Bedingungen, ebenso wie innere Verkrüppelungen, die für so manche Gelehrtenexistenz charakteristisch ist.
1973 bereits hat Enzensberger in einem Aufsatz zur „Kritik der politischen Ökologie“ die Problematik theoretisch verallgemeinert. Darin stellt er fest, dass „die Produktivkräfte von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen geformt und so tief greifend geprägt werden, dass jeder Versuch, die Produktionsverhältnisse zu ändern, scheitern muss, wenn nicht auch die Natur der Produktivkräfte (und nicht bloß ihre Nutzung) verändert wird.“ Eine Aussage, die erkennen lässt, dass das Schlussstück der Ballade zu de Dondi im Zyklus mehr als zufälligen Stellenwert besitzt:
Nicht Guggenheim sandte
Francesco Petrarca Schecks
Zum Ersten des Monats.
De´ Dondi hatte keinen Kontakt
Mit dem Pentagon.
Andere Raubtiere. Andere
Wörter und Räder. Aber
Derselbe Himmel.
In diesem Mittelalter
Leben wir immer noch.
Bei der Wiederbegegnung mit dem Gedichtzyklus begeistert mich erneut die komplexe lyrische Form, in der sich der Autor seiner Gegenstände bemächtigt. Er anverwandelt sich die Balladenform auf höchst originelle Weise, indem er durch Montage unterschiedlichen Materials eine vielschichtige Aussagestruktur schafft. Die zentrale Achse dieser Form wird durch die Biografie des Porträtierten und den Mitteilungsgestus des Dichters gebildet. Dabei bildet die Biografie jeweils den Kern, der meist in berichtender Form vermittelt wird. Um sie herum gruppiert der Dichter unterschiedliche Materialien, Zitate aus wissenschaftlichen Erläuterungen und Lehrsätze stehen neben Aussagen über die widerspruchsvolle Überlieferungsgeschichte und diese wechseln mit den Blickpunkten des heutigen Betrachters. Es entsteht eine vielschichtige lyrische Balladenform mit komplexem Aussagewert, die dennoch nichts an ästhetischer Eleganz vermissen lässt.
Als moderner Poet operiert Enzensberger mit Erfolg an den Grenzen lyrischer Aussagemöglichkeiten. Das geschieht auch in dem Versepos „Der Untergang der Titanic“, dem er die Genrebezeichnung eine Komödie gegeben hat. Die vielfältige Spiegelung der Metapher des Untergangs wird hier zu einem hochartifiziellen Gegenstand des ästhetischen Genusses. Unmittelbar nach dem Erscheinen des Bandes habe ich alle gedankliche Anstrengung darauf verwandt, zu begründen, dass solche apokalyptischen Spiele allein auf die spätkapitalistische Gesellschaft zu beziehen sind. Die Ahnung ihres universellen Charakters habe ich in mir bekämpft. Ich wollte noch immer an die Alternative einer anderen Gesellschaft glauben. Die Wiederbegegnung nach dem Glaubensverlust fiel heiterer aus, als ich erwartet hatte. Offensichtlich ist es so, dass erst der Illusionsverlust den freieren Umgang mit den Prämissen unseres Denkens und unserer Vorstellungen ermöglicht. Erst dann ist es möglich, sie zum genussreichen Spielmaterial der Fantasie werden zu lassen.
Untergangsszenarien gehören wie utopische Vorstellungen von paradiesischen Welten seit Langem zum ideellen Handgepäck der Menschheitsgeschichte. Und so behandelt der Dichter die Schiffskatastrophe von 1912 und ihre Überlieferungsgeschichte als einen Bestandteil des ideellen Stoffwechselprozesses europäischen Denkens. Der Untergang des Luxusschiffes, das als unsinkbar galt, erschütterte am Vorabend des 1. Weltkrieges den Fortschrittsglauben der modernen Gesellschaft gehörig und fungiert seither als Metapher für apokalyptische Ahnungen. Auch bei Enzensberger gelten die Schiffskatastrophe und ihre Folgen als universelles Zeichen, das er in vielfacher Spiegelung dokumentiert. Dabei ist sie längst auch zum Konsumartikel massenkultureller Vergnügungen geworden.
