Читать книгу Bis die Gerechtigkeit dich holt - Ute Dombrowski - Страница 11
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ОглавлениеKendra war die kleine Hanka nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Nachts träumte sie immer wieder diese Szene, in der das kleine Mädchen wimmernd aus dem Gebüsch gekrochen war. Dann sah sie ein offenes Fenster und den zerschmetterten Körper ihrer Schwester Nora tief unter dem Fenster im Schnee liegen. In ihren schlimmsten Nächten trat der Vater hinter sie und stieß sie vom Fensterbrett in die Tiefe und sie flog in Zeitlupe ihrer toten Schwester entgegen. Die schlug plötzlich die Augen auf, hielt ihr die ausgestreckten Arme entgegen, um sie aufzufangen, aber genau dann erwachte Kendra jedes Mal schreiend. Zurück blieb der Gedanke, ob Nora sie fangen würde, bevor sie auf dem Boden aufschlug.
Alle diese Ereignisse aus der Kindheit sah sie wieder deutlich vor sich. Am liebsten hätte Kendra alles vergessen, aber vielleicht sollte sie sich auch aktiv damit auseinandersetzen. Sie wollte das mit ihrer neuen Freundin Lisa besprechen, vielleicht könnte man sich irgendwo engagieren, um Kindern, die in Not waren, zu helfen. Sie stand schweißgebadet auf und war alles andere als ausgeruht. Am Nachmittag wollte sie sich mit ihrer Mutter treffen, die sie regelmäßig einmal im Monat zum Kaffee in die Altstadt einlud. Mehr Kontakt hatten sie nicht, auch wenn die Mutter extra in Kendras Nähe gezogen war. Sie konnte und wollte nicht verstehen, warum ihre Mutter zugelassen hatte, dass Nora gestorben war.
Sie ging ins Bad, trank danach eine Tasse Kaffee mit viel Milch im Stehen und zog sich an, um in die Universitätsbücherei zu fahren. Dort hatte sie eine Stelle als Bibliothekarin, die sie über alles liebte. Oft ließ sie sich für die Abendschicht einteilen, denn dann waren nur noch die wirklich interessierten Leser da. Die meisten Studenten gingen abends lieber feiern. Oft saß sie mit dem einen oder der anderen zwischen den Regalen auf dem Teppich und sprach mit ihnen über Kultur, Kunst und die Welt. Heute war Kendra zusammen mit Frau Schmidt im Frühdienst. Ihre Kollegin war Anfang sechzig und verliebt in den Hausmeister. Oft standen die beiden turtelnd am Getränkeautomaten. Wenn Frau Schmidt dann heimging, sah Kendra vom Fenster aus den Hausmeister mit einer kleinen Blume vor der Tür. Kendra war gespannt, ob und wann sich die beiden einmal außerhalb der Bücherei verabreden würden, aber sie befürchtete, dass dies niemals geschehen würde.
Heute Morgen war Frau Schmidt schon da. Sie sagte „Kendra“ und „Sie“, denn sich auf der Arbeit zu duzen fand sie unpassend. Kendra sagte „Frau Schmidt“ und es war ihr egal.
„Guten Morgen, Kendra, wie geht es Ihnen? Wir haben ja lange nicht mehr zusammen Dienst gehabt.“
„Guten Morgen, Frau Schmidt, mir geht es ganz gut. Und Ihnen? Möchten Sie einen Kaffee?“
„Nein, danke, ich hatte schon eine Tasse, von zu viel Kaffee schlägt mein Herz immer so heftig. Sie sehen aber gar nicht ausgeruht aus, Kindchen.“
„Ich schlafe in letzter Zeit schlecht. Erinnerungen, böse Träume.“
„Oh, wie furchtbar, in Ihrem Alter sollte man doch von der Liebe träumen und in den Armen eines netten Mannes schlafen. Was bedrückt Sie denn?“
„Sie haben doch sicher in der Zeitung von dem kleinen Mädchen, das verletzt im Park gefunden wurde, gelesen. Sie ist im Krankenhaus gestorben, ihr Stiefvater hatte sie misshandelt und vergewaltigt.“
Frau Schmidt nickte.
„Das arme Mädchen, ich habe es gelesen. Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas Grausames antun? Ich frage mich dann immer, ob so etwas niemand mitbekommt.“
„Die Opfer schweigen aus Scham oder weil sie bedroht werden und oft haben sie keine Kraft, sich zu wehren oder Hilfe einzuholen. Ich finde, da wird zu wenig getan, aber der Stiefvater ist auch getötet worden. Das kann kein Zufall sein. Er hat es verdient, ich kann dem Täter nicht böse sein.“
„Oh, ich verstehe Sie, aber Gewalt ist auch hier keine Lösung. Es ist der falsche Weg, den Mörder zu töten.“
„Die Polizistin hat zu mir gesagt, dass man gar nicht gegen ihn ermittelt hat, aber dass ihn jetzt jemand zur Rechenschaft gezogen hat, zeigt doch seine Schuld ganz deutlich. Sie war so verstört und zerbrechlich … die kleine Hanka.“
Frau Schmidt runzelte die Stirn und legte einen Arm um Kendra.
„Woher wissen Sie das denn? Kannten Sie die Kleine?“
„Ich … ich … ich habe sie gefunden, im Park unter einem Busch. Sie hat so gewimmert, es war fürchterlich.“
Eine Träne lief aus Kendras Augenwinkel über die Wange und tropfte auf ihre Bluse. Frau Schmidt reichte ihr wortlos ein Taschentuch und drückte sie an sich.
„Wenn ich könnte, würde ich alle diese miesen Typen bestrafen, sie haben es nicht anders verdient. Aber keine Angst“, sagte Kendra mit geballter Faust, „ich weiß, es ist der falsche Weg.“
Dann schloss Frau Schmidt die Tür auf und die ersten Studenten strömten an ihr vorbei in die Bücherei. Einige knurrten mürrisch, andere riefen ihr ein fröhliches „Guten Morgen“ zu, drei junge Männer schwiegen, sodass Frau Schmidt ihnen eine herzliche Begrüßung entgegen schmetterte. Die drei Studenten zuckten zusammen und antworteten höflich, dann verteilten sie sich in den Regalreihen. Frau Schmidt lächelte und trat zu Kendra hinter die brusthohe Theke.
Kendra saß am Computer und aktualisierte die Aus- und Eingänge der Bücher. Ihre Kollegin trug die fertig bearbeiteten Bücher an die richtige Stelle im Regal und legte die Vorbestellungen in einem Korb ab. Die Technik hatte auch hier Einzug gehalten, aber es gab noch das Flair einer Bücherei. Kendra liebte den Geruch der Bücher und fühlte gerne die festen, trockenen Seiten. Wenn mal wenig zu tun war, schlenderte sie durch die endlosen Reihen der Regale, die fast bis zur Decke reichten und rückte den einen oder anderen Buchrücken zurecht. Manchmal las sie auch in einem Fachbuch, besonders die Psychologie und der Weinbau interessierten sie. So war ihr vor kurzem ein Buch in die Hand gefallen, das sich mit dem Thema Gewalt in der Familie beschäftigte und sie suchte nach Erklärungen für ihr eigenes Schicksal. Als sie es wieder ins Regal zurückstellte, fühlte sie sich nicht besser, sie konnte auch ihre Mutter nicht besser verstehen, nur eines war klar geworden: Niemals würde sie es zulassen, dass sich ein Mensch an ihr oder ihren Kindern vergreifen würde.