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4.Verfassungsauslegung

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10Erkenntnisziel der Rechtswissenschaft als Rechtsdogmatik19 ist es, den Sinn von Rechtssätzen zu ermitteln. Diese Frage stellt sich im Hinblick auf den Sinnzusammenhang innerhalb einer Rechtsordnung wie auch im Hinblick auf den Sinn (die Bedeutung) eines Rechtssatzes in Bezug auf ein konkretes Problem.20 Mit der Frage nach Sinn und Bedeutung eines von Menschen geschaffenen Gegenstandes erweist sich die Rechtswissenschaft als eine hermeneutische Wissenschaft. Hermeneutik ist die Lehre vom Sinnverstehen. Rechtsdogmatik ist Bestandteil der Rechtswissenschaft, weil und soweit sie ergebnisoffen mit rational nachvollziehbaren Methoden nach dem Sinn von Rechtssätzen fragt.21 Da ihr Gegenstand das geltende Recht ist, ist sie von herausragender Bedeutung für Ausbildung und Praxis. Die anderen Disziplinen der Rechtswissenschaft werden insoweit richtig als Grundlagenfächer bezeichnet, als sie die historischen, philosophischen, soziologischen und theoretischen Grundlagen vermitteln, die einen kritischen Umgang mit dem geltenden Recht ermöglichen, zu seinem richtigen Verständnis beitragen und es für neue Entwicklungen offenhalten.

11Den für die Rechtswissenschaft (Rechtsdogmatik) klassischen Kanon von Auslegungsmethoden hat Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) formuliert.22 Ausgangsbasis und Grenze der Auslegung ist der Wortlaut eines Rechtssatzes. Die verwendeten Begriffe sind jedoch in der Regel unscharf. Dies zeigt sich selbst bei vermeintlich eindeutigen Bestimmungen angesichts konkreter Streitfälle, die den Text zum Problem werden lassen.

So stellte sich etwa angesichts der Vertrauensfragen von Bundeskanzler Kohl und später von Bundeskanzler Schröder auf der Grundlage des Art. 68 Abs. 1 GG das Problem, ob diese Frage rein formal und mit dem Ziel, die Rechtsfolge der Parlamentsauflösung herbeizuführen, gestellt werden darf oder ob sie wahrhaftig auf die parlamentarische Bestätigung des Vertrauens in den Kanzler gerichtet sein muss.23 Auch der Wortlaut des Art. 22 Abs. 2 GG: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.“ ist nicht eindeutig, denn er sagt nichts über die Anordnung der Farben, etwa ob es sich um Kreise oder Farbstreifen handelt, um eine horizontale oder vertikale Ausrichtung.

Um die Mehr- bzw. Vieldeutigkeit von Begriffen zu reduzieren, kommen als weitere Auslegungsmethoden die systematische, die teleologische und die historische Auslegung zur Anwendung.

12Die systematische Auslegung fragt nach dem Sinn des Wortlauts im Zusammenhang mit dessen Stellung im Gesetz als Ganzes. So folgt etwa aus der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG, dass der Begriff „Akt der öffentlichen Gewalt“ im Zusammenhang mit der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG Parlamentsgesetze umfasst. Aus dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts für Parlamentsgesetze (Argument aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, Art. 100 GG) ergibt sich demgegenüber, dass Rechtsschutz durch die in Art. 19 Abs. 4 GG angesprochene Gerichtsbarkeit nicht auf die Nichtigerklärung von Parlamentsgesetzen gerichtet sein kann; der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ im Sinne des Art. 19 Abs. 4 umfasst daher, trotz gleichen Wortlauts, Legislativakte nicht.24

13Von großer Bedeutung ist die teleologische Auslegung, die nach dem Sinn und Zweck einer Rechtsnorm fragt. Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 4 GG ist die Gewährleistung von Rechtsschutz durch Gerichte, also Richter. Würden Akte der Judikative zur öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG gezählt, so führte dies zur Garantie eines Rechtsschutzes vor dem Richter, mit anderen Worten zur Garantie eines unendlichen Instanzenzuges. Daraus wird gefolgert, dass der Begriff „öffentliche Gewalt“ im Rahmen der Rechtsweggarantie ausschließlich Akte der vollziehenden Gewalt meint.25

Als weiteres Beispiel lässt sich der Zweck des Art. 68 GG, auf Regierungsstabilität hinzuwirken, anführen, aus dem sich ein teleologisches Argument gegen eine rein formale Lesart des Vertrauensbegriffs im Rahmen der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers und damit gegen dessen Umfunktionierung zu einem Instrument der Parlamentsauflösung gewinnen lässt. Einen Sonderfall systematisch-teleologischer Auslegung stellt es dar, wenn der Verfassung insgesamt ein Sinn und Zweck zugewiesen wird, in dessen Lichte alle Verfassungsnormen auszulegen sind.26

14Innerhalb der historischen Auslegung ist die Entstehungsgeschichte (genetische Auslegung) und die Dogmengeschichte (historische Auslegung ieS.) zu unterscheiden. Die Entstehungsgeschichte fragt nach den Gründen und Umständen für den Erlass einer Norm. Sie hat eine Nähe zur subjektiven Auslegungsmethode, die nach dem Willen und den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers fragt. Diese Auslegungsmethode kann von besonderem Respekt gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber zeugen und insoweit besonders demokratisch sein; sie hat jedoch den Nachteil, dass tatsächliche Entwicklungen, die der historische Gesetzgeber nicht vorhergesehen hat, bei der Gesetzesauslegung unberücksichtigt bleiben. Das Bundesverfassungsgericht bevorzugt daher die objektive – an Wortlaut, Zusammenhang und Sinn orientierte – Auslegungsmethode,27 womit der Entstehungsgeschichte nur eine untergeordnete, bestätigende Rolle für die Sinnermittlung eines Rechtssatzes zukommt. Entsprechend größer ist der Einfluss der Rechtsprechung.

