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Hans Magnus Enzensberger. Eine aufregende Begegnung.

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Man schrieb das Jahr 1970. Es war Juni und ich hatte erst vor drei Monaten meine Tätigkeit als Redakteurin der Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ begonnen. Eines Morgens stürzte die Chefin des Blattes in die Redaktionsräume, die sich in einem schmalen Gebäude am Anfang der Oberwallstraße befanden, nur wenige Meter vom U-Bahn-Eingang Hausvogteiplatz entfernt. Das dreigeschossige Haus stand dort sehr vereinzelt, es gehörte zu den wenigen Gebäuden, die an der linken Ecke des Hausvogteiplatzes stehen geblieben waren. Die Bebauung des ganzen Platzes wies große Lücken auf, sie waren durch die Bombenabwürfe des letzten Krieges gerissen worden. Nur an der Ecke zur Mohren- und Taubenstraße hin war inzwischen ein Neubau entstanden, der aber auch dort den Freiraum nicht füllte, den es gab.

Unsere Redaktion lag im Erdgeschoss des schmalen Gebäudes, während in den oberen Etagen die Redaktion der Wochenzeitung „Sonntag“ und die Werbeabteilung des Aufbau-Verlages untergebracht waren. Aus den Fenstern unserer Redaktion schaute man in Richtung Westen auf den Eingang der U-Bahn Linie, die von Pankow bis Thälmannplatz fuhr, während ich aus meinem Arbeitszimmer in östliche Richtung das Licht der vormittäglichen Sonne erleben und auf Pappeln sehen konnte. Die Bäume vor den Fenstern waren wahrscheinlich in den Jahren seit der großen Zerstörung herangewachsen. Sie standen auf einer Rasenfläche mit Bänken, auf die wir Redakteure uns in der warmen Jahreszeit mittags setzten. Daran grenzte ein ausgedehnter Parkplatz, der zu dem großen Haus gehörte, das in etwa hundert Metern Entfernung zu sehen war. Dort hatte einstmals die Reichsbank residiert, aber zu unserer Zeit war dort der obere Verwaltungsapparat der führenden Partei untergebracht. Wenn ich von meinen Manuskripten aufschaute, aus dem Fenster hinaus, sah ich auf das große Haus. Wir machten Witze darüber, dass die Partei ihre Augen immer überall habe, und lachten gutmütig, weil ja auch wir die Partei waren, fast alle, die wir die Redaktion bildeten. Unsere Chefin ging in dem großen Haus regelmäßig ein und aus und versorgte uns mit den neuesten Informationen aus der Führungsetage der Partei, auf die wir uns einen Reim zu machen suchten. Niemand von uns hätte sich wohl damals vorstellen können, dass in dieses große Haus irgendwann das Außenministerium der Bundesregierung eines vereinigten Deutschlands einziehen und unser schäbiges Gebäude nach gründlicher Sanierung Sitz der Botschaft des Königreichs Marokko sein würde.

