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Serhij Taran

Ein Großvater marschierte 1940 in Bessarabien ein … und der andere ging zu den „Banderiwzi“

Meine beiden Großväter kommen aus dem Dorf Pawlysch in der Oblast Kirowograd. Für den einen endete der Krieg in Prag, für den anderen „in den Wäldern“ bei den „Banderiwzi“1.


Mein Opa väterlicherseits, Wasyl Wasyljowytsch Taran (1908 – 1983) war ein Berufsoffizier, und der Krieg begann für ihn in der Stadt Bolhrad in Bessarabien, wo er schon 1940 mit der 25. Artilleriedivision gekommen war.

Am Morgen des 22. Juni wurde Opa in den Verbandsstab gerufen, und meine Oma Manja, Maria Hnatiwna Taran (geb. Schwatschka, 1908 – 1985) blieb allein mit ihrer sechsjährigen Tochter und einem Sohn zurück, der drauf und dran war, geboren zu werden.

Der Stadtrand wurde zur Front, und Oma packte ihre Habseligkeiten zusammen, setzte sich noch am gleichen Tag in den Zug und fuhr zusammen mit ihren Kindern nach Pawlysch. Sie waren etwa zehn Tage unterwegs, da der Zug zweimal „zerbombt“ wurde. Oma erzählte:

„Einmal saßen wir hinten und sie zerbombten den vorderen Teil des Zuges. Beim zweiten Mal saßen wir vorne und sie zerbombten den hinteren Teil.“

In Pawlysch warteten alle auf die Evakuierung, doch diese war schlecht organisiert, genau wie die Mobilisierung: die Rekruten behielt man drei Tage in der Militärkommission und schicke sie doch nicht an die Front. So wurden sie zu „Verrätern“, weil sie im „feindlichen Territorium“ geblieben waren. Auf sie wartete ein schreckliches Schicksal: Straf- und Bewährungs­bataillone, wo es nur ein Gewehr für vier Personen gab.

In ihrem Heimatdorf warteten alle auf die Evakuierung, und hatten bereits gelernt, die Flugzeugtypen am Geräusch zu erkennen – wenn es ein Bomber war, versteckten sich alle in den Kellern. Doch die Evakuierung selbst war schlecht organisiert, genau wie die Mobilisierung: selbst die Rekruten behielt man drei Tage in der Militärkommission und schickte sie doch nicht an die Front. Das spielte später eine fatale Rolle im Schicksal der Jungs aus dem Dorf: weil sie wegen der verzögerten Mobilisierung auf „feindlichem Territorium“ blieben, wurden sie bei der Ankunft der Roten Armee zu „Verrätern“. Sie wurden durch die Mühle der Straf- und Bewährungsbataillone gejagt, wo es nach Erzählungen der Pawlyscher nur ein Gewehr für vier Personen gab.

Mit der Ankunft der deutschen Armee entschloss sich Manja, zusammen mit sieben anderen aus ihrem Dorf, über den Dnepr zu fliehen. Ihr Sohn, mein Vater, war damals fünf Tage alt. Doch es war bereits zu spät zum Fliehen.

Auf dem Weg zur Fähre in der Nähe des Dorfes Derewijiwka holten deutsche Motorradfahrer sie ein. Sie legten alle ihre Sachen auf einen Haufen und begannen, nach irgendwelcher Beute zu „schnüffeln“. In Omas Koffer fanden sie einen grauen Stoff und roten Paspel – das hatte man früher den Offizieren „für die Hosen“ gegeben.

Die Deutschen erwiesen sich als schlau und als sie begriffen, dass unter den Flüchtlingen eine Offiziersfamilie war, fragten sie, wem diese Sachen gehörten. Doch niemand sagte etwas und nachdem sie die Geflüchteten bis zum Morgen festgehalten hatten, ließen sie alle laufen mit dem Befehl, nach Hause zurückzukehren.

Im ersten Jahr der Besatzung war das Leben für Oma und ihre zwei kleinen Kinder sehr schwer. Am schlimmsten war, dass seit dem Frühjahr niemand mehr etwas anbaute und es keine Arbeit gab. Gerettet hatte sie Opas Bruder Danylo, der in der Lebensmittelversorgung eingesetzt war und ihnen heimlich, in seinen Stiefeln versteckt, Getreide mitbrachte.

Für die schwere Arbeit auf dem Hof zog Oma ein verwildertes Pferd heran, das sie hinter dem Dorf gefunden hatte – später, als „unsere Leute kamen“, wurde es für den Bedarf der Roten Armee konfisziert.


