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Michael war vor Bianca im Büro und stellte die Kaffeemaschine an. Dann füllte er die Obstschale auf und legte seiner Kollegin einen kleinen Schokoriegel auf den Platz. Er fuhr den Computer hoch, überprüfte die Emails und vertiefte sich in den Fall Weißlinger. Es hatte sich herausgestellt, dass seine Frau von den Misshandlungen gewusst und geschwiegen hatte. Bianca hatte Cordelia Bückler, Psychologin und alte Schulfreundin, gebeten, mit der Frau zu reden und was da zutage gefördert wurde, jagte selbst dem abgebrühten Kommissar einen Schauer über den Rücken. Er hatte gar nicht mehr das Bedürfnis, den Mörder von Robert Weißlinger zu suchen, aber das ging ja nicht. Niemand hatte das Recht, Selbstjustiz zu üben, auch wenn das Verbrechen des Mannes noch so grausam war.

Hanka wurde regelmäßig geschlagen, getreten und zweimal hatte er ihre Füße mit heißem Wasser übergossen. Er hatte sie nie ins Gesicht geschlagen, auch die Verbrühungswunden waren nicht zu sehen. Beim Arzt hatte die Mutter angegeben, dass Hanka einen Topf mit kochendem Wasser vom Herd gezogen hatte. Da Hanka immer schon einen Attest für den Sportunterricht hatte, weil sie Probleme mit den Ohren hatte, waren die zahlreichen blauen Flecken an den Armen und den anderen Körperteilen nie jemandem aufgefallen. Die Kleine hatte keine Freunde und niemand beachtete sie, jeden Tag nach der Schule hatte Robert sie abgeholt und dann begann ihr Martyrium erneut.

Wenn Hankas Mutter nicht in der Wohnung war, hatte er das kleine Mädchen in ihrem Kinderzimmer missbraucht. Als die Frau eines Tages früher von der Arbeit kam, weil es in der Firma einen Wasserrohrbruch gegeben hatte, sah sie die wimmernde Hanka und ihren Mann in dieser Situation, aber statt Hanka zu helfen, war sie aus dem Haus gelaufen. Am nächsten Tag sprach sie ihren Mann darauf an und Robert hatte ihr eine schallende Ohrfeige versetzt. Dann zerrte er sie auf den Küchentisch, drückte ihr Gesicht fest auf das kalte Holz und riss ihr die Hose herunter. Er nahm sich, was er für richtig hielt und drohte, er würde Hanka töten und sie müsste dabei zusehen, wenn sie etwas verraten würde.

Hankas Mutter hatte geschwiegen.

Michael spürte eine ohnmächtige Wut. Als seine Kollegin zur Tür hereinkam, atmete er auf und klappte die Akte zu. Bianca begrüßte ihn und spürte sofort, dass er sehr aufgewühlt war. Sie hatte die Gabe, in die Menschen hineinzuschauen. Durch ihre Freundin Cordelia, die Psychologin, wusste sie, dass sie hochsensibel war. Cordelia hatte sich ihr zuliebe ausführlich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Bianca wusste, dass sie sich auf ihre Intuition immer verlassen konnte.

„Hast du wieder die Akte gelesen? Es wird nicht besser, er war ein mieses Dreckstück, aber wir müssen trotzdem seinen Mörder finden.“

„Ich weiß“, seufzte Michael, „aber am liebsten würde ich die Akte schließen und sagen: Das war es, der Täter hat richtig gehandelt.“

„Nein“, widersprach ihm Bianca und er wusste, das sie recht hatte, „es ist niemals der richtige Weg, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Wenn er alle Leute umbringt, die jemand Schwächerem etwas angetan haben, dann kommen wir aus der Arbeit nicht mehr heraus, ich hoffe, der Täter tut das nicht wieder. Nele ist immer noch sehr wütend auf den Oberstaatsanwalt, der jetzt Ermittlungsfehler einräumen musste. Ich denke, in Zukunft wird man wachsamer sein. Es ist vor allem nötig, dass man den Opfern den Rücken stärkt, damit sie gegen ihre Peiniger aussagen.“

Das Telefon klingelte, Bianca nahm ab. Sie lauschte in den Hörer.

„In Ordnung, wir kommen sofort.“

Sie legte auf und sah Michael an.

„Was?“

„Mord im Rotlichtmilieu. Es hat einen Zuhälter erwischt. Er klebt in der Garage zwischen einer Wand und einem Laster.“

„Oha, das hört sich nicht gut an.“

Sie eilten zum Dienstwagen und fuhren mit Blaulicht nach Martinsthal, wo sich am Waldrand etwas außerhalb eine neugebaute Villa befand. Das Tor zum Parkeingang und das elektrische Roll-Tor zur Garage standen offen, eine Streife sicherte alles ab. Die Presse war schon vor Ort und musste mit Nachdruck zurückgedrängt werden. Bianca und Michael wurden durchgewinkt und hielten ein wenig abseits unter einer großen Eiche.

Der Hausmeister kam ihnen entgegen und rief, wobei er mit beiden Armen fuchtelte: „Da können Sie nicht parken. Das ist ein gepflegter Rasen.“

Michael ließ sich nicht beirren und fragte nüchtern: „Wer sagt das?“

„Mein Chef hat das immer gesagt: Nicht auf dem Rasen parken.“

„Ist das nicht der Tote in der Garage?“

Der Hausmeister nickte.

„Tja, dann ist ihm jetzt wahrscheinlich egal, wo ich parke.“

Damit ließ er den vor Wut schäumenden Mann stehen, Bianca grüßte ihn übertrieben höflich und folgte Michael in die Garage, wo ein großer Laster die Sicht versperrte. Hinter dem Fahrzeug kam ein junger Mann hervor und zuckte plötzlich zurück. Es war Pit Deicker von der Spurensicherung. Bianca schnaufte hörbar. Michael stellte sich dicht neben sie.

