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Selbstbegegnung im www

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Vielfältig können Motive für einen Rückblick sein. Im vorliegenden Fall ist es das Bedürfnis, sich die Kontexte zu vergegenwärtigen, in denen ich in der DDR arbeitete und dachte. Dabei geht es vorzüglich darum, mir die Motive und Intentionen der eigenen Arbeit bewusst zu machen, Selbstvergewisserung, wenn man so will. Im Erinnerungsbuch „Schwindende Gewissheiten“ schildere ich individuelles Werden, wie es sich unter den Bedingungen der DDR zutrug. Es werden die Faktoren familiärer, sozialer und geistiger Eindrücke dokumentiert, die das persönlich-mentale Befinden bestimmen und im Laufe der Zeit, bis zum Ende der DDR verändert haben. Ein Bericht, der nicht nur mit der eigenen Situation zu tun hatte. Dabei blieb meine Arbeit als Literaturwissenschaftlerin weitgehend ausgeklammert, für meine Erfahrungen auf diesem Felde fehlte mir ein Ausdruck. Aber seither habe ich immer nach Wegen gesucht, um auf sie zurückzukommen. Denn meine „Gegenstände“, zeitgenössische Autoren und ihre Bücher, begleiteten mich auch weiterhin, ihnen wollte und konnte ich nicht entkommen.

Es geht hier nicht um ein Resümee meiner wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten, sondern um die Anstöße zum Nachdenken, die mir Begegnungen mit Menschen und ihren Büchern gaben. Ihnen möchte ich hier nachgehen. Dabei handelt es sich um eine subjektive, vielleicht zufällige Auswahl, die ich gar nicht erst versuchen werde zu begründen. Mein Verhältnis zu den ausgewählten Beispielen war Wandlungen unterworfen, wie sich auch die Gegenstände der Betrachtung nicht gleich geblieben sind. Aus Ignoranz wurde Verstehen, Annäherung, die kritische Distanz nicht ausschließt; insgesamt geht es um einen Lernprozess, der sicherlich nicht vor neuen Irrtümern bewahrt.

Einen äußeren Anlass, um mit der Rückschau auf Publiziertes zu beginnen, bildete die Selbstbegegnung im www. Seit einigen Jahren gehöre auch ich zur weltweiten Kommunikationsgemeinde, die sich im Internet begegnet. Irgendwann suchte ich nach dem eigenen Namen bei Google, komisch, es fiel mir erst nach Monaten meiner neuen Errungenschaft ein, dass das möglich war. Und tatsächlich, Veröffentlichungen von mir sind angezeigt, von denen ich annahm, dass sie längst der Vergessenheit anheimgefallen sind. Es wäre mir, offen gestanden, sogar lieber gewesen, nicht mehr mit ihnen konfrontiert zu werden. Aber Antiquariate arbeiten eben zuverlässig, und wer sich in die Öffentlichkeit wagt, geht so schnell nicht verloren. Das festzustellen, löste bei mir ziemlich peinliche Gefühle aus. Denn auf solche Selbstbegegnung war ich in keiner Weise vorbereitet. „Antihumanismus in der westdeutschen Literatur“ (1971) lautete der Titel der Veröffentlichung, die aus der überarbeiteten Fassung meiner Dissertation hervorgegangen war, die ich am Institut für Gesellschaftswissenschaften verteidigt hatte. In dem bei Dietz erschienenen Band wurde der Versuch gewagt, aktuelle literarische Vorgänge in der Bundesrepublik seit Mitte der sechziger Jahre darzustellen, Strömungen auszumachen und zu charakterisieren. Seit Langem ist mir bewusst, dass dieser Überblick in Inhalt und Methode recht dilettantisch ausgefallen ist. Noch heute wundere ich mich darüber, dass der Dietz Verlag das gedruckt hat. Sie spiegelt den damaligen Stand meines Wissens, und der war eben nicht sehr entwickelt. Es fehlte mir an literaturgeschichtlichem und literaturtheoretischem Wissen, ich war unsicher und suchte nach Anhaltspunkten für die selbst gestellte Aufgabe, Tendenzen aktueller westdeutscher Literaturentwicklung zu analysieren und überschaubar darzustellen. Da griff ich zu gängigen Stichworten, Kategorien wie Humanismus und Menschenbild, Realismus und Dekadenz, die in der marxistischen Ästhetik eine Tradition hatten, ich kannte Georg Lukács´ Arbeiten und griff zu dem damals gerade veröffentlichten Buch von Hans Koch „Marxismus und Ästhetik“, in dem es aktuellere Ableitungen gab. In meinem optimistisch-schematischen Weltbild standen Antihumanismus und Dekadenz für den niedergehenden Kapitalismus, während Humanismus und Realismus auf der Seite der fortschreitenden Menschheitsentwicklung zu finden waren, von der wir in der DDR ein Teil zu sein glaubten. Ich versuchte, mit diesen Kategorien zu hantieren, sie auf die gegenwärtige Entwicklung der Literatur anzuwenden. Im Ergebnis meiner Bemühungen konstatierte ich eine antihumanistische, eine humanistische und eine antiimperialistische Strömung in der derzeitigen westdeutschen Literatur. Literarische Wertungsarten fielen bei diesem starren Schema unter den Tisch.