Also eines schönen Tages im Juni stürzte die Chefredakteurin wie gewohnt gegen Mittag in die Redaktion. Zu dieser Tageszeit hatte sie ihre Informationsrunde hinter sich und versorgte uns sofort mit den neuesten Nachrichten. Wenn wir unter uns waren, nannten wir Redakteure sie Chefin, ansonsten riefen wir uns bei unseren Vornamen. Sie unterrichtete uns, dass der Dichter Hans Magnus Enzensberger für morgen im Deutschen Theater zu Besprechungen erwartet würde. Man plante dort, im Herbst sein Stück „Das Verhör von Habana“ aufzuführen. Wir sollten uns unbedingt an ihn heranmachen und ein Interview vereinbaren, eine solche Gelegenheit gebe es nicht jeden Tag und zudem stehe unserer Zeitschrift ein solches Gespräch, wenn es denn zustande käme, gut an. Denn gerade hatten wir eine neue Rubrik eröffnet, die den akademischen Habitus der „Weimarer Beiträge“ auflockern sollte. Die Zeitschrift war 1954 im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar von Louis Fürnberg und Hans-Günter Thalheim gegründet worden. Zum wissenschaftlichen Profil gehörte inzwischen - über die deutsche Klassik hinaus - die gesamte deutsche Literaturgeschichte. Seit 1969 gab es Bestrebungen, näher an den aktuellen Literaturprozess heranzukommen. Wir bemühten uns darum, neben literaturgeschichtlichen Beiträgen, auch Artikel über die aktuelle Literatur zu organisieren. So wurden seit kurzem Schriftsteller aus Ost und West in der Zeitschrift vorgestellt, wobei Interviews mit monografischen Beiträgen über Werk und Wirken kombiniert wurden. Die ersten Beiträge waren schon publiziert, Joachim Seyppel war einer der ersten in der Reihe westdeutscher Autoren, die in der Zeitschrift einen Platz fanden. Er war damals weder in West-, noch in Ostdeutschland sonderlich bekannt. Nach längerem USA-Aufenthalt nach Westdeutschland zurückgekehrt, hatte er dort keinen Verleger für seine Satire „Als der Führer den Krieg gewann“ gefunden. Daraufhin suchte er Kontakt zum Aufbau-Verlag in der Französischen Straße. Die Zeitschrift „Weimarer Beiträge“, die verwaltungsmäßig zum Verlag gehörte, kam so zu ihrem ersten Gesprächspartner aus Richtung Westen. Seyppel siedelte wenige Jahre danach in die DDR über, die er etwa zehn Jahre später wieder verließ. Er ging zurück in die Bundesrepublik. Damals hatte er auch die Romane „Abendlandfahrt“ und „Torso Conny der Große“ im Gepäck, die schon gedruckt vorlagen. Später übergab er dem Aufbau-Verlag ein größeres Manuskript von etwa tausend Seiten mit tagebuchartigen Aufzeichnungen: „Nachtbücher über Tage“, so der Titel. Nicht nur die zuständige Lektorin verbrachte schlaflose Nächte über dem Manuskript, auch ich kam in Berührung mit dem Geschriebenen, sollte per Gutachten Vorschläge zur Kürzung machen, die der Autor aber sämtlich verwarf. Es ging dabei weniger um politisch Anstößiges als um allzu Detailliertes und Banales, von dem wir den Text entlastet sehen wollten. Der Autor kämpfte um jedes von ihm geschriebene Wort, aber es gelang der Lektorin dennoch, ein lesbares Buch daraus zu machen. Einige seiner Bücher las ich mit viel Interesse, u. a. sein Reisebuch über Wanderungen nach Fontanes „Ein Yankee in der Mark“ und auch seine Darstellung über die Beziehung zwischen Heinrich Mann und seiner Frau Nelly. Im Wintersemester 1992/93 bin ich ihm in einem Literaturseminar über die Gruppe 47 an der Berliner Humboldt-Universität begegnet, das ich zu leiten hatte und in dem er mir das Programm gründlich durcheinanderbrachte.