„Meine Schöne, wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht gesehen. Hast du mich vermisst?“

Bianca ging nicht darauf ein und fragte nach der Tat. Pit zog pikiert die Augenbrauen hoch, ehe er sachlich zusammenfasste, was hier passiert war.

„Richard Rizzo Rosselinger heißt unser Opfer, eine Frankfurter Rotlichtgröße, der sich vor knapp zwei Jahren hier niedergelassen hat. Er hat keine großen Geschäfte mehr gemacht, ist aber bekannt wie ein bunter Hund. Er war vor einem halben Jahr in aller Munde gewesen, weil zwei junge Mädchen aus Polen in einem seiner Häuser im Keller gefunden wurden, sie waren misshandelt und getötet worden. Er stand unter Verdacht, aber niemand konnte ihm etwas nachweisen. Angeblich kannte er die jungen Frauen nicht und das Haus war vermietet. Eine war erst fünfzehn, die andere war die große Schwester und schon achtzehn. Er ist davongekommen. Jetzt ist er zerquetscht worden, von wem auch immer. Es hat jedenfalls kein Unschuldslamm getroffen.“

Dann wandte sich Pit ab und ließ sie einfach stehen.

„Ich rede mal mit dem Hausmeister, zu dem du so nett warst. Und Michael … danke.“

Michael streichelte ihr sanft über den Arm. Dann ging er um den Laster herum und presste sich die Faust auf den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen. Die Leiche war im wahrsten Sinne des Wortes zerquetscht worden. Michael konnte nicht mehr hinsehen, aber er war sich sicher, dass dieser Mann etwas ganz Schlimmes getan haben musste. So zu sterben musste eine Qual sein. Seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte er alles kommen sehen, es war schmerzverzerrt, der Mund zum Schreien weit aufgerissen. Die offenen Augen des Mannes verrieten, was er in seinen letzten Sekunden gefühlt hatte. Überall waren Blutspritzer. Die Tür des Lasters stand offen und als Michael sich bückt, weil er etwas Weißes unter dem Sitz schimmern sah, zuckte er zusammen. Dort lag eine kleine, weiße Stoffrose.

„Scheiße“, murmelte er und winkte Pit Deicker heran. „Was denkst du darüber?“

„Oha, die kenne ich doch. Mist, sollte es der gleiche Täter sein wie am Rhein? Das wäre ja wirklich ein Ding.“

„Es würde schon mit dem Teufel zugehen, wenn zwei verschiedene Täter ausgerechnet dieselbe Idee mit der Rose hätten, oder?“

Pit sah Michael an und nickte. Er nahm einen kleinen Plastikbeutel und tat die Rose hinein, dann verschloss er die Tüte sorgfältig. Michael wollte gerade zu Bianca nach draußen gehen, als Pit ihn am Ärmel festhielt.

„Wir sind zwar nicht die besten Freunde, aber sag mir bitte, wie es Bianca geht.“

„Es geht ihr gut. Warum? Ich denke, ihr habt euch getrennt.“

„Ach, ich glaube, sie braucht nur eine Auszeit, bis sie wieder zu mir zurückkommt, ist nur eine Frage der Zeit. Sie kann doch gar nicht ohne mich leben.“

„Pit, sei nicht sauer, aber sie hat mir erzählt, was du so alles veranstaltet hast. Sie kann sehr wohl ohne dich leben, also akzeptiere das und lass sie in Ruhe.“

Pit blickte finster in Michaels ruhiges Gesicht.

„Du hast doch nichts mit ihr, oder? Lass du mal die Finger von ihr, sonst …“

„Pit, lass gut sein, ich bin weg. Und nein, ich habe nichts mit ihr.“

Michael ging schnell aus der Garage und spürte den stechenden Blick von Pit in seinem Rücken. Draußen kam ihm Bianca entgegen. Sie runzelte die Stirn und wollte wissen, was los war. Michael wollte sie nicht beunruhigen und beschrieb den Anblick des toten Mannes.

„Eine weiße Rose lag im Auto.“

„Oh.“

Bianca hatte schon so ein merkwürdiges Gefühl gehabt, als Pit von den misshandelten Mädchen berichtet hatte, nun gingen in ihrem Kopf alle Alarmsirenen an.

„Der gleiche Täter? Das wäre furchtbar. Geht hier etwa ein Rächer um und bestraft Menschen, die jemanden misshandelt haben? Mist, wir müssen mit Nele reden, sofort.“

„Ja, die Staatsanwältin muss darüber Bescheid wissen. Wenn das Morden weitergeht, geraten wir mächtig unter Druck. Die Bevölkerung wird sich ihr eigenes Urteil bilden, hoffentlich gibt es keine Hexenjagd.“

„Hoffentlich gibt es keinen weiteren Toten. Das mit der Rose darf auf keinen Fall an die Presse gelangen.“

„Was sagt der Hausmeister?“, fragte Michael, als sie sich wieder ins Auto gesetzt hatten.

„Er hat den Toten gefunden und sofort die Polizei gerufen. Der Typ war sein Hausmeister, sein Chauffeur und sein Bodyguard. Er hatte aber feste Arbeitszeiten, von acht Uhr morgens bis neun Uhr abends. Gestern Abend hat sein Chef noch vor dem Fernseher gesessen, als er Feierabend hatte. Es war alles wie immer. Die Alarmanlage schaltet sich um Mitternacht automatisch scharf. Sie war heute Morgen aus.“


Bis die Gerechtigkeit dich holt

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