Der Untergang der Titanic ist aktenkundig.
Er ist etwas für Dichter.
Er garantiert eine hohe steuerliche Verlustzuweisung.
Er ist ein weiterer Beweis für Richtigkeit der Thesen
Vladimir Ili? Lenins.
Er läuft im Fernsehen gleich nach der Sportschau.
Er ist unbezahlbar.
Er ist unvermeidlich.
Er ist besser als gar nichts.
Er hat am Montag Ruhetag.
Er ist umweltfreundlich.
Er eröffnet den Weg in eine bessere Zukunft.
Er ist Kunst.
Er schafft Arbeitsplätze.
Er geht uns allmählich auf die Nerven.
Er ist gesetzlich geschützt.
Er ist in den Massen verankert.
Er kommt wie gerufen.
Er klappt.
Er ist ein Schauspiel von atemberaubender Schönheit.
Er sollte den Verantwortlichen zu denken geben.
Er ist auch nicht mehr das, was er einmal war.
Auch „Titanic“ ist eine große lyrische Form, ein Versepos, das aus dreiunddreißig Gesängen besteht, die dramatisch-szenischen, lyrischen und balladenhaften Charakter haben und freirhythmisch gegliedert sind. In den Gesängen dokumentiert Enzensberger den tatsächlichen Vorgang der Schiffskatastrophe, den er nach Augenzeugenberichten rekonstruiert. Diese Ebene reicht von der Beschreibung der Schiffsausstattung und der Passagiere bis zu den Stufen des Untergangs. Dabei wird alles aus verschiedenen Perspektiven gespiegelt, die darauf hindeuten, dass der soziale Antagonismus fürs Leben so erheblich wie fürs Sterben bleibt. Die Sicht der Passagiere der 1. Klasse wird mit der des Zwischendecks, mit dem Heizungskeller und mit der Sicht der Reederei konfrontiert, was jeweils andere Blickwinkel ermöglicht. Eine zweite Strukturebene schafft der Dichter mit der vielfachen Spiegelung, die dieser Vorgang in der Überlieferungsgeschichte gefunden hat und die ihn zu einem unabdingbarem Bestandteil apokalyptischen Denkens macht. Zwischen die Gesänge stellt er Bildbeschreibungen, die auf Untergangsvisionen aus vergangenen Jahrhunderten basieren. Die dritte Strukturebene, die das historische Material dicht an die Gegenwart heranholt, wird dadurch gebildet, dass er die Entstehungsgeschichte seines Werkes einbezieht. Die Niederschrift soll 1968 in Kuba begonnen, zwischenzeitlich verloren gegangen und dann erst in der Mitte der Siebzigerjahre wieder aufgenommen und zu Ende geführt worden sein. Diese zeitnahe Ebene ergibt die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen praktisch-politischen Mitwirkens einzubeziehen. So kann er auch die Hoffnungen und Illusionen reflektieren, die ihn in Kuba bewegten und sie zugleich distanzierend historisieren. So heißt es im vierten Gesang:
Seinerzeit glaubte ich jedes Wort,
das ich schrieb, und ich schrieb
und ich schrieb am Untergang der Titanic.
Es war ein gutes Gedicht.
...
Wie angenehm war es, arglos zu sein!
Ich wollte nicht wahrhaben,
dass das tropische Fest schon zu Ende war.
(Was für ein Fest? Es war nur die Not,
Du blutiger Laie, und die Notwendigkeit.)
...
Damals hatte ich recht.
Untergegangen ist damals
Weiter nichts als mein Gedicht.
Über den Untergang der Titanic.
Es war ein Gedicht ohne Durchschlag,
in ein schwarzes Wachstuchheft
mit Bleistift geschrieben,
weil in ganz Cuba damals
kein Kohlepapier zu finden war.
Diese Ebene nimmt er im neunundzwanzigsten Gesang wieder auf und führt sie weiter. Es heißt dort:
Um aber auf das Ende zurückzukommen: Damals glaubten wir noch daran (Wer: „Wir“?) -
Als gäbe es etwas, das ganz und gar unterginge,
spurlos verschwände, schattenlos,
abschaffbar wäre ein für allemal,
ohne, wie üblich, Reste zu hinterlassen
(die sattsam bekannten
„Überreste der Vergangenheit“)
Auch eine Spielart der Zuversicht!