Herr Enzensberger war ein prominenter Mann, ein bekannter Autor. Er war seit Jahrzehnten anerkannt. Es war klar, man musste die Gelegenheit beim Schopfe fassen, denn wir konnten nicht einfach zu ihm nach Westberlin fahren, wo er zu dieser Zeit wohnte, und auch er würde nicht jeden Tag über die Grenze kommen. Also du wirst es versuchen, sagte die Chefin, erkundige dich, wann er im DT zu erwarten ist, sprich mit dem zuständigen Dramaturgen, bitte ihn, dich mit ihm bekannt zu machen. Du musst von dort unbedingt eine feste Interviewverabredung mitbringen. Sie sprach nur noch zu mir hin, es war klar, dass ich mit dieser Aufgabe betraut werden sollte. Große Aufregung befiel mich, beinahe bekam ich einen Schreck. Aber natürlich war ich auch stolz darauf, dass sie mir das zutraute. Es gab einen Wirbel in meinem Inneren, das Blut schoß mir in den Kopf, hochrot saß ich nun in der Runde und brachte fürs erste kein Wort heraus. Erst seit kurzer Zeit in der Redaktion hatte ich gerade begonnen, meine Scheu gegenüber den Wissenschaftlern, mit denen ich es zu tun hatte, abzulegen. Manch kritische Zurechtweisung hatte ich erlebt, aber auch, dass meine redaktionellen Vorschläge ernsthaft erwogen und mitunter auch angenommen wurden. Aber es war das erste Mal, dass ich mit einem so prominenten, von mir verehrten Dichter sprechen würde. Ob er sich dazu bereit findet, fragte ich mich.

Unsicher auch darüber, was politisch von einem Mann wie Enzensberger zu halten war. Als Freund der DDR verstand er sich nicht, so viel war mir klar, aber vielleicht kann er als ein Sympathisant gelten, dachte ich, denn als Klassenfeind erschien er mir nicht. Also ich blieb unsicher, auch darüber, ob ich der Sache gewachsen sein würde. Aber ich widersprach dem Vorschlag der Chefin nicht. Ich kannte Gedichte von ihm, war neugierig auf den Mann. Immerhin sagte ich mir, es liegt nahe, dass die Chefin mich mit der Aufgabe betraut, denn ich hatte vor einem halben Jahr eine Dissertation über aktuelle westdeutsche Literaturentwicklungen verteidigt und kannte mich daher in der Materie ein wenig besser aus als die anderen Redakteure.

H. M. Enzensberger gehörte zu den lebenden Dichtern, deren Verse ich seit Langem las und schätzte. Drei Lyrikbände von ihm befanden sich unter meinen Büchern. Meine Mutter hatte sie mir aus Westberlin mitgebracht. Darin beeindruckten mich besonders die lyrischen Schimpfkanonaden, mit denen er gegen die stumpfe Mentalität der Wohlstandsbürger zu Felde zog. Mir gefiel, wie er die gedankenlose Saturiertheit geißelte, die alles geschehen ließ, fürs Wohlleben Restauration und Wiederbewaffnung in Kauf nahm. Als „Verteidigung der Wölfe“ getarnt, hielt er den Lämmern den Spiegel vor, in dem sie sich als willfährige Opfer eigener Blindheit betrachten konnten. Die Bewusstlosigkeit von Volksmassen, ihre Manipulierbarkeit für fremde Zwecke, ihre Korrumpierbarkeit durch scheinbare Wohltaten brachte er auf unverwechselbare Weise zur Sprache:

„wer näht denn dem general/ den blutstreif in seine hose? wer/ zerlegt vor dem wucherer den kapaun?/ wer hängt sich stolz das blechkreuz/ vor den knurrenden nabel? wer/ nimmt das trinkgeld, den silberling,/ den schweigepfennig? es gibt/ viel bestohlene, wenig diebe; wer/ applaudiert ihnen denn, wer/ steckt die abzeichen an, wer/ lechzt nach der lüge?/ seht in den spiegel: feig,/ scheuend die mühsal der wahrheit, / dem lernen abgeneigt, das denken/ überantwortend den wölfen,/ der nasenring euer teuerster schmuck,/ keine täuschung zu dumm, kein trost / zu billig, jede erpressung/ ist für euch noch zu milde.(...) gelobt sein die räuber: ihr,/ einladend zur vergewaltigung,/werft euch aufs faule bett/ des gehorsams, winselnd noch/ lügt ihr, zerrissen/ wollt ihr werden, ihr/ ändert die welt nicht.“

