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„Lass die Finger von der Kleinen!“

„Was willst du denn, du Spinner“, sagte Ricardo verärgert zu Paolo. „Was ich mache, geht dich gar nichts an. Und jetzt verpiss dich, sonst ..."

Ricardo hatte Paolo an der Jacke festgehalten und stieß ihn nun weg. Sie waren einmal beste Freunde gewesen, dann hatte sich Ricardo schon als Dreizehnjähriger mit Alkohol und Drogen amüsiert, was Paolo zuwider war, seit seine große Schwester im Vollrausch vor einen Bus gelaufen und gestorben war. Sie waren erbitterte Feinde geworden, denn Ricardo ließ keine Möglichkeit aus, den fleißigen, stillen Jungen zu demütigen. Erst in der Oberstufe hatte das aufgehört. Paolo hatte allen Grund, sich um Nelly Sorgen zu machen, hatte er doch die Blicke des verliebten Mädchens richtig gedeutet. Aber so einer wie Ricardo war kein Mann für die erste Liebe einer Fünfzehnjährigen.

„Sonst?“

Ricardo stieß Paolo noch einmal gegen die Brust, aber ehe sich Paolo wehren konnte, kamen Martin und Kevin aus dem Gebäude.

„Ich behalte dich im Auge. Wenn du Nelly irgendetwas tust, mache ich dich fertig.“

Paolo drehte sich um und lief weg. Martin trat zu seinem Freund.

„Was wollte der Penner?“

„Der hat mir gedroht, dass ich die Finger von Nelly lassen soll. Lächerlich, spielt den Helden. Der soll mir noch einmal in die Quere kommen, dann kriegt er eins auf die Fresse.“

„Ja, genau!“, brüllte Kevin Paolo hinterher. „Auf die Fresse, aber sowas von. Wichser!“

Kevin hatte glasige Augen, seine Bewegungen waren fahrig, er wirkte aber vollkommen überdreht. Martin öffnete die Autotür und drückte Kevin hinein.

„Halt dein Maul und setz dich ins Auto. Es ist unfassbar, dass du dir in der Schule was einwerfen musstest.“

„Na und, es ist Wochenende“, lallte Kevin und wollte die Tür zuziehen.

Martin setzte sich neben Ricardo und sie fuhren los. Wie immer brachte Ricardo zuerst Martin und danach Kevin heim. Dann fuhr er zurück zur Schule und hielt vor dem Tor bei der Sporthalle. Er wusste, dass die neunten Klassen heute Nachmittag noch Sportunterricht hatten. In zwanzig Minuten würde es klingeln und dann wollte er Nelly abpassen. Vielleicht hatte er die Chance, sie nach Hause zu fahren.

Da er noch Zeit hatte, nahm er sein Handy und rief Linda an.

„Hallo, Schatz“, rief diese erfreut in den Hörer.

„Liebes, ich muss dir etwas sagen. Es fällt mir sehr schwer. Ich habe jemanden kennengelernt, der mir seit Tagen im Kopf herumschwirrt. Ich dachte wirklich, du bist die Frau fürs Leben, aber ich kann nicht mit dir zusammenbleiben, es wäre eine Lüge und das hast du nicht verdient. Süße, weine nicht, ja? Wir bleiben Freunde.“

„Wer ist sie? Kenne ich sie?“, schluchzte Linda.

„Nein, meine Liebe, sie wohnt in meiner Straße und muss bald wieder ins Internat. Ich möchte so gerne noch schöne Stunden mit ihr verbringen, ehe ich wieder eine Ewigkeit warten muss.“

Ricardo grinste und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Er lauschte auf die Reaktion von Linda, die nicht lange auf sich warten ließ.