Und da finde ich nun unter meinem Namen den Hinweis auf einen Artikel von Volker Hage, den “Die Zeit“ am 16. März 1973 gedruckt hatte und der sich wohl auch noch in meinen Unterlagen finden wird. Aber ich hatte ihn vollkommen vergessen, und da begegnet er mir nun erneut. „Ist Wellershoff antihumanistisch?“, steht klein über der in größeren Lettern gedruckten Überschrift und die lautet: „Angeblich zum Nutzen der Herrschenden“. Es handelte sich um eine Rezension zu meinem oben genannten Erstling mit dem ominösen „Antihumanismus“ in der Überschrift. Nun erinnere ich mich auch wieder an die erste Lektüre dieser Rezension, die man mir zugeschickt hatte. Es war ein tiefer Schreck, als ich mich mit meinen höchst provisorischen Untergliederungen und Bestimmungen so ernst genommen sah, und meine Darlegungen hier nun sogar als offizielle Parteilinie ausgegeben fand. Und dabei war es doch so, dass ich die Parteilinie in Sachen Literatur und Kultur weder genau kannte, noch sie verstehen konnte. Ich wollte daran glauben, dass es sie gab, und ihr auch eine höhere Weisheit zugrunde lag. Aber zugleich fühlte ich mich immer auch ganz hilflos, außerstande, die neuesten Verlautbarungen zu begreifen; sie zu begründen oder gar zu vertreten, das lag außerhalb meiner Möglichkeiten. Und nun fand ich meine höchst unzulänglichen Bemühungen so gewichtig genommen. Das erschreckte mich gehörig. Ich war weit davon entfernt, Wellershoff oder andere Schriftsteller als Antihumanisten anzusehen. Klassifikationen, hatte man mir gesagt, trügen objektiven Charakter, und so schwebte mir damals vor, dass sich antihumanistische Wirkungen unabhängig vom Willen des Autors einstellen können, eben wenn die Sicht auf den Menschen und die Gesellschaft nicht auch mögliche Veränderungen ins Blickfeld rückt. Glücklicherweise bemerkte ich bald, nicht zuletzt durch die Beobachtung der rasant ablaufenden gesellschaftlichen Veränderungen in den späten Sechzigerjahren, wie wenig der Umgang mit kategorialen Bestimmungen aktuellen politischen wie literarischen Prozessen gerecht wird. Schnell verabschiedete ich mich von solchen Kategorien, griff Kriterien auf, die im Entwicklungsprozess selbst entstanden oder dort wieder in Gebrauch genommen worden waren und begann mit differenzierterem Verständnis zu arbeiten. Immerhin war ich lernfähig genug, um zu sehen, dass sich der Literaturprozess anders entwickelte, als meine vorgegebenen Begrifflichkeiten glauben machen wollten. Bei Brecht las ich, wie er solche Verfahren glossierte. Er machte sich über eine Wissenschaft lustig, die zu dem Ergebnis kommt, dass diese Tauben falsch fliegen. Kategoriales Denken wurde mir zunehmend suspekt, ich begriff, wie verfehlt meine Herangehensweise war und suchte nach Gesichtspunkten, von denen die Akteure der Entwicklung sich selbst leiten ließen, um der komplexen und sich ständig verändernden Wirklichkeit auf die Spur zu kommen. Meine Sicht aufs Reale wurde differenzierter und konkreter, immerhin war ich neugierig und offen genug, um den ideologischen Prämissen und Schemata nicht sklavisch zu folgen. Langsam, Schritt für Schritt begann ich ihnen zu entgehen. Das Ergebnis meines Umdenkens schlägt sich in publizierten Einzelbeiträgen und in der Buchveröffentlichung „Literatur und Klassenkampf“ (1976) nieder. Hier finden sich nun wiederum neue Einseitigkeiten. Es ist der schon im Titel vollzogene Kurzschluss zwischen Literatur und Politik, der sich allerdings aus der oberflächlich betrachteten Szenerie der bundesrepublikanischen Verhältnisse ableitete, in der sich eine ganz unmittelbare Beziehung zwischen den beiden Sphären entwickelt hatte. Natürlich war es so, dass es literarische Erscheinungen gab, die davon gar nicht, wenig oder nur mittelbar betroffen waren, und sie blieben dann auch weitgehend außerhalb meines Blickfeldes. Solche Kurzschlüsse waren dem literarischen Prozess ihrerseits unangemessen und verkürzten die Sicht auf die vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten, die der Literatur innewohnen können. Es ist sicherlich so, dass auch in folgenden Arbeiten etwas von diesen Kurzschlüssen erhalten geblieben ist, langsam erst revidierte ich sie Schritt für Schritt und ersetzte sie durch konkretere Umgangsweisen mit Literatur. Zwar habe ich mit kritischen und wissenschaftlichen Arbeiten zu einzelnen Werken und Autoren auch publizistischen Zuspruch gefunden, auch das kann man im www finden, aber darum geht es hier nicht.