Wir glaubten noch an ein Ende, damals
(wann: „Damals“? 1912 ? 18 ? 45 ? 68 ?),
und das heißt: an einen Anfang.
Aber inzwischen wissen wir:
Das Dinner geht weiter.
Im Kontext dieses lyrischen Werks nimmt Enzensberger auch die Dispute um die Rolle von Literatur wieder auf. Dabei vermeidet er nun konkrete funktionale Zuschreibungen, apostrophiert Literatur als Funktion im gesellschaftlichen Lebensprozess und relativiert dabei Vorstellungen ihrer möglichen Wirkungskraft.
Weitere Gründe dafür, dass die Dichter lügen.
Weil der Augenblick,
in dem das Wort glücklich
ausgesprochen wird,
niemals der glückliche Augenblick ist.
Weil der Verdurstende seinen Durst
Nicht über die Lippen bringt.
Weil im Munde der Arbeiterklasse
Das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt.
Aus der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass Literatur gegenüber der Wirklichkeit eine abbildende Funktion besitzt, folgt nun weder ihre Verdächtigung als Handlungsersatz noch die völlige Negation ihrer Möglichkeiten. Enzensberger arbeitet weiterhin daran, sich der Sinnhaftigkeit eigener Produktion zu versichern. Literatur bleibt für ihn ein Instrument gesellschaftlicher Selbstverständigung, mit dem für Menschen Belangvolles öffentlich gemacht und die Angelegenheiten vieler beredet werden können, denen dafür die Sprache fehlt. Dabei bleibt sie niemals unabhängig von den Widersprüchen, in denen sich ihre Urheber bewegen.
Weil es die Lebenden sind,
die den Toten in den Ohren liegen
mit ihren Schreckensnachrichten.
Weil die Worte zu spät kommen,
oder zu früh.
Weil es also ein anderer ist,
immer ein anderer, der da redet,
und weil der,
von dem die Rede ist,
schweigt.
In Selbstauskünften räumt Enzensberger stets ein, dass er sich zum Erzähler nicht berufen fühlt. Gedicht und Essay sind seine eigentlichen Felder, wobei er die Genregrenzen verwischt und überschreitet. Durch Montage vielfältigen Materials lässt er geschichtliche Spannungsbögen aufscheinen, an denen die lyrische Subjektivität arbeitet und sich reibt. So weitet er die Grenzen lyrischer Aussagemöglichkeiten, während er sich mit seinen dokumentarischen Prosaarbeiten im Grenzbereich zur Fiktion bewegt. Dem Dokumentarstück „Verhör von Habana“, einer aus Protokollen gewonnenen Bühnenfassung, folgten dokumentarische Prosaarbeiten unterschiedlichen Typs. Die Zitatmontage „Der kurze Sommer der Anarchie“ (1972) bezeichnet der Autor als Roman, während er mit „Der Weg ins Freie“ (1975) Lebenszeugnisse von Namenlosen überliefert, die ohne ihn keine Stimme hätten. Im lakonischen Selbstbericht gibt er ihnen Worte, um über Herkunft und Existenzbedingungen zu berichten, woraus bewegende Dokumente über Lebenswege entstehen. Ein kubanischer Landarbeiter schildert, wie er zum Revolutionär wird, eine einfache kubanische Frau lässt ihre Lebensumstände lebendig werden, ein Soldat der chinesischen Roten Armee erzählt vom langen Marsch und ein italienischer Junge, der in seiner Umgebung als schwachsinnig galt, bekennt, wie er sein Leben in die eigenen Hände nimmt, während ein spanischer Anarchist von den Kämpfen seines Lebens zeugt. Es sind sämtlich Lebenswege, in denen Menschen trotz widriger Umstände sich ihrer selbst bewusst werden. Als Geburtshelfer solcher Berichte von unauffälligen Menschen will Enzensberger die mündliche Mitteilungsform wiederbeleben. Er will ihr gegenüber institutionalisierter Kommunikationsform Geltung verschaffen.