Solche wortkräftigen Bilder hinterließen bei mir einen nachhaltigen Eindruck, denn der Dichter konterkarierte eine Vorstellung vom Volk, die mir zu einseitig positiv, ja euphemistisch erschien, weil man auch in der DDR erleben konnte, wie dem Volk stets das Hemd näher war als der Rock. Es war doch allzu bereit, für Augenblicksbedürfnisse Ziele und Ideale aufzugeben, sie einfach an den Nagel zu hängen. Von solch rein pragmatischer Haltung wollte ich mich früh unterscheiden, Wissen und Überzeugungen erlangen, um die neue Gesellschaft mitzugestalten. Zudem erinnerten sie mich an die mehr prosaischen Schimpfkanonaden meines Vaters, der häufig über die Borniertheit der Menschen, ihre Sturheit und ihre egoistische Habgier und Enge wetterte.

Auch die poetischen Bilder und melancholischen Töne des Rückzugs zu den Schilfpfeifern und Brachvögeln des Nordens in „Blindenschrift“ gingen mir nahe, weil sie meine Sehnsucht nach Ferne ansprachen. Natürlich war mir geläufig, dass diese lyrischen Äußerungen einer schon vergangenen Lebensperiode des Mannes angehörten. In den letzten Jahren hatte er sich stark in politischen Aktionen und Bewegungen engagiert, war in vielen Ländern der Welt herumgekommen, in Europa und in den USA. Die Vereinigten Staaten hatte er 1968 mit einer öffentlichen Erklärung gegen den Vietnam-Krieg in Richtung Kuba verlassen. Dort und auch in Moskau hielt er sich einige Zeit auf. Seitdem die Studenten auch in Westberlin auf die Straße gingen, lebte er nebenan. Seine bei Suhrkamp erschienenen Untersuchungen zur Bewusstseinsindustrie kannte ich und bewunderte die analytische Schärfe und präzise Sprachkraft des Essayisten. Auch war mir bekannt, dass er seit 1965 im Suhrkamp Verlag das „Kursbuch“ herausgab, kannte die Zeitschrift und hatte manchen Beitrag gelesen.

Bereits 1965 hatten die Herausgeber mit Betrachtungen und Analysen zur „Europäischen Peripherie“ begonnen, die Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse in der Dritten Welt zu lenken und den Widerspruch zwischen dem reichen kapitalistischen Norden und dem Elend in den Entwicklungsländern als grundlegenden Widerspruch ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu rücken. Mit einem „Katechismus zur deutschen Frage“ suchten sie durch neue Blickpunkte die verfestigte Spannung zwischen den beiden deutschen Staaten zu lockern. Sie verlangten Gespräche mit der DDR, schlugen Schritte zur Anerkennung des zweiten deutschen Staates vor, die die angespannte Lage verändern und die Perspektive zur Bildung einer Konföderation eröffnen sollte. Einen zentralen Platz nahmen Analysen der APO-Aktionen ein, in deren Kontext Fragen der Literatur, ihrer Funktion und ihrer Möglichkeiten im politischen Kampf erörtert wurden.

Die Zeitschrift war seit ihrer Gründung zum ideellen Wegbereiter der neuen Linken geworden und gewann auf die junge Intelligenz, die sich als außerparlamentarische Opposition verstand, erheblichen Einfluss. Zum Zeitpunkt unseres Zusammentreffens hatte Enzensberger den Suhrkamp Verlag bereits verlassen, er war dabei, die Zeitschrift „Kursbuch“ auf eine eigene verlegerische Basis zu stellen.

Das „Kursbuch“ sollte über verschiedene verlegerische Bindungen, redaktionelle und inhaltliche Modifikationen hinweg, 1980 zog sich ihr Gründer Enzensberger aus der Herausgeberschaft zurück, mehr als vierzig Jahre lang existieren. Erst beim Übergang ins 21. Jahrhundert war das Renommee linker Intelligenz so weit aufgebraucht, dass die Zeitschrift 2008 wegen mangelndem Interesse eingestellt werden musste. Es mag ein Zufall sein, aber es erscheint mir signifikant, dass kurz darauf auch die Bahn ihre Kunden darüber informierte, dass sie fernerhin auf die Herausgabe eines Kursbuches verzichten muss.

„Lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:/ sie sind genauer“, schrieb Enzensberger den Dichtern damals ins Tagebuch, um sie von zeitabgehobener Romantik auf die Tatsächlichkeiten des politischen und sozialen Alltags hinzulenken. Drei Jahre zuvor hatte im „Kursbuch“ die Debatte über ein mögliches Ende der Literatur begonnen. In einigen Beiträgen wurde gar ihr Tod verkündet. Man flocht der schönen Dichtung mannigfache Kränze, um sie in politisierter Form schon bald wieder auferstehen zu lassen. Obwohl Enzensberger solchen völlig nihilistischen Standpunkt nicht teilte, wurde er häufig, damals und mitunter auch später noch, mit den dort vertretenen radikalen Thesen identifiziert. Offensichtlich war, dass sich sein Verständnis von literarischer Arbeit gegenüber seinen Anfängen deutlich modifiziert hatte. Er suchte genauer als bisher ihre Funktion ins Auge zu fassen und für Veränderungen offen zu sein. Neue Gegenstände fesselten sein Interesse, er nahm andere Formen in Gebrauch, alles Schreiben bezog sich direkter auf eine sich politisierende Öffentlichkeit. Sein Beitrag von 1967 „Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend“ umriss mit provokativen Thesen diesen Wandel. Vorstellungen von einem autonomen literarischen Kunstwerk erklärte er hier für obsolet, gab zu erkennen, dass er Autoren, die weiterhin autonom Literarisches produzierten, für nicht mehr zeitgerecht hielt. Politik galt als das Gebot der Stunde, ja, man diskutierte, ob die Situation als revolutionär anzusehen sei.

Auf jeden Fall war Hans Magnus Enzensberger ein Autor, der mich brennend interessierte. Und es gab genügend echte Fragen, die ich ihm stellen wollte, ich musste mir nichts aus den Fingern saugen. Welche Rolle er der Literatur zumaß, war durchaus eine Frage, die mich damals beschäftigte. Mich interessierte, wie sich sein Verständnis von literarischer Arbeit gegenüber seinen Anfängen modifiziert hatte. Wie sah er den gesellschaftlichen Kontext, in dem er sich bewegte? Denn, dass er auch in der Zeit radikaler Thesen nicht aufgehört hatte, zu dichten, stellte sich erst einige Zeit später heraus, als ein Suhrkamp Taschenbuch 1971 Gedichte auch aus den letzten fünf Jahren vorstellte.

Nur meine angeborene Schüchternheit konnte mir im Wege stehen, sie hemmte mich mitunter gänzlich unerwartet. In diesem Fall kamen Respekt vor dem Mann und die Unsicherheit hinzu, nur wenig von all den Dingen wirklich gelesen zu haben, vieles nur vom Hörensagen zu kennen, was da im anderen Teil Deutschlands an aktuellen Ereignissen so quirlig und unübersichtlich ablief. Immer behielt ich das Gefühl, über alles nur ungenau informiert zu sein. Dann beruhigte ich mich wieder bei dem Gedanken, dass uns in der DDR solche geistigen und politischen Wirrnisse erspart blieben, weil man hier die Zukunft sicher im Auge hatte. Aber man musste denen dort drüben helfen, ihren Weg zu finden. Nur, ob ich dafür die geeignete Person war, darüber war ich im Zweifel, und ich verbrachte schlaflose Nächte bis zum Termin des Zusammentreffens, den mir das Sekretariat des Deutschen Theaters vermittelt hatte.

Die erste Begegnung mit dem Mann war unkomplizierter, als ich sie mir vorgestellt hatte.