Opa Wasyl, Oma Manja und Tante Larysa – das Foto, das der Familie das Leben gerettet hat. 1940

Von Zeit zu Zeit kamen Deutsche in Omas Haus. Es gab keine Partisanen-Aktivitäten um das Dorf herum. In Pawlysch gab es keine besonderen Konflikte zwischen den Bewohnern und Besatzern. Die Offiziere hatten gar nichts gegen die Bewohner, und die Soldaten gaben den Kindern manchmal von ihrem Essen ab.

Um unvorhersehbare Konsequenzen zu vermeiden, versuchte Oma – vor dem Krieg sehr modebewusst – absichtlich, sich unauffällig zu kleiden, und schmierte ihr Gesicht „aus Versehen“ mit Ruß ein, denn sie wusste, dass die Deutschen „keine dreckigen Leute mögen“.

Einmal organisierten die Deutschen in ihrem Haus eine Bäckerei. Natürlich bekam auch Oma etwas davon ab. Man brachte Mehl und vor allem Feuerholz zum Haus, das im Dorf aus irgendeinem Grund als besonders wertvoll galt. Ihre Nachbarin Dunja wurde neidisch auf dieses Holz, darum ging sie zur Verwaltung und sagte, dass Oma die Frau eines Kommissars sei, und „ihr hängt doch Kommissare“.

Die Familien von Kommissaren brachten die Deutschen tatsächlich um, deshalb kam die Gestapo am nächsten Morgen zum Haus („in einer schwarzen Uniform“) und informierte Oma ruhig und bürokratisch darüber, dass, weil sie die Frau eines Kommissars sei, sie und ihre Kinder am nächsten Tag gehängt werden würden.

Widerworte hatten keinen Sinn, und Oma weiß noch genau: sie wollte zuerst gehängt werden, damit sie nicht mit ansehen muss, wie ihre Kinder sterben. Man hätte sie tatsächlich hingerichtet, wenn Oma Manja nicht eingefallen wäre, der Gestapo ein Foto aus der Zeit vor dem Krieg zu zeigen, auf dem man an der Uniform sehen konnte, dass ihr Mann gar kein Kommissar, sondern „nur“ ein Offizier der Roten Armee war. Die Exekution wurde abgesagt.

Nachbarin Dunja wurde für die Lüge öffentlich ausgepeitscht. Dazu muss man sagen, dass damals niemand im Dorf Unterwäsche trug, und so konnte das ganze Dorf sehen, was es heißt, die „neue Regierung“ anzulügen …

Währenddessen kämpfte mein Opa an der Front, verteidigte Odessa und Sewastopol. Bei Sewastopol hielt er, schwerverletzt, eingekesselt und zusammen mit seinen Mitstreitern, lange die Stellung in den Katakomben, und als die Schlacht vorbei war, kam er in Kriegsgefangenschaft. Aber vorher versteckte er seine Offiziersabzeichen und ging als einfacher Soldat durch, was seine Überlebenschancen erhöhte.

Das Gefangenenlager war bei Mykolajiw, und die Bedingungen dort waren so schrecklich, dass Opa nach einigen Monaten krank wurde, und trotzdem musste er weiter hart arbeiten. Besonders setzte ihm der Hunger zu, denn die Gefangenen wurden mit halbgarer Kleie ernährt.

Die Deutschen beobachteten die Kriegsgefangenen genau: wenn einer „überhaupt nicht marschieren kann“, dann „ist er wahrscheinlich ein Offizier“.

Einer der Wärter des Lagers entpuppte sich als Landsmann meines Opas und erkannte ihn. Doch statt der Leitung von seinem Rang als Offizier zu erzählen, warnte er ihn, dass die Deutschen ihn genau beobachteten, denn er „kann überhaupt nicht marschieren“, also „ist er wahrscheinlich ein Offizier“. Durch diesen Landsmann hat Oma Manja erfahren, dass Opa in Gefangenschaft war und, wenn sie ihn nicht bald rausholte, sicher sterben würde.

Oma wusste sofort, dass sie Opa irgendwie retten musste. Genauso ein Lager gab es auch in Pawlysch und dort waren Hunderte ehemaliger Soldaten der Roten Armee gestorben. Übrigens erlaubten die Deutschen beim Rückzug den Bewohnern, Gefangene zu sich nach Hause zu holen, falls es sich um ihre Verwandten handelte.