Mit der Genrebezeichnung Roman für die Zitatmontage „Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod“ (1972), reagierte der Autor nicht zuletzt auch auf die falschen Alternativen, von denen die Diskussionen um dokumentarische oder fiktionale Literatur, um Fakt oder Fiktion bestimmt waren. Mit seinem Verfahren führt er die Vorstellung ad absurdum, dass dokumentarische Literatur gegenüber fiktionalen Textformen in jedem Fall die Wirklichkeit authentisch zur Sprache bringen würde. Er hinterfragt entschieden die Kategorie der Objektivität, indem er die überlieferten Dokumente und Aussagen so montiert, dass in ihnen der Widerspruchsgehalt der wirklichen Vorgänge deutlich wird. Objektivitätsansprüche erscheinen so als fragwürdig. Zu seiner Arbeitsmethode heißt es: „Der Nacherzähler hat weggelassen, übersetzt, geschnitten und montiert und in das Ensemble der Fiktionen, die er fand, seine eigene Fiktion eingebracht, mit voller Absicht und vielleicht wider Willen; nur dass diese eben darin ihr Recht hat, dass sie den anderen das ihre lässt.“
Die Enzensbergersche Version über Leben und Tod des spanischen Anarchistenführers ist neben dem Interesse am spanischen Anarchismus auch von zeitgenössischen Diskussionen und politischen Erfahrungen in der Studentenbewegung angeregt, vor allem von den Fraktionskämpfen in ihrer auslaufenden Endphase. Zugleich wird seine Sicht auf die anarchistische Bewegung durch die Kenntnis und die Kritik an der verbürokratisierten kommunistischen Parteienpraxis mitbestimmt.
Aus z. T. sich widersprechenden Aussagen rekonstruiert Enzensberger in zwölf Kapiteln Stationen aus dem Leben Durrutis, erzählt von der Teilnahme des gelernten Mechanikers an den sozialen Kämpfen in seiner Heimatstadt, von seinem Anteil bei der Organisation der Selbstverteidigung der Arbeiter gegen den Terror der Bourgeoisie, von den Jahren im französischen und südamerikanischen Exil, von Durrutis Rolle in den revolutionären Erhebungen in Andalusien, Kastilien und Katalonien in den Jahren der Republik. Beim Feldzug gegen den Putsch der faschistischen Generäle in Barcelona wächst er schließlich zu einem kompetenten politischen und militärischen Führer heran, der die Kolonne Durruti anführt. Über seinen Tod, er fiel 1936 beim Kampf um Madrid, liefert der Autor fünf differierende Versionen. In einem Prolog dokumentiert Enzensberger die Totenfeier, in der die tiefe Verwurzelung dieses Revolutionärs im spanischen Volk lebendig wird. In einem Epilog mit der Überschrift „Die Nachwelt“ werden die von unterschiedlichem Interesse geleiteten Stimmen über seine Rolle zusammengestellt. In „Glossen“ genannten essayistischen Einschüben ergänzt er die biografischen Mitteilungen durch den geschichtlichen Kontext, in dem Durruti handelte. Hier werden Aussagen über die geschichtlichen Wurzeln des Anarchismus getroffen (1917-1931, 1931-1936) und Gründe für seinen Niedergang benannt. In der Glosse „Das Altern der Revolution“ verarbeitet der Autor die Begegnungen mit noch lebenden spanischen Anarchisten im Exil, deren moralische Überlegenheit und Verankerung in den Volksmassen er gegen das Sektierertum zeitgenössischer anarchistischer Zirkel in Westeuropa stellt.