15Ebenfalls nur von untergeordneter Bedeutung ist in der Regel die historisch-dogmengeschichtliche Auslegung. Sie beleuchtet eine Rechtsnorm im Lichte ihrer Vorläuferbestimmungen sowie der historischen Hintergründe. Letztere sind es, die aus der Bestimmung zur Bundesflagge gemäß Art. 22 Abs. 2 GG eine eindeutige Bestimmung machen.28 Für die historische Auslegung des Grundgesetzes sind insbesondere die Verfassung der Frankfurter Paulskirche von 1849 sowie die Weimarer Reichsverfassung zu berücksichtigen.29 In der noch jungen Bundesrepublik haben Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft das Grundgesetz vielfach im Lichte der Erfahrungen der Weimarer Republik interpretiert.30 Mit den Jahren hat jedoch der Rückgriff auf die Weimarer Erfahrungen an Bedeutung verloren. Im Zusammenhang mit den Katalogen über die Gesetzgebungsmaterien in den Art. 73 und 74 GG betont das Bundesverfassungsgericht allerdings nach wie vor die historische Auslegung mit der Begründung, dass in diesem Bereich die Begriffe an das historisch gewachsene Verständnis anknüpfen.31

16Wie die Beispiele bereits gezeigt haben, sind die klassisch hermeneutischen Auslegungsmethoden auch auf die Normen des Verfassungsrechts anwendbar. Allerdings stellen Verfassungsnormen regelmäßig besonders hohe Anforderungen an die Kunst der Auslegung. Dies liegt an dem grundlegenden Charakter der Verfassung, der zur Folge hat, dass ein Großteil der Verfassungsnormen Prinzipiencharakter32 aufweisen. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Auslegungsarbeit darin besteht, angesichts eines konkreten Streitfalles aus den angesprochenen, möglicherweise gegenläufigen Prinzipien den Rechtssatz, der den Streitfall einer Lösung zuführt, überhaupt erst zu schaffen.33 Insoweit wird von einer hermeneutisch-konkretisierenden Auslegungsmethode oder einer topisch-problemorientierten Auslegungsmethode gesprochen, je nachdem, ob die Auslegung vom Verfassungstext oder vom Problem dominiert wird.34 In jedem Fall folgt aus dem weitgehend prinzipienhaften und/oder nur Rahmen gebenden Charakter der Verfassung, dass es für das Studium des Verfassungsrechts von größter Bedeutung ist, die grundlegenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts35 zu lesen, nachzuvollziehen und zu verstehen. Hierzu sind die wichtigsten Entscheidungen in den einzelnen Kapiteln nachgewiesen. Im Anhang findet sich eine Zusammenstellung.

17Angesichts der europäischen und internationalen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland kann im Einzelfall auch eine europarechtskonforme oder völkerrechtsfreundliche Auslegung nötig sein.36 Grenze ist jedoch stets der Wortlaut.37 Darüber hinaus kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts eine Analogie erfordern. So überschreitet die Umwandlung von Deutschen-Grundrechten in Unionsbürger-Grundrechte zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit die Möglichkeiten europarechtskonformer Auslegung. Das europarechtlich gebotene Ergebnis der Gleichbehandlung von Deutschen und nichtdeutschen Unionsbürgern muss auf anderem Wege erreicht werden. Da die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht für eine europarechtskonforme Auslegung zur Verfügung steht,38 fehlt es an einer planwidrigen Lücke und bedarf es daher keiner Analogie. Die Erstreckung der Grundrechtsträgerschaft von inländischen juristischen Personen auf juristische Personen mit Sitz in EU-Mitgliedstaaten hat das Bundessverfassungsgericht dagegen als „Anwendungserstreckung“ bezeichnet, die durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts geboten sei.39 In der Sache handelt es sich um eine Analogie.40

Im Wege völkerrechtsfreundlicher Auslegung interpretiert das Bundesverfassungsgericht nicht selten Grundrechte mit Blick auf die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention.41 „Der Text der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.“42 Die Grenzen dieser völkerrechtsfreundlichen Auslegung ergeben sich ebenfalls aus dem Grundgesetz. Verbindliche Wirkung für die Verfassungsauslegung kommt der EMRK nicht zu, denn sie hat innerstaatlich nur den Rang eines einfachen Gesetzes.43

18Alle hier angesprochenen Auslegungsmethoden stehen zueinander in einem Verhältnis der gegen- und wechselseitigen Ergänzung und schließen sich nicht aus. Ein Auslegungsergebnis ist umso überzeugender, je mehr die Anwendung der verschiedenen Methoden zu demselben Ergebnis führt.

Literatur: R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 7. Aufl. 2012; E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089; T. Darnstädt, Die Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, NJW 2019, 1580; M. Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873; T. Hofmann, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, Jura 2013, 326; U. Mager, „Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft“, JA Sonderausgabe 2006, 33; Fr. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Band I – Grundlagen, Öffentliches Recht, 11. Aufl. 2013; B. Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157; Ch. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: HStR XII, 3. Aufl. 2009, § 271; A. Voßkuhle, Der Wandel der Verfassung und seine Grenzen, JuS 2019, 417; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012.

Rechtsprechung: Zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung BVerfGE 148, 296 – Beamtenstreik; Zur Auslegung des Grundgesetzes s. beispielhaft BVerfGE 4, 96 – Tariffähigkeit; 61, 149 – Staatshaftungsgesetz; 62, 1 – Auslegung von Art. 68 GG.

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