Viele Dörfler nahmen unbekannte Rote zu sich und nannten sie ihre „Verwandten“, um ihnen das Leben zu retten.

Oma schnappte sich zwei Stücke Stoff, irgendein Tuch, Hosen, anderen Kram und fuhr los, um Opas Flucht zu organisieren. Alles, was sie mitgenommen hatte, gab sie dem Wärter, und als dieser Dienst hatte, floh Opa zusammen mit einigen Kameraden. Nachts kam er in Pawlysch an. Es gab auch eine Verfolgung: Opa erinnert sich, wie sie lange im Moor saßen, um die Hunde von ihrer Spur abzubringen, und schließlich konnten sie ihre Verfolger abschütteln, indem sie irgendeinem Dörfler einen Pferdewagen abnahmen.

Einige Wochen wohnte Opa neben seinem eigenen Haus, in einem trockenen Brunnen, bis der Dorfälteste Fedot Illo, Opas Stiefbruder, ihm eine Bescheinigung ausstellte – sie war für die damaligen Verhältnisse fantastisch – dass er angeblich „aus gesundheitlichen Gründen“ aus dem Lager befreit worden war.

Wie sich später herausstellte, hatte Fedot Illo irgendetwas mit dem Untergrund zu tun, daher waren die Polizisten im Dorf vor allem „unsere Leute“: sie warnten zum Beispiel immer vorher, wenn die Kinder versteckt werden mussten, damit man sie nicht „nach Deutschland holte“.

Im Winter nähte Opa den Leuten Schuhe aus alten Reifen und im Sommer arbeitete er auf dem Feld.

Nicht nur Kinder wurden nach Deutschland geholt. Als Opa zum ersten Mal mitgenommen werden sollte, ging an seiner Stelle und unter seinem Namen sein leiblicher Bruder Danylo, der selber einwilligte, denn er hatte keine Kinder, und „Wasyl hat sogar zwei“.

Beim zweiten Mal schickte man Opa doch noch nach Deutschland, doch er konnte die Bretter im Güterzug durchbrechen und fliehen. Als er ins Dorf zurückkam, versteckte er sich im Keller, wo sie eine Grube gegraben, mit Brettern abgedeckt, mit Heu zugeworfen und eine Ziege draufgestellt hatten. So wartete er „unter der Ziege“ auf die Roten.

Als die Deutschen bereits geflohen und die Roten noch nicht angekommen waren, nahmen die Frauen im Dorf sich alles, was die Feinde hinterlassen hatten. Nach einer solchen „Plünderung“ trugen die Kinder noch lange danach Mäntel aus deutscher Wolle und weichem Kalbsleder – unter dem Kragen.

Als die Deutschen bereits geflohen und die Roten noch nicht angekommen waren, nahmen die Dorffrauen die Heugabeln in die Hand und gingen „plündern“ – sie nahmen alles mit, was die Feinde hinterlassen hatten.

Die Kinder trugen noch Jahre später Mäntel aus deutscher Wolle und weichem Kalbsleder – unter dem Kragen. Und die Heugabeln nahmen sie mit, weil sie dachten: „wenn eine Mine oder Granate kommt, dann muss man sie nicht mit den Händen wegwerfen“ … Opa Wasyl lachte lange, als er erfuhr, warum „die Weiber die Gabeln in die Hand nahmen“ …

Oma und Opa warteten natürlich auf die Rote Armee. Doch sie hatten auch Angst, dass man Opa wegen seiner Gefangenschaft „erschießen könnte“. Später stellte sich heraus, dass Sewastopol einer der Kampfgebiete war, in denen man Gefangenschaft nicht als Verrat einstufte – man „verzieh“ meinem Opa. Sie befahlen ihm sogar, die Kolchose wiederaufzubauen, denn es gab keine Männer, und die Front brauchte Proviant.

Opa hielt es zwei Monate in der Kolchose aus, stellte die Getreideproduktion wieder her, und im Frühjahr 1944 meldete er sich für die Front und kämpfte in ganz Osteuropa. In der 9. Gardedivision wurde er bekannt dafür, dass er mit seinem Gewehr eine „Messerschmitt 109“ abgeschossen hatte, als diese sich im Sturzflug über ihren Positionen befand. Solche vereinzelten Fälle gab es an der Front, und Opa bekam für seine Tat den Orden des Vaterländischen Krieges erster Stufe.