Er war in Begleitung einer jungen Frau, die er mir als eine Enkelin Stalins vorstellte. Er nannte mir ihren Namen, den ich mir in der Aufregung leider nicht merkte, und als ich mich später vergewissern wollte, ob das mit der Enkelin stimmte, wusste ich nicht, welchen Namen ich nachschlagen sollte. Daher bin ich mir bis heute unsicher darüber geblieben, ob seine Auskunft stimmte oder ob er mir nur einen Bären aufbinden wollte. Denn, dass ihm ein Schalk im Nacken saß, das war auf Anhieb zu bemerken. Ein Mann von schlanker Gestalt kam mir entgegen, ein beinahe jünglingshaft wirkender Vierzigjähriger mit blondem zum Pony geschnittenem Haar, das die obere Stirn bedeckte. Wahrscheinlich verbarg er damit eine beginnende Glatze, worauf ich damals allerdings nicht achtete. Denn Einzelheiten seines Aussehens sind mir kaum haftengeblieben, sie verschmolzen später mit den in der Öffentlichkeit bekannten Bildern und bestimmen den Gesamteindruck, der mir blieb. Dazu gehört das von vielen Fältchen durchzogene Gesicht, eine deutlich gezeichnete lebhafte Physiognomie. Die Mimik verriet den überaus unruhigen Geist, den widerspruchsvollen Charakter. Lebhaftigkeit bestimmte auch seinen gestischen Habitus, selten nur, dass er in einer Geste länger verharrte. Erstarrung war etwas, was es für ihn nicht zu geben schien. H. M. E. kam mir freundlich im Raum entgegen, drückte mir die Hand, war zuvorkommend und höflich, schob mir den Stuhl zurecht, der für mich herbeigeholt worden war. Leicht ließ ich mich von so viel Zuvorkommenheit beeindrucken, aber ich sollte auf der Hut sein, sagte ich mir, durfte innerlich nicht abrüsten. Denn ich fürchtete seinen Sarkasmus und seine Ironie, ahnte, dass mit ihm nicht immer gut Kirschen essen war, wie es der Volksmund ausdrückt. Er war agil und zu gescheit, um irgend jemandem eine Schwäche durchgehen zu lassen.

Ob er meine Unsicherheit spürte, weiß ich nicht. Überhaupt wird er sich an mich und an die mir so wesentliche Begegnung nicht erinnern. Eher nehme ich an, dass die unbefangene Lebhaftigkeit und Freundlichkeit, mit der er auf mich zuging, der Rolle entsprach, die er sich für die Anbahnung von Beziehungen öffentlichen Charakters schuldig zu sein glaubte. Jahre später las ich in den Erinnerungen von Alfred Andersch, der den jungen Dichter in den Fünfzigerjahren in der Redaktion Radio-Essay im Stuttgarter SWF gefördert und bekannt gemacht hatte, dass es für H. M. E. später für so Unnützes wie ein zweckfreies Gespräch unter Kollegen keine Zeit mehr gegeben habe. Auch teilt uns Andersch mit, dass der damals junge Dichter, den er bei Erscheinen seines ersten Gedichtbandes enthusiastisch gefeiert hatte, der erste gewesen sei, der seine zornigen Verse auf einer elektrischen Schreibmaschine schrieb. Später brachte er auch Alfred Andersch dazu, auf solches Gerät umzurüsten, als der, von Krankheit geschwächt, um seine Arbeitskraft rang. Vielleicht hat er 1970, als wir uns im Deutschen Theater, in der Hauptstadt der DDR, begegneten, schon mit einem PC gearbeitet, wenn es ihn denn schon gegeben hat. Aber danach zu fragen, wäre mir nicht eingefallen. Vor Kurzem erst, dreißig Jahre nach unserer Begegnung, sah ich ihn gealtert auf dem Bildschirm bei einem Podiumsgespräch, das die ARD übertrug. Mit linksgescheiteltem schütterem Haar erschien er mir jetzt als eine überaus korrekte Erscheinung. Verwundert war ich, dass er unablässig rauchte, das war mir verborgen geblieben, oder aber es gehörte damals nicht zu seinen Gewohnheiten. Ja, der Zorn verfliegt, aber die Ironie bleibt, dachte ich in Anspielung auf Worte, die Alfred Andersch über den Dichter geäußert hatte. Noch immer sah man ihn lebhaft reden und schlüssig argumentieren.

