Читать книгу Bis die Gerechtigkeit dich holt - Ute Dombrowski - Страница 4
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ОглавлениеDie junge Frau mit den blonden Haaren saß am Rheinufer in Rüdesheim und hielt ihr Gesicht in die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings. Er hatte sich Zeit gelassen und den ganzen März hindurch mit dem Winter gerungen. Nach unendlich vielen Tagen mit Schnee, Sturm, Eisregen und dunklen Wolkenbergen hatte die Wärme der Sonne den Winter bezwungen. Von einem Tag auf den anderen war es Frühling geworden.
Die Menschen eilten mit leichten Jacken an ihr vorbei. Sie saßen auf Bänken, führten ihre Hunde spazieren oder spielten mit ihren Kindern.
Lisa hatte die Augen geschlossen. Sie war erst vor kurzem in den Rheingau gezogen. Nach der Arbeit auf dem Weg von Wiesbaden nach Hause hielt sie immer noch am Rhein an und lief den geraden, von alten Bäumen gesäumten Weg entlang. Ihre Mutter war vor einigen Jahren gestorben. Seitdem war sie ganz allein auf dieser Welt. Sie wusste nichts über ihren Vater oder darüber, ob sie Geschwister hatte. Sie wusste nur, dass sie vor vierzehn Jahren nach einem Unfall aus dem Koma, das sie lange Zeit mit Dunkelheit erfüllt hatte, erwacht war. Die Frau an ihrem Bett hatte geweint, als sie die Augen aufschlug.
„Wer sind Sie?“, hatte Lisa gefragt.
Die Frau schluchzte nun noch heftiger.
„Erkennst du mich nicht? Ich bin es, deine Mama. Du hattest einen schweren Unfall.“
Lisa hatte verwirrt geschwiegen. Jetzt kamen die Ärzte und kümmerten sich eilig um sie. Einer leuchtete in ihre Augen. Der nächste maß ihre Temperatur. Jemand befestigte kleine Metallplättchen auf ihrem Kopf, um die Hirnstromwellen zu messen. Sie gaben kurze Anweisungen, sprachen aber sonst nicht mit dem zehnjährigen Mädchen. Lisa begriff, wer sie war, aber alles, was vor dem Unfall lag, war in der Dunkelheit geblieben. Die Ärzte wussten auch nicht, ob sie sich irgendwann wieder an ihre Vergangenheit erinnern würde.
Sie ging mit der fremden Frau in eine Wohnung, die ihr Zuhause sein sollte und aß Essen, das ihr Lieblingsgericht sein sollte. Sie wohnte in einem ihr unbekannten Zimmer und schlief in einem fremden Bett. Der kleine blaue Bär, der im Krankenhaus neben ihr gelegen hatte, war ihr einziger Freund und Vertrauter. Mit ihm besprach sie alles, was ihr wichtig erschien.
Langsam nahm der Alltag seinen Lauf. Lisa saß in der Schule und lernte fleißig. Mit den anderen Kindern hatte sie kaum Kontakt. In den Pausen stand sie allein und unauffällig in einer Ecke des Schulhofes und war froh, dass niemand Interesse an ihr zeigte. Sie machte ein gutes Abitur, studierte mit großem Erfolg Pharmazie und hatte vor einem Jahr begonnen, in der Krankenhausapotheke zu arbeiten. Der Verlust der Mutter hatte sie nicht sehr berührt, denn die Frau mit den blonden Locken war ihr fremd geblieben. Anderen Menschen ging sie, so weit dies möglich war, aus dem Weg. Lisa war gern allein. Sie empfand das Alleinsein nicht als bedrückende Einsamkeit, sondern als friedlichen Ruhebereich für ihre Seele.
Niemand hatte ihr jemals erzählt, was bei dem Unfall geschehen war. Ihre Mutter weigerte sich. Später hatte sie es vergessen und wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, danach zu fragen.