Das Kriegsende erlebte er in der Hauptstadt Tschechiens als Gardehauptmann. Die Führung bot ihm an, den Dienst zu verlängern, und versprach eine richtige militärische Karriere. Und er wäre geblieben, wenn Oma nicht endgültig verkündet hätte: sie hasse den Krieg so sehr, dass sie auf keinen Fall die Frau eines Soldaten sein möchte.

Opa Wasyl kehrte erneut nach Pawlysch zurück.


Opa Iwan beim Buchhalter-Kurs regionaler Konsumgenossenschaften der Charkiwer Konsumgenossenschaft. 1936

Über meinen Opa mütterlicherseits, Iwan Sacharowytsch Skoryk (1906 – ?), ist wenig bekannt. Einiges kam erst heraus, als die Sowjetunion zerfiel.

Vor dem Krieg war seine Familie das Zentrum des lokalen kulturellen Lebens in all seinen Ausprägungen. Opa war, wie man damals im Dorf sagte, gesellig, und sein Cousin Wasyl Suchomlynskyj, ein zukünftiger berühmter Pädagoge, „belesen“ und „sehr streng“. Meine Oma, Tetjana Jalysejiwna Skoryk (1906 – 1993) erzählte, dass sich bei ihnen vor dem Krieg viele Leute „tummelten“ und es viele „Feten“ gab.

Doch seit Opa Iwan 1941 in den Krieg gezogen war, hatte man bis 1947 nichts von ihm gehört. Oma Tanja, die mit ihrem 1941 geborenen Säugling zurückgeblieben war, überlebte die Okkupation. Als die Rote Armee kam, versuchte sie, etwas über meinen Opa herauszufinden.

Das tat sie erst nach dem Krieg von Onkel Dymyd, zu dem sie nach Kyjiw gekommen war. Dieser sagte ihr, dass Iwan noch „in den Wäldern“ kämpfte. Damals nannte niemand die UPA beim Namen, man sagte „in den Wäldern“ oder „bei den Banderiwzi“.

Doch die schlimmste Nachricht war diese: nach acht Jahren Trennung hatte Iwan eine neue Frau, eine „Banderiwka“.

Wo und wie Iwan gekämpft hatte oder welches Schicksal ihn nach den 1940ern ereilte, weiß ich nicht. Auch in Pawlysch wusste es niemand, wo ihn keiner gesehen hatte. Erst in den 1960ern erzählte man, dass er am Leben war und mit seiner Familie in Kirowograd (heute Kropywnyzkyj) oder Snamjanka wohnte.

In den 1970ern tauchten seine erwachsenen Kinder auf, doch leider wollte Oma sie nicht sehen.

Tetjana Jalysejiwna mochte keine Kommunisten. Über ihrem Herd in der Küche hingen Portraits kommunistischer Anführer, und sie erklärte: die hängen da, „damit nichts auf die weiße Wand spritzt“ oder „damit sie heiße Spritzer auf die Fressen bekommen".

Es ging natürlich überhaupt nicht um die „Banderiwzi“. Oma Tanja selbst mochte die Kommunisten nicht. Über ihrem Herd in der Küche hingen Portraits kommunistischer Anführer, und sie sagte: die hängen da, „damit nichts auf die weiße Wand spritzt“ oder „damit sie heiße Spritzer auf ihre Fressen bekommen“. Bei den ersten Wahlen in der UdSSR und in der unabhängigen Ukraine wählte sie immer die „Ruch“ und Tschornowil2.

Dass Opa zu den „Banderiwzi“ gegangen war, hatte ihm Oma schon lange verziehen, doch für die „Banderiwka“ konnte sie ihm nicht vergeben.

1 Anm. d. Übers.: Damit sind die Anhänger des Anführers der ukrainischen nationalistischen Bewegung und eines Flügels der OUN, Stepan Bandera, gemeint; später im weitesten Sinne alle, die für die nationale Unabhängigkeit der Ukraine stehen und kämpfen. Der andere Flügel der OUN unter Andrij Melnyk wird entsprechend „Melnykiwzi“ genannt.

2 Anm. d. Übers.: Der Politiker und Dissident Wjatscheslaw Tschornowil (1937 – 1999) war seit 1992 der Anführer der ukrainischen Partei „Narodnyj Ruch Ukrajiny“– „Volksbewegung der Ukraine“, oder kurz „Ruch“, die Mitte rechts angesiedelt ist.

Der Zweite Weltkrieg in der Ukraine

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