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1.3Die Weimarer Reichsverfassung
Оглавление26Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution von 1918 verlor die Reichsverfassung von 1871 ihre Gültigkeit. Am 19. Januar 1919 wurde nach den Grundsätzen der allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl die Nationalversammlung gewählt, die am 6. Februar 1919 im Nationaltheater in Weimar zusammentraf. Auf der Grundlage eines Entwurfs des Staatsrechtslehrers Hugo Preuß beriet die Versammlung über die Reichsverfassung, die mit erheblichen Abweichungen21 von diesem Entwurf am 31. Juli 1919 beschlossen und am 11. August 1919 verkündet wurde.22
27Gemäß Art. 1 Satz 1 WRV war das Deutsche Reich eine Republik; Art. 1 Satz 2 WRV bestimmte, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Die Bundesstaatsstruktur zeigte starke zentralistische Tendenzen. Die Regierung war zwar dem Parlament verantwortlich (parlamentarische Demokratie), war jedoch letztlich vom Wohlwollen des Reichspräsidenten abhängig, der sie ohne Mitwirkung des Reichstags ernannte (Art. 43 WRV). Die starke Stellung des Reichspräsidenten, konzipiert in Anlehnung an die Stellung des Kaisers, zeigte sich auch in seinem Recht, den Reichstag aufzulösen (Art. 25 WRV) sowie in seinem Notverordnungsrecht gemäß Art. 48 Abs. 2 WRV, von dem die Reichspräsidenten ausgiebig Gebrauch machten.23 Während Reichspräsident und Reichsregierung also in der Lage waren, ohne das Parlament zu regieren, wurde dessen politische Handlungsfähigkeit dadurch gehemmt, dass die politischen Differenzen in der Gesellschaft sich gemäß dem verfassungsrechtlich verankerten reinen Verhältniswahlrecht (Art. 22 WRV) ungehemmt im Reichstag auswirken konnten. Die Verbindlichkeit der Verfassung schließlich bestand gegenüber dem Gesetzgeber nur eingeschränkt. Zum einen waren nach der herrschenden rechtspositivistischen Lehre die unter einem Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrechte der beliebigen Beschränkung durch Gesetz ausgeliefert.24 Zum anderen enthielt die Weimarer Reichsverfassung keinerlei inhaltliche Vorkehrungen gegen Verfassungsänderungen. Sofern nur die nötige 2/3-Mehrheit von mindestens 2/3 der gesetzlichen Mitgliederzahl erreicht war und der Reichsrat keinen Einspruch erhob (Art. 76 WRV), war jegliche Verfassungsdurchbrechung25 möglich. Auf diese Weise konnte der Reichstag sich durch Ermächtigungsgesetze, schließlich durch das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich26 selbst entmachten.
28Die Weimarer Reichsverfassung war nicht in der Lage, die freiheitliche Demokratie in einer außerordentlich schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage gegenüber extremen und totalitären Kräften zu bewahren. Ob eine andere Verfassung die Katastrophe des Nationalsozialismus hätten abwenden können, lässt sich nicht beantworten. Sicher ist, dass das Grundgesetz in einer Vielzahl seiner Bestimmungen Lehren aus den Erfahrungen der Weimarer Republik und ihrem Untergang ziehen will und die Schwächen der Weimarer Reichsverfassung zu vermeiden sucht.27
Literatur: Ch. Bickenbach, Totenschein für die Weimarer Republik, Recht und Politik 2013, 107; D. Bock, Der deutsche Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert – ein Überblick, JA 2005, 363; F. Hammer, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 – die Weimarer Reichsverfassung, Jura 2000, 57; M. Jäkel, Die „Paulskirchenverfassung“ der Frankfurter Nationalversammlung, Jura 2019, 231; A. Laufs, Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/1849 – Das erste frei gewählte gesamtdeutsche Parlament und sein Werk, JuS 1998, 385; W. Pöggeler/J. Inhoff, Die deutsche Revolution 1848/49, JA 1998, 311; G. Roellecke, Von Frankfurt über Weimar nach Bonn und Berlin, JZ 2000, 113; Ch. Waldhoff, „Weimar“ als Argument, JuS 2019, 737.
Vertiefende Literatur: W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964; E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1981; W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 18. Aufl. 2019; Ch. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997; E.-R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bände 1–4, 1975–1981; M. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008; C.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 8. Aufl. 1993; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft: 1800–1914, 1992; D. Willoweit/S. Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019.