Читать книгу Tränen im Sommer - Ute Dombrowski - Страница 5

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Nelly hatte in den zwei Wochen nach ihrem Geburtstag Paolo nur einmal kurz in der Ferne auf dem Schulhof gesehen. Nun stand sie mit Simona und drei weiteren Mädchen aus der Klasse vor der Sporthalle. Gleich würde Frau Bürau kommen, die sie seit der fünften Klasse unterrichtete. Nelly kramte in ihrer Sporttasche nach einem Haargummi, denn die strenge Sportlehrerin verlangte von den Mädchen mit langen Haaren einen geflochtenen Zopf. Simona schaute unruhig zwischen den anderen hinunter zum großen Schulhof, wo ihr großer Schwarm Ricardo Linda Vahrek aus der elften Klasse küsste. Die beiden schienen seit einer Woche ein Paar zu sein. Dementsprechend mies war Simonas Laune.

„Was findet er an der? Die ist doch so eine Püppi ohne Hirn.“

Norma sagte trocken: „Die macht mehr als küssen. Ich habe gehört, sie hat schon fast alle Oberstufenschüler durch.“

„So eine Schlampe“, zischte Ina, die Mitleid mit Simona hatte. „Er würde viel besser zu dir passen. Ich finde ihn auch so süß.“

„Verdammt, wo ist dieser blöde Haargummi?“

Nelly hatte nur mit halbem Ohr zugehört, richtete sich nun verärgert auf und warf die Sporttasche zu Boden.

„Hat eine von euch noch einen Haargummi? Sonst muss ich den Hof kehren.“

Die Mädchen schüttelten den Kopf. Simona und Ina benötigten ihren selbst, Norma hatte genauso kurze Haare wie Becky, die wie immer schwieg. In dem Moment bog Heide Bürau um die Ecke. Die drahtige Frau Mitte fünfzig hatte wie immer den mausgrauen Trainingsanzug und die dazu passenden Turnschuhe an, die Scharen von Gymnasiasten zu wilden Geschichten inspiriert hatten. Einige sagten, der Anzug sei ein Erbstück von ihrer Mutter, andere behaupteten, Heide Bürau gesehen zu haben, als sie mit einer große Tasche aus der Kleiderkammer kam. Die Mädchen hatten Angst vor ihr, denn sie war gemein und wenn eine Schülerin unsportlich oder übergewichtig war, wurde sie von ihr vor der ganzen Klasse vorgeführt. Oft gab es Tränen im Sportunterricht.

Nelly trat an die Lehrerin heran und sagte kleinlaut: „Frau Bürau, ich kann meinen Haargummi nicht finden. Darf ich ausnahmsweise …“

Weiter kam Nelly nicht, denn die Lehrerin fiel ihr ins Wort: „Tja, Fräulein, du weißt, was das heißt. Keine Diskussion. Geh zum Hausmeister und hol den Besen und die Kehrschaufel!“

Nelly sah hilfesuchend zu Simona, aber die schüttelte nur den Kopf. Genervt nahm Nelly ihr Sportzeug und die Schultasche und lief die Treppe hinunter zum großen Schulhof, auf dem das Pärchen immer noch knutschend stand.

„Scheiße, so eine blöde Kuh!“, fluchte Nelly und warf ihre Sachen auf die Tischtennisplatte.

Sie sah, wie Ricardo seine großen, gepflegten Hände fest auf Lindas Po drückte und hörte sie dazu kichern. Dann machte sich Linda los, grinste Nelly an und lief eilig ins Haus. Ricardo drehte sich zu Nelly um, klatschte in die Hände und kam auf sie zu. Mit einem lässigen Schwung setzte er sich auf die Tischtennisplatte.

„Haargummi vergessen?“

Nelly nickte. Sie schaute dem Schwarm ihrer Freundin in die blauen Augen mit den langen Wimpern und konnte Simona in diesem Moment gut verstehen. Sein Gesicht war schmal, auch die Nase. Der Mund mit den vollen Lippen wurde von einigen kurzen Barthaaren eingerahmt. Sein dunkelblondes Haar war locker nach hinten gestylt, er trug einen winzigen Stein im linken Ohrläppchen und zeigte ihr nun ein Lächeln mit blendend weißen Zähnen. Unter seinem weißen T-Shirt zeichnete sich ein gut trainierter Oberkörper ab. Seine Haut war glatt und gebräunt und mit einem Windzug wehte Nelly ein edler Duft entgegen. Ricardo zwinkerte ihr zu, rutschte von der Tischtennisplatte und griff nach seiner Schultasche. An der Treppe drehte er sich noch einmal um.

„Und schön sauber machen, Kleine.“

Nelly hatte es die Sprache verschlagen. Was war los mit ihr? Sie konnte nicht mehr atmen und sich nicht bewegen. Eigentlich müsste sie jetzt Besen und Schaufel holen, aber sie war wie versteinert. Dieses Zwinkern am Schluss galt ihr allein. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Oh nein, dachte Nelly, ich bin verknallt. War das die berühmte Liebe auf den ersten Blick? Seufzend kniff sie sich in den Oberschenkel, was sie endlich wieder zur Besinnung brachte.

„Simona, verzeih mir. Ich bin verknallt.“

Dann lief sie zum Hausmeister und begann den Hof zu kehren, nachdem sie das Werkzeug erhalten hatte. Der hatte schmierig gegrinst, denn der wusste genau, warum die Schülerinnen das tun mussten. Er mochte Frau Bürau sehr. Der Schulhof war meist wie geleckt, denn nach der Stunde ging sie mit der Betroffenen über die Steine und zeigte auf jeden noch so kleinen Krümel, der liegengeblieben war. Für die Schülerin war das immer sehr peinlich, darum gaben sich alle sehr große Mühe.

Morgen werde ich mir fünf Haargummis in die Sporttasche packen, schwor sich Nelly insgeheim.

Tränen im Sommer

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