Damals brachte ich in die Redaktion eine Verabredung für ein Interview mit. Es konnte erst nach größerem zeitlichen Abstand stattfinden, weil der Dichter zuvor noch auf Reisen ging. Nein, die Fragen, die wir an ihn hatten, wollte er vor unserem Treffen nicht einsehen, denn er war daran gewöhnt, ad hoc zu reagieren. Im Mittelpunkt unseres Gesprächs sollte sein Bühnenstück „Verhör von Habana“ stehen, das im September 1970 im Deutschen Theater unter der Regie von Manfred Wekwerth Premiere haben würde.

Monate nach der ersten Begegnung ging ich gut präpariert zu unserem neuen Treffen, das in der Wohnung der Chefin stattfand, die ebenfalls zugegen war. Während ich mich an die Szenerie erinnere, wundere ich mich, warum wir an diesem Ort in Lichtenberg zusammenkamen, aber es war damals ihr ausdrücklicher Wunsch und ich sah keinen Grund, ihn nicht zu akzeptieren, obwohl ich an den Club der Kulturschaffenden als Treffpunkt gedacht hatte. Wir saßen in einem mit Bücherregalen vollgestellten Arbeitszimmer und tranken Tee. Während er Platz nahm, machte er eine Bemerkung darüber, dass die Leute hier augenscheinlich gewohnt seien, viele Bücher zu lesen. Wir sahen darin eine Anspielung auf das gerade proklamierte „Leseland DDR“, was aber gar nicht zutreffen musste, weil er über die DDR wenig Bescheid gewusst haben will, wie man später, nach ihrem Zusammenbruch, von ihm hören konnte. Daher ist es wahrscheinlicher, dass er mit seiner Bemerkung auf die im „Kursbuch“ vertretenen Thesen vom Tod der Literatur anspielte. Denn die waren damals in aller Munde. Für Beileidsbekundungen zu ihrem Ableben war das „Kursbuch“ inzwischen zu einer sprichwörtlichen Zuschreibungsadresse geworden, worauf Enzensberger als Herausgeber der Zeitschrift wohl anspielte. Obwohl solche radikalen Thesen nicht von ihm stammten, hatte auch er literarische Produzenten aufgefordert, sich bei der politischen Alphabetisierung der Bundesbürger nützlich zu machen.

Solche direkte politische Funktionszuweisung stand im Gegensatz zur Entwicklungsrichtung der Literatur in der DDR. Hier ging es den maßgeblichen Literaten eher darum, sich direkter politischer Indienstnahme zu entziehen, den spezifischen Rang des Literarischen zu betonen, die Autonomie des literarischen Werkes gegenüber den Einsprüchen der Politiker zu begründen bzw. erst einmal herzustellen. Für linke Intellektuelle in der Bundesrepublik deutete sich damals in mehr oder weniger radikalen Äußerungen ein hoher Grad politischer Veränderungsbereitschaft an. Vor diesem Hintergrund erschienen Wirkungsmöglichkeiten des Literarischen nur noch als begrenzt. Es war eine Zeit, in der vor allem junge linke Schriftsteller neue Arbeits- und Wirkungsfelder mit dokumentarischen Arbeiten, mit Agitprop-Versen und anderen operativen Formen suchten und fanden und prominente Autoren wie Heinrich Böll, Günter Grass, Alfred Andersch, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger sich öffentlich in politische Vorgänge einmischten, wobei ihre Ansichten und Haltungen deutlicher als bisher differierten.



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