Groß war auch mein Entsetzen angesichts der digitalen Begegnung mit Manfred Jäger. Der Publizist hat u. a. für die Beilage der Zeitschrift „Das Parlament“ einen Beitrag über DDR-Literaturwissenschaft geschrieben. Anhand eines Zitats aus einer meiner Publikationen finde ich mich dort als Beleg für eine SED-offizielle Sicht auf die westdeutsche Literatur wieder. Das Zitat stammt aus dem Jahr 1970, es ist aus seinem Zusammenhang gerissen und läuft mir nun vierzig Jahre später als offizielle Parteilinie hinterher. Dabei hatte ich mit der doch immer meine Schwierigkeiten, verstand sie meist nicht. Aber ihren sozialistischen Zielen fand ich mich schon verbunden, will jetzt nicht so tun, als wäre das anders gewesen. Ja, wer war oder hat damals eigentlich die Linie bestimmt? Vielleicht war ich es doch, wer weiß das!

Jedenfalls graust mir bei dem Gedanken, dass Dinge, einmal in die Welt gesetzt, ihr Eigenleben führen und mit dem Urheber nur noch wenig zu tun haben.

Aber andererseits finde ich es auch ganz und gar in der Ordnung, dass nun die Kritik, die ich an anderen geübt habe, zu mir zurückkehrt.

Ja, damals glaubte ich mich vor den Autoren, denen ich meine Aufmerksamkeit angedeihen ließ, durch eine Mauer geschützt. Ein Zeitalter wären wir ihnen voraus, hatte man mir gesagt, und ich war stolz darauf, in einer so zukunftsbewussten neuen Gesellschaft zu leben. Die würden auch schon noch begreifen, wohin die Reise der Geschichte ginge, dachte ich mir und war befriedigt bei solchem Gedanken.

Mit solchen Selbstbegegnungen begann die Idee zu dieser Rückschau zu reifen.

Vorweg erscheint es mir notwendig, Etappen meiner wissenschaftlichen Laufbahn zu skizzieren, die kurz war und doch eine wesentliche Zeit meines Erwachsenenlebens einnimmt: 1970-1991, so datiere ich sie, denn in diesem Jahr wurde das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL) abgewickelt. Von 1992-1997 bekam ich innerhalb des Wissenschaftler-Integrationsprogramms, das Bestandteil des Hochschul-Erneuerungsprogramms (kurz: WIP im HEP) war, einen Vertrag am Germanistischen Institut der Humboldt Universität. Hier arbeitete ich an einem von Professor Ursula Heukenkamp geleiteten Forschungsprojekt zur Nachkriegsliteratur in der Viersektorenstadt Berlin (1945-1961) mit.



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