Zu den organisierenden Leitideen von Enzensbergers Version über Leben und Tod Durrutis gehört die Demontage des Mythos vom einzelnen und seiner Bedeutung in den geschichtlichen Verläufen. Der Autor nutzt das öffentliche Interesse an Biografien, um entgegen der gängigen Vorstellung von autonomer Persönlichkeit einen Heldentyp vorzustellen, der in den sozialen und politischen Kämpfen seiner Klasse geboren wurde und dessen Leben in seinen Handlungen aufgegangen ist. Dabei ist er Führer seiner Klassengenossen geworden und lebt in ihrem Gedächtnis bis heute fort. Die Individualität des Mannes ergibt sich aus solch kollektiver Verankerung, sie ist von hohem moralischem Anspruch an sich selbst und an die Bewegung bestimmt, in der er steht. Die Gründe für den Niedergang der Anarchisten, auch ihren Anteil an der Niederlage im spanischen Bürgerkrieg ergeben sich in Enzensbergers Darstellung aus dem Zusammenprall von Freiheits- und Gleichheitsidealen mit den Notwendigkeiten des aufgezwungenen Kampfes, die eine strikte Unterordnung unter Disziplin und Organisation nötig machten. Gegen die blutige Praxis kommunistischer Parteien stellt der Autor den Glanz der anarchistischen Ideale, die in der kollektiven Legendenbildung um ihren Führer wachgeblieben sind. Da er sie im Vergleich zum realpolitischen Machtgebrauch kommunistischer Parteien als unbefleckt vom Verschleiß durch Machterhalt sieht, will er sie als Versprechen auf die Zukunft wachhalten.
Zugleich findet der Autor in solcher kollektiven Legendenbildung auch den Widerschein geschichtlicher Kämpfe, an deren Wahrheit immer nur Annäherung gelingt. Enzensberger apostrophiert Geschichte hier gar als eine Erfindung, zu der die Wirklichkeit lediglich ihre Materialien liefert. „Aber sie ist keine beliebige Erfindung. Das Interesse, das sie erweckt, gründet auf den Interessen derer, die sie erzählen; und sie erlaubt es denen, die ihr zuhören, ihre eigenen Interessen, ebenso wie die ihrer Feinde, wiederzuerkennen und genauer zu bestimmen. Der wissenschaftlichen Recherche, die sich interesselos dünkt, verdanken wir vieles; doch sie bleibt Schlemihl, eine Kunstfigur.“ Im Flimmern der kollektiven Überlieferungsgeschichte findet Enzensberger den ästhetischen Widerschein der geschichtlichen Widersprüche, die er so zur Anschauung bringt.
Auch der poetische Rückblick auf die Siebzigerjahre mit der Sammlung „Die Furie des Verschwindens“ (1980) dokumentiert den Abschied von einem bewegten Jahrzehnt, in dem es Aufbrüche gab, die schon bald wieder verebbten. Es herrscht die Lakonie der Ernüchterung, Illusionen werden verabschiedet, von den politischen Kämpfen wird deutlich Abstand genommen. Diese Bewegungsrichtung bezeugt auch:
Der Fliegende Robert
Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter!,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich über die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
Als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.
Er hält Abstand zu den politischen Bewegungen der kommenden Jahre, engagiert sich weder in den ökologischen Bestrebungen, noch in anderen Protestformen dieser Zeit direkt. Das bedeutete aber nicht den Verzicht auf publizistische Aktivitäten. Mit dem Essay zur „Flick-Affäre“ (1987) und der Veröffentlichung der Untersuchungen der US-amerikanischen Militärregierung für Deutschland (OMGUS) gegen deutsche Großbanken und Industrieunternehmen, die er in drei Bänden der von ihm seit 1985 herausgegebenen Buchreihe „Die Andere Bibliothek“ zugänglich macht, setzt er seine Bemühungen um aufklärerische Unterrichtung der Öffentlichkeit fort. Zeitweilig wird er Mitherausgeber der Zeitschrift „Trans-Atlantik“, eines exklusiven publizistischen Mediums, das mit der Beilage „Journal des Luxus und der Moden“ einem entpolitisierten Zeitgefühl Konzessionen machte. Hier widmet er sich in Reportagen Konkretem und Einzelnem, das Bemühen um analytische Durchdringung tritt in den Hintergrund. Der 1987 erschienene Band „Ach Europa!“ ist charakteristisch für dieses Verfahren. Der Autor unterbreitet in anekdotisch zugespitzter Form Wahrnehmungen aus sieben Ländern von den Rändern des Kontinents. Die Berichte stammen aus Ost und West und bezeugen in heilsamer Diffusion die Auflösung ideologischer Zuschreibungen. Zugleich vergegenwärtigen sie die Vielfalt und den Eigensinn der Menschen in den Regionen Europas, die den globalen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen entgegenstehen.