„Oh Schatz, ich bin so stolz auf dich, dass du ehrlich zu mir bist. Aber natürlich bin ich auch traurig, dass wir nicht mehr zusammen sein können. Ich verstehe dich so gut. Du bist ein toller Mann und ich wünsche euch nur das Beste.“

Sie verabschiedeten sich und legten auf, als es zum Unterrichtsschluss klingelte. Ricardo stieg aus und lehnte sich mit den Händen in den Jeanstaschen lässig an das Geländer neben dem Weg zur Bushalte­stelle. Als Nelly und Simona um die Ecke kamen, glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen. Dort stand ihr Traummann in voller Größe und stieß sich vom Geländer ab, um lächelnd auf sie zuzukommen.

„Na, meine Schönen? Wie war Sport beim Drachen?“

Nelly klopfte das Herz bis zum Hals und sie brachte keinen Ton heraus. Ihre Hand krampfte sich um den Gurt der Sporttasche. Simona war fassungslos und starrte ihren großen Schwarm an.

„Hast du auf uns gewartet?“

„Was dachtest du denn?“

Nelly hatte ihre Sprache nun auch wiedergefunden und sagte ernst: „Ich dachte, du wartest vielleicht auf deine Freundin Linda.“

Sie hielt Simonas Arm fest, damit sie sich nicht direkt an Ricardos Hals werfen konnte. Er winkte ab und tat so, als würde er eine Träne aus dem Augenwinkel wischen.

„Sie ist eine miese Schlange. Linda hat mich nach Strich und Faden betrogen, letzte Woche habe ich sie mit einem anderen Typen in einer Ecke erwischt.“

Nelly runzelte die Stirn und entgegnete: „Du hast doch heute noch mit ihr geknutscht.“

„Wir wollten es noch einmal probieren, aber es hat nicht funktioniert. Ich musste auch ständig an ein anderes Mädchen denken.“

Simona streckte die kleinen Brüste heraus und lächelte umwerfend. Sie dachte immer noch, sie wäre gemeint. Darum schob Nelly sie nun vorwärts.

„Na, so eine tolle Neuigkeit, da wird sich Simona aber freuen. Sie ist schon lange in dich verliebt.“

Simona drehte sich zu Nelly um und schaute sie böse an. Sie dachte: Nelly ist ja so eine peinliche Person, die blamiert mich hier vor dem tollsten Mann der Welt, aber sie meint es sicher nur gut.

„Nein, nein“, hörte sie Ricardo sagen, „es ist nicht deine Freundin, die ich nicht mehr aus dem Kopf kriege. Du bist es, Nelly. Ich möchte dich gerne näher kennenlernen. Darf ich euch heimbringen?“

Nelly schluckte. Simona schaute sie wieder an und hatte Tränen in den Augen. Der Mann ihrer Träume stand auf ihre beste Freundin, es war einfach ungerecht. Nelly war das alles unangenehm.

„Ähm, nein, du kannst mich nicht heimfahren. Wenn mein Vater das mitbekommt, dann erschlägt er dich und ich bekomme drei Jahre Hausarrest. Das geht nicht, aber danke. Vielleicht magst du Simona heimfahren?“

„Gut, dann horche ich sie ein wenig über dich aus. Simona, sei nicht traurig, ich finde dich nett, aber ich habe mich unsterblich in deine Freundin verliebt. Darf ich dich nach Hause bringen?“

Simona nickte, küsste Nelly auf die Wange und winkte ihr traurig und enttäuscht zu, ehe sie in den Sportwagen schlüpfte. Ihre Eltern waren um die Zeit noch nicht zuhause. Da war egal, dass sie aus dem Auto eines fremden Jungen stieg. Nelly winkte den beiden. Als sie an ihrer Bushaltestelle stand, hielt Ricardo nochmal neben ihr und ließ die Scheibe herunter.

„Bis morgen, meine Schöne. Jetzt freue ich mich noch viel mehr auf die Schule.“

Sein Lächeln war umwerfend, er zwinkerte und dann rollte er davon, neben sich Simona, die immer noch nicht zufriedener aussah. Aber wenigstens hatten die anderen Mädchen sie gesehen. Die steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Nelly atmete auf, als der Sportwagen um die nächste Ecke verschwunden war. Dann grinste sie verliebt vor sich hin.

Tränen im Sommer

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